Die leuchtenden Himmelsfarben waren das Einzige, was Sinamet in diesem Moment wahrnehmen konnte. Der Rest ihres Blickfeldes flimmerte und flackerte, wurde stets von der Schwärze vereinnahmt. Sie fokussierte sich auf den einzelnen Stern, dessen helles Licht zum Fixpunkt ihrer schwindenden Welt wurde. Erschöpft schloss sie die Augen.
„Sinamet?“ Sie hörte die Panik in Cherews Stimme.
„Alles gut“, wisperte sie leise, aber ohne die Augen zu öffnen.
Cherew schnaubte. „Das war eine dumme Idee“, murmelte er.
Sinamet schwieg, lauschte auf die Geräusche, die sie umgaben. Äste knackten unter Cherews Stiefeln, während er sie durch den Wald trug. Daneben war das leise Rascheln des Laubes von Tarikas Pfoten zu hören, das sich mit seinem Hecheln vermischte. Der Hund hatte sich ihnen vor wenigen Minuten angeschlossen und führte sie nun durch den Wald, dorthin wo er Schedela und Schedmasal zurückgelassen hatte. Schedela und Schedmasal. Ihre kleinen Schützlinge alleine unter sich, nachdem sie sich jahrelang nicht in die Augen gesehen hatten. Bis heute fiel es ihr schwer, sie nicht als Kinder zu sehen.
„Halt.“ Partikel von Licht brannten sich durch die Dunkelheit hinter ihren geschlossenen Augen, strahlende, leuchtende Punke, die einen unübersehbaren Tanz vor ihr aufführten.
„Geh nach links.“
„Aber Tariak…“
„Nein“, wisperte sie, „vertraue mir.“
Sie spürte wie seine Brust sich hob und senkte. Fast erschien es ihr, als ob dies der Takt für die Lichtpartikel war. Als glänzende Bänder zogen sie vor ihr durch die Luft, verfingen sich in ihren Haaren und legten sich sanft auf ihren blutigen Rücken.
„Sinamet?“
„Es ist in Ordnung“, entgegnete sie, „Mir geht es gut.“ Sie wollte die Hand nach ihnen ausstrecken, eines von ihnen berühren, doch der aufschreiende Schmerz verhinderte es.
Erstaunlicherweise schwieg er.
Es waren die Lichtbänder, die ihnen den Weg wiesen und das auf eine Art und Weise, die Sinamet nicht verstand. Existierten sie denn wirklich? Würde sie diese noch sehen können, wenn sie die Augen aufschlüge? Fragen, die aus ihren Gedanken wehten, kaum dass sie diese gestellt hatte. Es blieben nur die Bänder aus Licht.
Blätter knackten unter Cherews Schritten, ein Uhu rief irgendwo über ihnen und Tariak hechelte neben ihnen. Leben.
Cherew blieb stehen.
„Sinamet…“
Es war die Ehrfurcht in seiner Stimme, die sie dazu bewegte, die Augen zu öffnen. Für einen winzigen Augenblick konnte sie die Lichtpartikel noch sehen, rasch wirbelten sie davon, wurden ein Teil von dem, woher sie entstammten.
Ein Tor aus Licht spannte sich über einen kleinen Teich. Es war ein einzelner Streifen Licht, der sich im dunklen Wasser spiegelte. Blau und rot vermischten sich zu einem einzigartigen Farbenspektrum, das dem Tor einen einzigartiges Aussehen verlieh. Diesen Anblick, das verstand Sinamet, würde sie nie wieder erleben. Sie sog diese schillernde Schönheit in sich auf, hielt sie fest und schloss dieses Bild in sich ein.
„Cherew?“, fragte sie sanft. „Kannst du mich hinunterlassen?“
Er erwachte aus seiner Starre.
„Hier?“
„So, dass ich das Tor sehen kann.
„Natürlich.“ Das Licht spiegelte sich in seinem Gesicht, als er sich über sie beugte und sie sanft ins Gras bettete. Er legte seinen Mantel in das feuchte Grün und richtete sie so in Bauchlage aus, dass sie direkt auf das Tor aus Mondlicht blicken konnte.
Vorsichtig setzte er sich neben sie.
