Man brachte sie nicht in den Kerker, sondern in ein Zimmer im Westflügel. Zu ihren Zeiten hatten sie leergestanden, jetzt war der Flur wieder hergerichtet und mit Wächtern geschmückt. Der Raum war einfach eingerichtet mit Tisch, Bett und einem Stuhl. Es hätte sie viel schlechter treffen können, aber es blieb ein Gefängnis.
Die Tür schloss sich hinter ihr und mit ihr ging die Hoffnung, an die sie sich zuvor so unerbittlich geklammert hatte.
Es war Nacht, als sich die Tür des Zimmers, in die man sie gesperrt hatte, wieder öffnete. Sinamet setzte sich auf der schmalen Pritsche auf und musste blinzeln, als das Licht der Fackel sie blendete.
Schedmasal taumelte herein, während sich die Wache mit der Fackel an der Tür postierte.
„Hinaus“, forderte der König den Mann auf.
„Aber, Herr!“, setzte dieser zu einem Protest an, übergab Schedmasal nach einem scharfen Blick dennoch die Fackel und stellte sich mit hörbarem Grummeln vor die Tür.
„Sinamet…“
Seine Stimme lallte. War er betrunken? In seiner Jugend hatte er dem süßen Mandaswein allzu gerne zugesprochen, doch bereits in den letzten Lebenszeiten seines Vaters jeglichen Alkolot gemieden. Ja, Schedmasal war betrunken, nur machte nicht der Alkohol seine Schritte unsicher, sondern die Trauer.
„Euer Verlust tut mir leid, Majestät. Sie war eine großartige Frau.“ Es war die Wahrheit. Malkat war eine elegante, liebenswürdige und intelligente Frau gewesen. Ihr Tod war in diesem Konflikt eine Tragödie, weil sie einen durch Trauer schwachen König zurückließ.
„Hört auf damit“, meinte er.
„Womit?“
„So zu reden, als wäre ich ein Kind. Ich bin Euer König.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Nein, Ihr habt mich verbannt, Majestät. Ich bin nicht Eure Untertanin.“
Unwillig knurrte er und wies anklagend mit dem Finger auf sie. „Man muss Euch zugestehen, dass Eure Wortklaubereien dieselben geblieben sind.“
Sie neigte den Kopf. „Dies mag sein, doch habe ich stets die Wahrheit gesprochen.“
„Die Wahrheit, Sinamet. Könnt Ihr mir sie sagen?“
Vorsichtig musterte sie ihn, unwissend worauf er hinauswollte. „Es gibt viele Wahrheiten in dieser Welt, Majestät.“
„Und ebenso viele Menschen, die sie auslegen“, knurrte er
„Vielmehr hat jeder Einzelne einen eigenen Blickwinkel, einige Bruchstücke, die er sieht.“
„Also ist Wahrheit individuell.“ Sie konnte nicht glauben, was für ein Gespräch sie soeben führten, es schien ihr banal und tiefgründig zugleich zu sein.
„Nein, es gibt universelle Wahrheiten und ebenso Wahrheiten, die nur einzelne Personen für sich genommen haben.“
„Und was sind universelle Wahrheiten für dich?“
„Beispielsweise, dass man nicht tötet“, überlegte sie.
„Und doch“, entgegnete er, „führen wir Kriege, um unser Recht zu verteidigen.“ Er sprach von Schedela, eigentlich hatten sie die ganze Zeit über diesen Konflikt gesprochen.
„Ich will nicht sagen“, flüsterte Sinamet leise, „Dass Eure Schwester keine Fehler begangen hat.“
„Fehler? Ihr wollt dieses unsägliche Verbrechen als einen Fehler herab tun?“ Zorn zeigte sich in seinem Gesicht.
„Ein Verbrechen, von dem nie bewiesen worden konnte, dass Schedela es begangen hat“, entgegnete sie kühl. Ein Fehler.
