Sinamet wusste nicht, ob es sie beunruhigen sollte, dass die gebildeten und reicheren Leute, die zu Beginn traf, sie nach ihrer Frage zu dem Nachtsänger empört abwandten. Der Nachtsänger war eine Mythengestalt, über die sich die Kinder des Nachts fürchteten, doch mittlerweile schienen sie etwas anderes damit zu verbinden. Eigentlich war es ihr auch egal. Diese Suche lauchte sie aus. Sie wollte endlich Ergebnisse sehen, etwas in den Händen halten, auch wenn dies nur daran bestand, Cherew gegenüberzustehen und ihm all das entgegen zu schreien, was sie sich die letzten Jahre ausgemalt hatte. Wieso hatte sie eigentlich gewusst, dass es zwangsläufig darauf hinauslaufen würde? Wohlmöglich weil Cherew für Sinamet all die Fehler verkörperte, die sie in den letzten Jahren gemacht hatte. Der Nachtsänger. Was für ein alberner Name. Aber Worte waren noch nie seine Stärke gewesen.
Ein Straßenjunge, den sie aufhielt, wies ihr den Weg zu einer zwielichten Spelunke im Ostviertel, die den vielsagenden Namen „Zum Heldentod“ trug. Je weiter sie sich in die Hauptstadt vorwagte, desto verfallener wurde sie. Hier im Ostviertel lebten die Arbeiter, die Sklaven und sonstiges Gesindel, das die schöneren oberen Stadtviertel verpesten würde. Billige Mietskasernen bogen sich schief und krumm über die Gassen, dazwischen waren immer wieder Hütten und Verschläge gebaut, die niemand mehr kontrollierte. Zwei Jungen prügelten sich im Dreck, neben ihnen spielte ein nacktes Kind. Schmutzige Wäsche flatterte im Wind. Essensdüfte zogen durch die Gassen und in Verschlägen flackerte der Schein der Kochfeuer. Eine Frau mit einem Kochlöffel jagte lachend einen Jungen davon, der keck eine Scheibe Brot hin und her schwang, das ihm sogleich von einem Mädchen wieder entrissen wurde. Schon bald balgten die beiden durch die Gasse, während sich ihre Mutter wieder an ihren Kopftopf begab.
„He Kinder“, rief sie ihnen zu, „Wo geht’s zum Heldentod?“
Der Junge richtete sich auf und musterte sie abschätzend.
„Links, dann an Tachis Bruchbude vorbei und rechts. Aber pass auf, Alte, da werden Helden gekocht.“ Er wusste, dass sie nicht von hier kam. Sie sah das Misstrauen in seinen Augen.
„und gebraten“, fügte das Mädchen mit einem Kichern hinzu.
„Pah, Kores kann absolut nicht braten, wer hat dir denn den Scheiß erzählt?“
„Lokavi.“
Verächtlich schnaubte der Junge. „So einem Lügner traust du?“
„Gar nicht wahr!“ Schon wälzten sie sich wieder im Dreck.
Sinamet schob sich an ihnen vorbei und spürte die Blicke der Bewohner in ihrem Rücken. Sie war eine Fremde und die waren hier nicht erwünscht. Als sie an einer verfallenen Hütte vorbei trat, vor der ein Alter in der Sonne saß, bemerkte sie die Männer, die ihr folgten. Sie bewegten sich keinesfalls unauffällig, sondern wollten gesehen werden, damit sie wusste, in wessen Revier sie sich hier bewegte. Leise fluchte sie, was sie noch in demselben Moment überraschte. Sinamet hatte keine Zeit für solche Unannehmlichkeiten. Kurz darauf hielt sie inne und fluchte nur noch mehr. Es war eine Sackgasse, in die dieser Junge sie geführt hatte. Und dass sicher nicht unbeabsichtigt, wie die drei Männer, die sich nun vor ihr aufbauten, allzu deutlich zeigten. Das hast du nun von deinem Glauben an die Unschuld.
„Was willst du hier?“, fragte ein schnurrbärtiger Mann mit Glatze.
„Das siehste doch“, meinte der zweite mit Brandnarben im Gesicht.
„’Ne verfickte Schnüfflerin is das.“ Der dritte Mann spie vor ihr aus. Wäre seine verbissene Miene nicht gewesen, so hätte er mit den dunklen Locken fast hübsch ausgesehen.
