Tränen verschleierten Sinamet die Sicht, als sie aus der Taverne trat. Tränen, die ein Ausdruck eines so tiefen Verrats und Enttäuschung, die nur jemand hervorrufen konnte, den sie sehr nahe an sich herangelassen hatte. Cherew war ihr Freund gewesen, der beste, den sie je gehabt hatte. Und jetzt? Sie hatte Spuren seines alten Seins entdeckt, doch blieben es Spuren, die sie nun nur noch als einen Teil ihrer Vergangenheit bezeichnen konnte. Jene Zukunft, die sie sich im Stillen immer wieder für sie beide ausgemalt hatte, auch wenn sie diese ihm gegenüber nie ausgesprochen hatte, war nun endgültig Vergangenheit.
Sinamet richtete sich auf, wischte die Tränen fort und fokussierte sich auf die Pflicht, die den Weg ihrer Zukunft, wo auch immer er hinführen würde, prägen würde.
Auf dem Rückweg erhielt sie keine weiteren Schwierigkeiten, anscheinend hatte sich bereits rumgesprochen, wer für sie vorgetreten war. Der Nachtsänger. Selbst seinen echten Namen kannten sie nicht, stattdessen sprachen sie nur voller Begeisterung von den Kämpfen, die er gefochten hatte, als wäre er ein Held. In Wirklichkeit, das verstand sie nun, tat er es nur, um nicht an sein eigenes Versagen erinnert zu werden. Gleichgültig. Vergangenheit. Sie versuchte es sich einzureden, nur um letztendlich zu kapitulieren und zuzugeben, dass diese Erinnerungen für immer ein Teil von ihr sein würden.
An diesem Abend kehrte sie nicht zu der Witwe zurück, sondern schlüpfte mit der letzten Abendglocke durch das Stadttor hinaus in die Weiten. Sie folgte der Straße bis zu den Treppen, die hinab zum Hafen führten. Die Seile der Winden, mit denen die Waren die Klippen hochgezogen wurden, knarrten im Wind. Ansonsten vernahm sie nur die leisen Schreie der Möwen, doch die Geräusche des Hafens wurden zu ihrer Zufriedenheit mit dem Wind davongetragen. Anstatt der breiten Straße zum Hafen zu folgen, lief sie in die andere Richtung fern von den Menschen und nahe dem Wasser und der Stille. Sinamet fand einen schönen Platz in den Dünen, von dem sie auf das Meer sehen konnte. Hier setzte sie sich hin und ließ die Gedanken schweifen, während über ihr der Mond von ihrer davon rinnenden Zeit verkündete.
Erst als der Himmel sich rot färbte, erhob sie sich wieder, blieb zunächst einen Moment stehen, um den Anblick in sich aufzunehmen. Sie reckte den Kopf den warmen Sonnenstrahlen entgegen, die zaghaft über die Dünen strichen.
Die Treppe hinauf erschien ihr hundertmal länger als zuvor, doch zu ihrem Glück hatte es immerhin nicht geregnet, so dass der Anstieg nicht sonders gefährlich war.
Vor den Mauern der Stadt hatten sich bereits Händler und Bauern aus der Umgebung versammelt, um so früh wie möglich ihre Waren verkaufen zu können. Sinamet mischte sich unter sie und betrat so die Stadt, doch trugen ihre Schritte sie schon bald fern vom Händlerviertel und damit auch dem größten Markt zur Oberstadt. Auch im Hof der Kreisenden, deren Namen sie noch nie verstanden hatte, war bereits eine große Anzahl von Menschen versammelt. Heute. Sie straffte ihre Schultern und blickte zum Himmel hinauf, wo sich der Mond schwach am Himmel zeigte. Die Sichel war bereits sehr schmal, viel Zeit blieb nicht mehr, nur drei Tage. Sie musste sich beeilen und hatte sich entschieden. Cherew hatte ihr deutlich zu erkennen gegeben, was er von ihr hielt und sie musste es alleine versuchen. Damit blieb ihr nur die offensichtliche Möglichkeit: als Bittstellerin.