„Wie geht es dir?“
„Gut“, entgegnete sie. Es schien ihr, als ob die Schmerzen in diesem Moment fern von ihr wären. Sie konnte sie immer noch spüren, ihr drängendes Pochen am Rande ihres Bewusstseins, doch es war dieser Anblick, der sie völlig vereinnahmte. Für die Schmerzen war keine Kapazität mehr vorhanden.
„Es erscheint mir“, bemerkte sie nachdenklich, „so seltsam hier zu sein und dieses Wunder zu erblicken.“
„Ja. Ich habe nur Legenden darüber gehört, doch jetzt ist es auf einmal Wirklichkeit geworden.“
„Es war schon immer da.“ Sinamet lächelte. „Wir haben es nur nie gesehen.“
„Deswegen wollte Schedela, dass du Schedmasal zu ihr bringst“, erkannte er.
„Ja. Ich bin mir sicher, dass die beiden bald auftauchen werden.“
Sie spürte seine Hand in ihrem Nacken, die sanft eine Haarsträhne hochnahm.
„Du klingst ziemlich gelassen, dafür, dass du vor wenigen Minuten nichts mehr wolltest, als zu ihnen zu gelangen.“
„Ich glaube, ich habe verstanden, dass ich sie loslassen muss“, erklärte sie und zwirbelte nachdenklich einen Grashalm zwischen ihren Händen. „Nur dadurch können sie erwachsen werden.“
Er gluckste leise hinter ihr. „Das sind sie schon lange.“
Sinamet ging nicht darauf ein.
„Ich hatte sie nie wirklich losgelassen. Ich habe mir ein Exil aufgebaut und das eigentlich nur, weil ich geglaubt habe, vor der Vergangenheit davonlaufen zu können. Nun erkenne ich, dass ich diesen Teil meines Selbst nicht länger ausschließen kann. Ich habe die Fehler, die ich gemacht habe, ignoriert und sie immer nur als die Personen gesehen, die ich sehen wollte und nicht als die die sie waren und sind. Ich habe mir die Schuld an Schedelas Verschwinden und dem Streit zwischen ihr und ihren Bruder gegeben.“
„Es war nicht deine Schuld.“ Sanft drückte er ihre linke Hand.
„Ich weiß“, erwiderte sie lächelnd.
„Ich bin nicht für sie verantwortlich, aber sie sind für immer ein Teil meines Herzens.“
„Weshalb wollte Schedela zu diesem Tor?“
„Es birgt die Wahrheit, die sie gesucht hat, seitdem sie das Tor vor neun Jahren zum ersten Mal betreten hat.“
„Sie war schon einmal dort?“
„Ja. Nachdem sie zwischen den Papieren ihres Vaters einen Wortspruch gefunden hat, der sie nicht mehr losgelassen hat.“
„Was für einen Spruch?“
Mit dem Blut deiner Feinde hast du es geschrieben
Den Tod hast du deinem Haus auferlegt
Und kein Leben wird ihm mehr entspringen.
Wir besiegeln die Tränen deines Untergangs
Und lauschen auf dein Flehen in der Nacht
Wir sind dein Ruf auf dem Sterbebett,
das Stöhnen auf den Lippen deiner Frau,
der Schrei deiner ungeborenen Kinder.
Wir fordern von dir, was du uns nahmst
Und geben es nicht wieder her.
Dein Haus ist das unsere,
denn wir sind dein Schicksal.
Dein Flehen um Gnade ist unser Gebet.
Wir werden es hören.
Wir werden sie nehmen.
Wir werden siegen.
Ihr schauderte, als sie diese Worte hörte. Es war ein schreckliches Gefühl.
„Was soll das sein?“
„Schedela glaubte damals, dass dies ein Fluch sei, der über ihren Vater und ihre Familie ausgesprochen worden sei.“
„Flüche werden häufig ausgesprochen.“ Sie nahm seine Hand aus ihrem Nacken.
Sinamet schüttelte den Kopf. „Dieser nicht. Dieser ist real.“
„Aber was bedeutet er? Irgendjemand hat dem Königshaus den Krieg erklärt und versprach König Jedar, dass sein Haus untergehen würde. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“
„Ich doch auch nicht“, erklärte sie leise und fokussierte ihren Blick wiederum auf das Tor aus Mondlicht. „Aber ich weiß, dass unser Land eine einheitliche Regierung braucht, dass wir Schedela und Schedmasal benötigen.“
„Ja. Es war Jekars Wille, dass seine Kinder gemeinsam über Callinger herrschen und dieser Wille sollte respektiert werden. Sie beide haben sich in den neun Jahren verändert und ich glaube, dass sie gemeinsam dieses Land transformieren können.“ Er blickte sie an.