„Ich würde die Beweise als eindeutig erachten“, entgegnete er nicht minder harsch. Weil ihr so sehen wolltet, dachte sie. Doch Schedelas Verhalten war für die Schlussfolgerungen ihres Zwillingsbruders sicherlich förderlich gewesen. Warum konnte sie sich die beiden nicht einfach unter den Arm klemmen und zusammen in ein Zimmer sperren, bis sie sich wieder vertragen hatten? Früher hatte es doch auch geklappt.
„Schedmasal! Hört mir zu. Eure Schwester hat neue Erkenntnisse zu diesem Verbrechen gewonnen.“
„Und Beweisen, die die Täterin vorlegt, ist zu trauen?“
„Schedmasal!“ Sie trat auf ihn zu. „Warum hätte Schedela das tun sollen? Sie hat kein Motiv!“
„Kein Motiv?“ Er lachte auf. „Nur eine Krone, auf die sie immer noch beharrt.“
„Eine Krone, die ihr rechtmäßig zusteht, Majestät. Euer Vater hat ein Doppelkönigtum bestimmt, dass ihr beide gemeinsam regieren solltet!“
„Und noch er selbst hat ein Gesetz verabschiedet, nach dem Verbrecher von einflussreichen Positionen entfernt werden dürfen.“
„Verbrecher, Schedmasal. Nur ist Schedela keine Verbrecherin.“
„Das sagt sich leicht, wenn Ihr auf Ihrer Seite steht.“
„Seiten?“, rief sie aus und konnte nicht verhindern, dass ihr eine einzelne Träne über die Wange rann. „Ihr seid die Kinder, die ich nie haben werde und ich kann es nicht ertragen, anzusehen, wie ihr beide euch an die Kehle geht!“
„Ihr hättet euch da raushalten sollen, Sinamet. Zuvor konnte ich die guten Seiten meiner Erinnerung von Eurer Erziehung hochhalten, doch jetzt zwingt Ihr mich, zu handeln.“
„Wie Ihr meint, Majestät.“ Sie senkte den Blick.
„Ich bin ein König, Sinamet und gleich einem König muss ich handeln. Ich kann Ungehorsam nicht unbestraft lassen.“
Mit diesen Worten ging er in Richtung Tür.
„Wie?“, fragte sie tonlos.
Er wandte sich um und musterte sie, Schmerz in seinen Augen.
„Auspeitschung.“
Dann ging er.
Verloren.
Tränen.
Schon am nächsten Morgen wurde ihre Tür wieder geöffnet. Zwei Wächter brachten ihr ein Tablett mit Essen und verkündigten ihr, dass sie die Zelle danach würde verlassen müssen. Nachdenklich hob Sinamet die Karaffe mit Wein. Ihr widerstrebte es, sich zu betrinken und damit die Kontrolle abzugeben, doch zugleich war sie nicht mehr die Jüngste. Sie wusste nicht, wie viele Schläge sie erhalten würde, aber sie hatte Auspeitschungen mehrfach miterlebt und wusste wie grausam sie sein können. König Jekar war kein grausamer Mann gewesen, doch auch für ihn war die Auspeitschung ein beliebtes Mittel der Bestrafung gewesen. Sein Sohn hatte daran festgehalten. Vielleicht würde sie sterben. Auf jeden Fall würde diese Auspeitschung sie kennzeichnen für den Rest ihres Lebens. Was fühlte sie? Sie wusste es nicht. Widerstrebende Gefühle wirbelten in ihr umher und verwirrten sie. Sie hatte keine Zeit für den Tod, hatte nie darüber nachgedacht. Dass er jetzt mit dieser Endgültigkeit über sie hereinbrechen konnte, schockierte sie. Ihre Finger stockten über dem Teller, dann ließ sie das Stück Brot los, sprang auf und übergab sich in einer Ecke des Raumes. Angewidert wischte sie die Fäden von Speichel und Überresten ihrer letzten Mahlzeit weg und setzte sich wieder vor das Tablett. Sie schob das Essen fort und hob stattdessen die Karaffe mit Wein. Es war vielleicht nicht die klügste Entscheidung, sich auf leeren Magen zu betrinken, doch konnte sie jetzt unmöglich essen. Der süße Sommerwein war noch leicht erhitzt und rann wärmend ihre Kehle hinab. Danach fühlte sie sich ziemlich benommen und sah nur müde auf, als Tariot eintrat. Ohne eine Regung in seinem Gesicht bat er sie höflich sich zu erheben und an seine Seite zu stellen. Auch als er sie fesselte, sprach er kein Wort
„Wie geht es deiner Frau?“, fragte sie ihn schließlich, als sie die Stille nicht mehr aushielt. Sie war ihm nie böse gewesen, dass er, nachdem Sinamet sein Werben abgelehnt hatte, eine gute Freundin von ihr geheiratet hatte.