„Und eine schlechte noch dazu“; ergänzte der Junge, der auf einmal zwischen den Männern auftauchte. Sie musterte ihn. Hatte sie wirklich solange im Wald gelebt? Sie fühlte sich so fremd in dieser Welt, die ihr viel zu schnell verging und die ihr so anders erschien als die ihrer Erinnerung.
„Verzeiht, aber ich schnüffle nicht, sondern suche vielmehr nach jemandem“, entgegnete Sinamet.
„Verzeiht“, höhnte der Narbige, „Die Sprache is n’ Graus für jedn erlichn Menschen.“
„Los, wie heißt dein Freund?“, fragte der Junge, „Vielleicht: Rette-mich-ich-bin-in-Gefahr?“
„Nun, ihr nennt ihn den Nachtsänger.“ Ihr Herz pochte wie wild. Sie hatte einen Dolch an ihrem Gürtel und einen weiteren in ihrem Stiefel verborgen.
Der Junge lachte und bald fielen auch die anderen darin ein. Wie hatte Cherew es nur geschafft, so in dieser Welt akzeptiert zu werden?
„Der Nachtsänger, der Nachtsänger würde dich nicht’ mal ansehen, hässliches Weib.“
Sie wusste, dass sie keine Angst zeigen sollte, doch verhindern konnte sie es trotz des Wissens nicht. Ihre Hände zitterten.
„Euch dagegen betrachtet er ganz genau.“ Eine männliche Gestalt löste sich aus dem Halbdunkel der Gasse. Ohne Sinamet zu beachten, trat er an ihr vorbei und blickte die Männer an. „Möchtet ihr diese Frau wirklich angreifen?“
Der Älteste der drei grummelte mürrisch.
„Du schuldest mir noch Geld, Saoris. Also, diskutier lieber nicht zu viel.“ Es war derselbe überzeugende, leicht hochmütige Ton, den er sich schon vor Jahren zu eigen gemacht hatte.
„Wir lassn dich gehen. Du solltst mir sie erlassn“, knurrte Saoris Narbengesicht.
„Ihr lasst mich gehen?“ Ein dunkles Lachen drang unter der Kapuze hervor. „Bedenkt, dass ihr auch Kores dann entgegensteht. Er hasst es, Geld zu verlieren.“
„Iss ja gut.“ Der Schnurbärtige trat an Sinamet und dem Nachtsänger vorbei. Ihm folgte der Junge, allerdings nicht ohne vor Sinamet auszuspeien.
„Wenigstns bisschen.“ Saoris knackte mit den Fäusten und starrte missmutig zu dem Größeren auf.
„Vergiss es“, entgegnete Cherew, dessen Gesicht noch immer im Schatten seiner Kapuze verborgen war.
Ohne ein weiteres Wort trollte sich auch der letzte der Dreierbande.
Cherew wandte sich zu ihr um, betrachtete sie kurz und meinte dann: „Ich begleit dich bis zu Lyorams Brunnen“, ohne ihr auch nur einen weiteren Blick zu schenken. Er erkannte sie nicht, begriff sie. Im Gegensatz zu Tariak, Cherews Hund, der zu ihnen lief und ihr schwanzwedelnd die Hand ableckte. Graue Härchen zeigten sich nach acht Jahren in seinem Fell. Auch der Hund, mit dem sie damals so viele Ausflüge unternommen hatte, war gealtert. Seltsam, dass sie so lange nicht mehr an ihn gedacht hatte.
„Cherew.“ Es war nur ein einzelnes, leise gesagtes Wort, doch bewegte es den Nachtsänger dazu, sich umzuwenden. Dabei fiel ihm die Kapuze vom Kopf.
„Woher kennst du meinen Namen?“, fragte er misstrauisch. Sie zog sich die Kapuze aus dem Gesicht. Er musterte sie. Sie hatte sich verändert, das wusste sie, aber nicht so stark wie er. Sein Haar war ebenso ergraut wie das ihre, doch wo er es sorgfältig geschnitten und gekürzt hatte, waren die Haare jetzt ungleichmäßig lang und zusätzlich fettig. Das gleiche galt für das Dickicht seines Bartes. Ihr unbekannte Narben zierten seine Wangen, womit sich sein Gesicht nicht sonderlich von den hiesigen Männern unterschied. Nur seine zweckmäßige Kleidung war sauber und gepflegt. Er trug immer noch Stiefel aus Hurats Werkstatt aus hellem Leder und gutem Schuhwerk. Dazu eine dunkel, gefärbte Hose aus grober Wolle und ein braunes Wams über einem heller eingefärbten Hemd. Dies war tatsächlich der alte Cherew. Zu Hof hatte er gerne ausgefallene Kleidung getragen, doch wenn er im Dienst war stets schlichte und pragmatische.