„Aber was hat das mit Joresch zu tun? Ich verstehe, dass Schedela und Schedmasal durch das Tor gehen wollen, um herauszufinden, was damals mit ihm geschehen ist. Weshalb floh Schedela damals, wenn sie doch unschuldig ist.“
„Ich habe mir dieselben Fragen neun Jahre lang gestellt, Cherew.“ Sie löste den Blick von dem Mondtor und sah ihn an. „Und ich habe in dieser Zeit nur noch mehr Fragen erhalten, aber kaum Antworten.“
Cherew schwieg, aber wieder lag seine Hand sanft in ihrem Nacken, als wolle er sie damit ermutigen, fortzufahren und ja nicht aufzuhören zu reden.
„Nach dem Tod ihres Vaters fand Schedela nicht nur diesen Spruch, sondern auch heraus, dass ihr Vater sich in seinen letzten Jahren auffallend viel für die Nachtsänger interessiert hat.“
„Es sind Legenden, Märchen, die man sich nachts am Lagerfeuer erzählt“, beruhigte er sie.
„Das Tor soll auch nur eine Legende sein und doch stehen wir nun davor und wissen nicht, was diese Entdeckung für unsere Zukunft bedeutet. In den Tavernen Callingers hast du dich nach ihnen benannt“, stellte sie fest.
Cherew zuckte mit den Schultern. „Ja. Aber es ist nur ein Name.“
Wild schüttelte sie den Kopf. „Nein. Es ist ein Teil der Wahrheit, die Schedela zu ergründen versucht. Kurz vor seinem Tod suchte Jekar die Nachtsänger auf. Schedela war der Meinung, dass er versuchte, Verbündete zu finden. Sie nahm Kontakt zu ihnen auf.“
„Sie suchte die Nachtsänger?“ Sie las Unglauben in seinem Gesicht.
Stumm nickte sie. „In den Legenden heißt es, dass die Nachtsänger Leben und Tod zugleich schenken. Ich glaube, dass sie damals hoffte, dass die Nachtsänger ihren Vater wieder zum Leben erweckten. Sie war verloren mit der Verantwortung und wollte zurück in ihre Unbeschwertheit, die sie zuvor erleben durfte. Es war immer Schedmasal, der erwachsener und vernünftiger als seine Schwester war. Er konnte die Last tragen, aber Schedela sackte unter ihr zusammen. Die Nachtsänger kamen in jener Nacht, als Joresch verschwand in den Palast. Schedela ließ sie hinein und in die Gemächer ihres Vaters. Ich weiß nicht, wieso sie es tat, weil doch Jekar außerhalb der Stadt betrauert wurde. Aber sie kamen in jener Nacht und betraten nicht nur die Gemächer des alten König, sondern auch die seines Nachfolgers. Als Schedela verstand, was sie getan hatte, war es zu spät. Die Nachtsänger waren wieder fort und niemand außer ihr wusste, wer das Blutbad im Turm ihres Bruders angerichtet hatte. Sie floh, weil sie sich die Schuld am Verschwinden ihres Neffen gab und bis heute weiß niemand, was damals geschehen ist.“
Cherew blickte auf die Brücke aus Licht.
„Sie konnte es niemandem erzählen, weil jeder die Nachtsänger für eine Legende hielt und sie keine Beweise hatte“, vermutete er.
Sinamet nickte.
„Bis heute.“
„Sieh.“ Cherew deutete zu dem Teich, durch den soeben zwei Personen wateten.
„Sie haben es geschafft“, wisperte Sinamet stolz.
Strahlen des Lichts entluden sich über die Lichtung, als das Tor durchschritten wurde. Nun blieb nichts mehr als ein Spiegelbild im Wasser, das schon zu begann zu verblassen.
„Aber wir wissen immer noch nicht, was es mit dem Fluch auf sich hat und warum die Nachtsänger Joresch entführten oder töteten.“
Die Schmerzen krochen über ihren Rücken, ließen sie erbeben und aufkeuchen. Und dennoch lächelte sie.
„Aber es ist ein Anfang. Denn die Wahrheit ändert alles.“
Sie griff nach seiner Hand.