„Es geht ihr gut“, entgegnete er steif, nach einer langen Pause, als ob er erst hätte überlegen müssen, ob er antworten dürfte.
„Sieh mich an!“, fauchte sie, bevor sie aus dem Raum hinaustraten und schloss kurz die Augen, als ihr schwindelte.
Tariot wandte ihr den Kopf zu und sah auf sie herab.
„Ich möchte, dass wir im Guten auseinander gehen und für alles, was ich damals Verletzendes gesagt habe, möchte ich mich entschuldigen.“
Er nickte knapp und legte ihr für einen kurzen Moment die Hand auf die Schulter.
„Du wirst mir als die Person in Erinnerung bleiben, die du bist.“
„Danke“, flüsterte sie. Sinamet hatte nie erwartet, dass Tariot ihr helfen würde, doch sie war froh über seine Akzeptanz.
Dann traten sie in den Gang hinaus, wo sich sechs weitere Soldaten aus der persönlichen Wache des Königs zu ihnen begaben. Von ihnen flankiert ging Sinamet durch die Gänge des Palastes, den sie einst ihre Heimat genannt hatte.
Ihr Weg endete in den großen Hof des Rechts, der sich an den Hof der Kreisenden anschloss und in dem gewöhnlich die bedeutenderen Urteile verkündet wurden. Dass hier nun ein Urteil vollstreckt werden sollte, war mehr als ungewöhnlich. Sinamet jedoch war froh darüber, denn auf diesen Platz hatte das gewöhnliche Volk keinen Zugang, sodass der Drang der Schaulustigen nicht so stark sein sollte. Dennoch – die Angst bohrte sich in ihren Magen, ließ ihre Schritte unsicher werden und sie erzittern. Tariot schien ihren Widerwillen zu spüren, legte ihr die Hand auf den Rücken und schob sie sanft aber bestimmt vorwärts. Auf der gefliesten Terrasse hatte man einen hölzernen mit Eisen verstärkten Pfahl aufgestellt. Soldaten bewachten die Seiten der Erhebung und achteten darauf, dass niemand zu dem König vordrang, der an der einen Querseite saß. Neben ihm erblickte Sinamet zu ihrem Erstaunen seine kleine Tochter, deren Füße kaum auf den Boden reichten. In einer zweiten Reihe waren Stühle für hohe Ratgeber und bedeutende Adelige aufgestellt worden. Nicht alle von ihnen waren besetzt. Das gemeine Volk hatte sich auf der anderen Querseite und der Längsseite, die nicht zum Palast ging, versammelt. Bedienstete, Soldaten, Offiziere, Stallburschen, der Hofmusiker und die ehemalige oberste Zofe der Königin. Viele Gesichter, die vor ihren Augen zu einer undefinierbaren Masse verschwammen. Noch einen Schritt. Alles bis auf den Pfahl und der Mann, der daneben stand, verschwamm. Er schien aus Eiche gefertigt zu sein und das Holz hatte bereits viel gelitten. Eine breite Kerbe zeigte sich am unteren Ende, zahlreiche Splitterungen auf Brusthöhe. Kein Wunder, dass feste Eisenbänder den Pfahl oben und unten stabilisierten. Sanft drehte Tariot sie so, dass ihr Gesicht zum Holz sah. Er löste die Fesseln und legte ihr stattdessen die Eisenketten um, die am oberen Ende des Pfahles befestigt waren, sodass ihre Hände nun über ihrem Kopf hingen. Dann trat er zurück und gesellte sich zum König, der ihm zunickte und kurz darauf einen Herold hervor winkte.