„Sinamet?“
Sie nickte.
„Was machst du hier?“, zischte er und sah sich um.
„Ich brauche deine Hilfe“, brachte sie über die Lippen.
Er schnaubte auf, schließlich winkte er. „Komm.“
Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, schritten sie durch die Straßen, bis Cherew vor einer Taverne stehen blieb, über deren Eingang ein Schild mit den Worten Zum Heldentod befestigt war.
„Eine Kneipe, Cherew? Ist das dein Ernst?!“
Er wandte sich zu ihr. „Du bist in mein Leben hineingeplatzt, also beschwer dich nicht. Außerdem arbeite ich hier.“ Sinamet wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber sicherlich nicht diese kalte, resolute Ablehnung.
Sie presste die Lippen zusammen und folgte ihm ins Innere. Rauchgeschwängerte Luft zog ihr entgegen und ließ sie husten. Mit tränenden Augen sah sie sich um, den Wirt hinter dem wuchtigen Tresen, so viele Menschen, die tranken oder sich leise unterhielten. Weiter hinten prügelten sich zwei Männer, was aber keinen sonderlich zu stören schien.
„He, Kores“, rief Cherew dem Wirt zu, „Zwei von deinem besten Bier.“
„Musst dir noch Mut antrinken, Nachtsänger?“, kam die Bemerkung aus einer Ecke. Cherew beachtete den Mann nicht, nahm die beiden Krüge entgegen und bewegte sich auf einen Sitzplatz in der Ecke zu. Sinamet setzte sich, schob das Bier beiseite und musterte den einstigen Freund, der sich ihr gegenüber niedergelassen hatte und seinen Krug soeben leerte.
„Cherew“, fragte sie ihn leise, „was soll das hier?“
Er setzte den Krug ab. „Nun, ich lebe, ich fresse und saufe.“ Noch immer konnte er seine Finger nicht stillhalten und ließ sie über die Maserung des Holzes tanzen.
Sinamet schüttelte den Kopf. „Was für ein Leben ist das, Cherew? Wie kann es deins sein?“ Es schmerzte sie, ihn so zu sehen, nur noch ein Schatten seines alten Selbst.
Erneut schnaubte er. „Ich habe es mir nicht ausgesucht, ich wurde dazu gemacht.“
„Nein“, widersprach sie energisch, „Man kann immer eine Entscheidung treffen.“
„Oh ja“, spottete er, „Die Wahl, deine Gedanken zu ersaufen oder sie dich quälen lassen.“
„Was ist mit dir geschehen?“, fragte sie.
Sein Blick hob sich.
„Es ist egal, Sinamet. Hör auf die Welt und andere Menschen verbessern zu wollen.“ Es war der fast sanfte Tonfall, der ihr offenbarte, dass sie ihm nicht egal war.
„Ich bin, wer ich bin“, entgegnete sie ebenso sanft.
Abrupt nickte er und die Kälte kehrte in seinen Blick zurück. Erneut hob er den Krug und sprach erst weiter, als er den letzten Tropfen geleert hatte „Was willst du?“
Sie sah sich um. Unmöglich konnte sie hier über ihren Auftrag sprechen.
„Ich brauche deine Hilfe, Cherew.“ Sie würde nicht betteln, das hatte sie sich geschworen, bevor sie aufgebrochen war. Niemals.
„Meine Hilfe?“ Er lachte auf. „Ich kann mir ja selbst nicht helfen.“
„Es würde dir selbst auch helfen.“ Es war keine Lüge, nur ein dummer Traum, dass alles wieder so wie vor dem Krieg werden würde.
Er schwieg und sie wusste, dass sie vorangehen musste.
„Ich muss zu deinem Schützling.“
Schmerz. Sie las ihn in seinen Augen, kaum, dass sie die Worte ausgesprochen hatte. Unvergeben. Unvergessen. Und all die Wellen von Alkohol hatten ihn nicht verschwinden lassen können.
„Willst du dein Bier noch trinken?“
Als sie verneinte, nahm er den Krug und leerte auch ihn bis zu Neige. Dann schüttelte er so heftig den Kopf, als wolle er nicht nur seine Abneigung deutlich machen, sondern zugleich auch alle Erinnerungen abschütteln, die eben wieder aufgekommen waren.