Obwohl Sinamet wusste, dass dies nicht die Halle des Königs, sondern nur die der Gerechtigkeit, konnte sie nicht anders als beeindruckt zu sein. Wie oft war sie hier schon entlang gegangen? Unzählige Male. Nur war sie jetzt eine Fremde, die zurückkehrte. Heimat. Es fühlte sich so gut an. Ihr Gesicht spiegelte sich in den Fliesen, die sie schon damals für die filigranen, blauen Muster bewundert hatte. Blüten erstrahlten neben Nixen, die ihre Flossen dem Betrachter entgegenstreckten. Schmale mit Blüten umrangte Pfeiler, acht auf jeder Seite, stützten die Decke und flankierten den Weg zum Thron. Große Fenster, deren Glas zu ihren Zeiten noch grünlich geschimmert hatte, ließen goldene Lichtstrahlen über den Boden tanzen. Die Türe fiel hinter ihnen mit einem lauten Krachen ins Schloss. Sinamet zuckte nicht zusammen, sondern blickte zu dem Mann, wegen dem sie hier war.
Schedmasal hatte sich körperlich kaum verändert, noch immer war er der kräftige, junge Mann mit den schönen Locken und dem extravaganten Modegeschmack.
Ein Mann aus ihrer kleinen Gruppe trat vor, erklärte sein Anliegen und erhielt nach einer längeren Befragung sein Urteil. Es erschien Sinamet wohl überlegt und fair.
Die Menschen kamen und gingen, Berater flüsterten leise und Urteilssprüche wurden gesprochen oder verschoben. Sinamet wartete geduldig. Sie war die Letzte ihrer Gruppe.
„Du bist“, meinte der Herold leise zu ihr, „Sei respektvoll und höflich zu den hohen Herren.“
Sinamet nickte und trat vorwärts. Bis auf die Wachen, Berater und Bedienstete waren sie alleine. Viele Menschen, aber immerhin kein Volk. Ihr Herz pochte, als sie sich verneigte und nach einem Brummen des Königs wieder aufstand.
„Was ist dein Anliegen, Frau?“ Die Stimme war anders als in ihrer Erinnerung.
Sie hob den Blick und sah ihn an.
„Ich bin gekommen, um Gerechtigkeit zu verlangen für eine Person, die zu Unrecht des Mordes bezichtigt wurde.“
„Des Mordes!“ Ein ihr unbekannter, junger Ratgeber beugte sich vor. „Dies ist eine schwere Anschuldigung, Frau. Bist du dir dessen gewiss?“
„Ich bin es“, entgegnete sie ruhig. „Diese Person wurde zu Unrecht verbannt für eine Tat, die sie nie begangen hatte und die stattdessen als Argumentation genutzt wurde, ihr ihren rechtmäßigen Platz vorzuenthalten.“
Die Feder des Ratgebers kratzte über das Papier. „Dann nimm deine Kapuze ab, damit deine Aussage zu Protokoll genommen werden kann.“
„Natürlich.“ Sie neigte den Kopf. „Eure Majestät.“
Der König schenkte ihr kaum einen Blick, sondern starrte auf seine Fingernägel. Ahnte er etwas?
Sie schob die Kapuze zurück.
Sein Blick begegnete ihrem.
Er erkannte sie sofort.
Und wich aus.
„Ich bin gekommen, um Gerechtigkeit zu fordern und Frieden zu schaffen.“
Müde lehnte er sich in seinem Thron zurück.
„Und sag mir, Sinamet, wann hat meine Schwester jemals Frieden gebracht? Denn sie ist es doch, die dich schickt.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Wispern, doch hätte die Botschaft kaum deutlicher sein können.
„Schedmasal!“ Beschwörend sah sie ihn an.