Dieser ging mit schnellen Schritten an Sinamet vorbei, wo er sich zu den Versammelten gerichtet hinstellte: „Die hier anwesende Sinamet Tulg-Arav wird für…“ Die Erklärungen rauschten davon, verschwanden irgendwo im Raum, ohne dass sie diese hätte fassen können. Stattdessen drehte sie den Kopf, bis sie den König sehen konnte. Sah er den Herold wirklich, auf den er sich momentan fokussierte? Sein Blick war zu starr, als dass er wirklich darauf konzentriert sein dürfte. Woran er wohl dachte? In ihr war eine große Leere. War sie zornig auf ihn? Sie wusste es nicht. Furcht. Sie beherrschte alles.
Der Herold trat wieder an ihr vorbei und stellte sich neben den König. Nun trat der Richter vor. Sie hörte seine Schritte, als er zu dem Tisch trat, auf dem sie beim Hereinkommen die Geißeln gesehen hatte. Seine Schritte hörten hinter ihr auf. Er trat so nah an sie heran, bis sie seinen feuchten Atem in ihrem Nacken spüren konnte. Etwas Kühles – eine Messerklinge – lag auf ihrer Haut, dann riss die Naht an ihrem Kleid. Ihr fröstelte, als der Wind über ihren nackten Rücken fuhr und noch mehr bei den Gedanken, wer nun alles ihre Blöße zu Gesicht bekam. Zu ihrem Glück blieben immerhin ihre Brüste verdeckt.
Ein Ruf des Königs. Die Schnüre der Geißel pfiffen durch die Luft, dann ein plötzlicher Schmerz, der sich wie Feuer durch ihre Haut brannte. Wieder. Urin lief ihre Beine hinab, als sie dem Drang nachgeben musste. Tränen stiegen ihr in die Augen und auch das Versprechen nichts von ihrem Schmerz zu zeigen, löste sich allzu bald in Luft auf. Stattdessen ihre Schreie, die die Luft füllten. Es war das Mädchen, das sie sah. Seine Tochter, die ängstlich zu ihr hinüber blickte. Ihren Namen. Fast weinte sie noch mehr, als sie bemerkte, dass sie ihn vergessen hatte. Klatsch. Schmerz. Er begann mit S, das wusste sie noch. Klatsch. Es wurde zu ihrer Aufgabe, diesen Namen zu finden. Sie verbiss sich darin, fokussierte sich auf die verschiedensten Buchstabenkombinationen, anstatt auf den Schmerz, der ihr den Namen immer wieder entgleiten ließ. Schmerz. Es begann ebenfalls mit S. Mit Sch? Ja, der Name des Mädchens fing mit Sch an. Sie zuckte zusammen, als ein erneuter Schlag ihren Rücken traf. Blut. Sie konnte es spüren, wie es ihre Haut hinunterlief, sich in den Rillen sammelte, die die Schnüre in ihre Haut gerissen hatten. Tränen. Sch…Das Mädchen sah sie an. Es waren die Augen ihres Vaters. So unschuldig…Schade, dass sie das sehen musste. Schmerz. Waren da rote Flecken auf des Mädchens weißem Kleid? Schade. Es war guter Stoff. Schreie. Verfingen sich. Brennen. Blut zu ihren Füßen. Ein Vokal. Scha? Nein, es war i. Schi…Weiter? Ihre Augen. Mitleid. Hass? Nein, Schmerz. Rotes Gesicht. Tränen. Immer noch Tränen. Wieder Tränen. Schirewel. Rote Tränen. Schatten über ihr. Nichts. Ein schwarzer Hund vor ihr. Bedeckt von roten Tränen.