„Vergiss es, Sinamet! Die Sicherheitsmaßnahmen wurden massiv erhöht.“ Das hatte sie auch schon gemerkt.
Er sah sie an. „Kommst du von ihr?“, fragte er leise. Seine Menschenkenntnis hatte ihn eindeutig nicht verlassen.
Sinamet nickte. „Und deshalb muss ich gehen.“
Er nickte ihr zu. „Ich weiß, trotzdem ist es Wahnsinn.“ Sorge. War es das, was sie in seinen Augen las? Ja, erkannte sie kurz darauf. „Du wurdest verbannt, Sinamet. Er wird dich festnehmen lassen. Ich weiß, dass du immer noch den Jungen sieht, aber er ist der König und es wird von ihm erwartet, wie ein König zu herrschen.“
„Ich weiß“, entgegnete sie.
„Nein, das weißt du nicht.“ Seine Hand umfasste auf einmal ihr Handgelenk. „Du weißt nicht, wie es war, wie er war, als er jegliche Hoffnung verloren hatte. Du verstehst es nicht.“ Sein Atem war immer schneller geworden und nun stand er auf. Sein Hund machte es ihm nach und bellte einmal laut.
„Geh zurück, Sinamet, dahin, wo du dich aufgehalten hast. Werde glücklich und vergiss all das hier.“ Er war schon immer größer als sie gewesen, aber nun fühlte sie sich kein bisschen kleiner.
„Nein.“ Ihre Stimme war leise, aber durchdringend. „Ich werde nicht mehr davonlaufen, sondern endlich Verantwortung übernehmen.“ Endlich waren die Worte hinaus, die Entscheidung getroffen und ihr Weg lag klar vor ihr.
„In Ordnung.“ Und Cherew senkte den Blick. Dann wandte er sich um und schritt davon.
„Warte!“ Sie lief ihm hinterher, holte ihn vor dem Tresen ein.
„Sinamet!“ Er legte seine Hände auf ihre Schultern und sah ihr in die Augen. „Einen Scheiß auf die Verantwortung. Lass die Vergangenheit los und werde endlich glücklich.“
„Ich bin glücklich. Ich bin glücklich, weil es richtig ist.“
Sein Gesichtsausdruck verzog sich. „Dann tue, was du tun musst.“
„Und was ist mit dir?“, fragte sie. Es war ihr egal, was die anderen dachten, es ging um Cherew.
„Ich lebe jetzt und werde irgendwann sterben“, lautete seine Antwort. Dann wandte er sich um und ging davon. Sie folgte ihm trotzdem durch die Tür auf einen Innenhof, wo sich eine große Anzahl von Menschen um einen mit Seilen abgetrennten Bereich versammelt hatten.
„Nachtsänger! Nachtsänger!“, riefen sie. Sinamet schob sich zwischen die Menschen hindurch, bis sie an einer Ecke des Vierecks stand. Cherew trat in das Viereck, während sich auf der anderen Seite ein anderer Mann aufstellte. Beide waren sie nur mit einem Dolch bewaffnet. Die Menge war aufgeheizt, jubelte, rief die Namen der beiden Kämpfer und schüttelte die Fäuste.
Was folgte, war einer der blutigsten und brutalsten Kämpfe, den sie je gesehen hatte. Kurz gesagt: Etwas, was absolut nicht zu dem alten Cherew passte. Teilweise entdeckte sie Spuren seiner alten, präzisen Eleganz, doch dann drosch er wieder brutal und unnachgiebig auf den anderen Kämpfer ein. Er war ein beliebter Kämpfer, das sah sie, denn er gab dem Publikum, was es sehen wollte. Sinamet dagegen ekelte es an. Stattdessen sah sie zu Cherews schwarzen Hund, der an der Bahn wartete. Es war der gleiche, den er schon gehabt hatte, als sie beide am Hof gelebt hatten. Tariak war älter geworden, doch sein wachsamer Blick war der gleiche geblieben. Sie war froh, als es endlich vorbei war, der andere Kämpfer am Boden lag und Cherew den Jubel des Publikums erhielt. Als er schon abging, erblickte er sie. Sein blutiger Mund verzog sich zu einer Fratze.
„Geh endlich!“, schrie er, „Lass mich in Frieden. Verschwinde!“
Und Sinamet wandte sich ab und floh.