„An diesem Krieg seid ihr beide beteiligt und es wird Zeit, sich endlich zusammen zu setzen und über Frieden zu verhandeln.“
„Und alles zu vergessen, ja?“, zischte er. „ Macht das die Tat ungeschehen?“
„Nicht ungeschehen“, entgegnete sie sanft, froh darüber, dass er mit ihr sprach, „Doch bist nicht nur du es, der Wunden mit sich trägt, sondern auch euer Land, das nicht zur Ruhe kommt.“ Er hatte sie ebenfalls in der persönlichen Anrede angesprochen und sie sah nicht ein, ihn, den Jungen, den sie erzogen hatte, in diesem Moment zu siezen.
„Mit meiner Schwester über Frieden zu reden, ist zwecklos, Sinamet.“ Ja, er war derselbe Sturkopf wie Schedela, besaß denselben starken Willen wie seine Zwillingsschwester.
„Ja, aber nur, weil ihr beide zu stur seid, um euch in die Augen zu sehen und Entschuldigung zu sagen?“
„Entschuldigung?“ Seine Hände klammerten sich um die Armlehnen.
„Es gibt keine Entschuldigung.“ Schweigen. Schlimmer als jede Wut.
„Majestät“, versuchte sie es erneut und probierte es dieses Mal auf die respektvolle Art. „Eure Schwester hat vor meiner Abreise mit mir gesprochen, das ist wahr, doch gekommen bin ich aus freien Stücken. Weil es wichtig ist, dass Ihr mir zuhört und von dem hört, was sie herausgefunden hat.“
Er schloss für einen Moment die Augen.
„Welche Wahrheit kann meine Schwester, die damals feige floh, schon herausfinden?“ Er fragte nicht sie, sondern stellte es einfach fest, Sinnlos. Sie erkannte es, als sie ihm in die Augen sah. Die falsche Zeit und der falsche Ort, um ihn zu überzeugen. Dennoch gab es nur diesen Weg. Nur diese eine Möglichkeit.
„Es ist die Pflicht eines Königs, die Wahrheit zu verteidigen und keine vorschnellen Urteile zu treffen.“ Sie trat noch einen Schritt näher, bis sie direkt vor seinen beiden Wachen stand. Einer von ihnen war Tariot, der starr die Wand hinter ihr ansah.
„Sinamet. Warum seid Ihr hier?“ Die höfliche Anrede offenbarte ihr einmal mehr, dass sie die vertrauliche Basis verloren hatte und nun nur noch mit Schedmasal, dem König, sprach.
„Das wisst Ihr doch“, erwiderte sie leise. Weil ich es nicht ertragen kann, dass meine beiden Kleinen sich gegenseitig bekriegen. Aber sie würde es nicht aussprechen, nicht hier in der Halle, nicht gegenüber dem König, sondern nur gegenüber dem Mann, den sie erzogen hatte.
„Sicherlich.“ Er nickte. „Doch Ihr wisst ebenfalls, was ich damals geschworen hatte.“
„Ja.“ Schmerz. So viel Schmerz. Noch ein Stück ihres Herzens das zerbrach.
„Ihr wisst auch, was mein Thronname bedeutet.“
„Ja.“ Sie senkte den Kopf. „Jekarbaq.“
„Ich werde der Ehre anhängen.“ Seine Augen musterten sie. „Die Ehre erfordert das Halten von Schwüren.“ Ruckartig senkte er den Kopf.
„Schedmasal…“, flüsterte sie, versuchte diese Namensbedeutung über die seines Thronnamens zu stellen. Freude ist mein Glück…Aber sie hatte ihn das ganze Gespräch über noch nicht lachen gesehen.
Er senkte den Blick.
„Ergreift sie.“
„Ihr hättet nicht zurückkommen sollen“, murmelte Tariot, während er sie an den Schultern packte. Nicht ruppig aber konsequent zogen die beiden Soldaten sie nach draußen, während andere ihre Plätze einnahmen.
Ein letzter Blick auf einen gebrochenen Mann.
Versagt. Wieder einmal.