Mit einem lauten Krachen flog die Tür der Hütte auf. Erschrocken wirbelte Sinamet herum und hielt dabei ihr Kräutermesser griffbereit in der Hand. Zu ihrer Erleichterung war es ihr Schützling, der in der Tür stand.
„Musst du mich so erschrecken?“, schimpfte sie, während sie mit verkrampften Fingern das Messer auf die Ablagefläche fallen ließ. Besorgt sah sie zu Schedela, die sichtlich gehetzt aussah. Nasse, verschwitzte Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und hingen hinab. Mit geweiteten Augen starrte sie ihre Ziehmutter an.
„Was ist passiert?“, fragte Sinamet und trat einen Schritt näher an die Prinzessin heran.
„Malkat liegt in den Wehen“, stieß sie hervor.
Sinamet seufzte erleichtert, denn hatte sie eine viel schlimmere Nachricht erwartet. Auch wenn eine Geburt für viele Frauen den Tod bedeuten konnte, wurde Schedmasals Ehefrau von den besten Heilern und Ärzten betreut, die es in diesem Land gab. Für Schedela schien dies indes nicht der Fall zu sein. Unruhig lief sie durch den Raum, fuhr sich immer wieder durch das Gesicht und blickte zu Sinamet.
„Kommst du? Deine Sachen können die Soldaten mitnehmen.“
Sinamet hob die Augenbrauen. „Die wo sind?“
Ungeduldig winkte Schedela mit der Hand. „Die kommen nach.“
„Ist dem so?“ Amüsiert sah sie zu ihrer nervösen Ziehtochter. Schedmasal, das wusste sie, würde nicht anders vor dem Zimmer der Gebärenden auf und ab tigern. Dass seine Zwillingsschwester dieselbe Nervosität empfand, rührte sie und zeigte ihr, was für eine Bindung zwischen den Geschwistern bestand.
Sie warf einen letzten bedauernden Blick auf ihre Hütte im Wald, in der sie gehofft hatte ein paar ruhige Tage zu verbringen. Das konnte sie jetzt wohl vergessen.
Kaum, dass sie nach draußen getreten war, reichte Schedela ihr die Zügel eines gesattelten Pferdes. Mit einem Seufzer schwang sie sich in den Sattel des Falben. Sie hasste es zu reiten und bevorzugte eine Kutsche.
Schedelas Schimmelstute setzte sich in Bewegung, bald darauf folgte auch Sinamet auf ihrem Tier.
Der Wald östlich der Hauptstadt war ein dichter Laubwald mit einer reichhaltigen Tier- und Pflanzenwelt. Nur wenige Pfade schlängelten sich in seinen Tiefen und bis auf die Köhler am Rand, einige königliche Jäger und die gelegentlichen Jagdgesellschaften des Königs traf man hier selten Menschen an. Sinamet zog sich gerne hierhin zurück, sofern ihre Pflichten es erlaubten. Manchmal besuchte sie die anliegenden Dörfer, um sich mit Vorräten zu versorgen oder die neusten Neuigkeiten zu erhalten, doch zumeist verblieb sie in der Hütte und seiner Umgebung.
Während des Ritts gönnte Schedela sich und ihrer Begleiterin keine Pause und trieb die Pferde unerbittlich zur Eile an. Als sie den Wald verlassen hatten, waren die Tiere schweißbedeckt und Schaum stand vor ihren Nüstern. Zwar war auch Sinamet auf diese Geburt gespannt, nur wollte sie deshalb nicht die Pferde zu Schanden reiten. Sie parierte ihre Stute zu einem langsameren Trab durch, sodass die Prinzessin sich ihr wohl oder übel anschließen musste.
Mit verbissenem Gesichtsausdruck beugte sich Schedela über ihr Pferd, ihren Blick allein auf den fernen Schatten der Stadt gerichtet, der allmählich immer deutlichere Kulturen annahm. Einundzwanzig Jahre war sie nun…Nicht minder alt als ihr Bruder, der doch ungleich älter zu sein schien. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit waren sich die beiden in Liebe verbunden. Eine Tatsache, die Sinamet immer wieder erstaunte. Wo Schedela lebhaft und unberechenbar war, handelte Schedmasal zumeist bedächtiger und weitaus weniger draufgängerisch. Gemeinsam hatten sie ihre Dickköpfigkeit, die nun wieder zum Ausdruck kam.
Endlich erreichten sie das Stadttor, ritten, ohne die Wachen zu beachten, hinein und zwangen die Menschen auf der Straße auszuweichen, während sie dem Weg zum Palast folgten. Schimpfend wandten sich Händler zu ihnen um, Frauen rissen Kinder von den Pferdehufen weg und sahen ihnen danach kopfschüttelnd hinterher. Sinamet hatte Mühe ihre Stute zu bändigen, die vor den vielen Geräuschen zusammenschreckte und deren Schritt zunehmend unsicherer wurde.
Noch im Ritt wandte sich Schedela zu ihr um. „Komm!“
Erneut stieß sie ihrem Pferd die Fersen in die Flanken, doch setzte es sich nur allmählich und lustlos in Bewegung. Schon bald war Schedela verschwunden, während Sinamet ihr langsam folgte.
Als sie den Vorhof erreichte, war von ihrem Schützling schon nichts mehr zu sehen. Sie sprang aus dem Sattel, reichte die Zügel einem Stallburschen und lief dann zum Wohnturm des Königssohnes. Es war Malkats erste Geburt und die dauerten ihrer Erfahrung nach an. Schon lange bevor sie an ihrem Ziel angelangt war, kamen ihr die aufgeregten und tuschelnden Dienerinnen entgegen, die blutiges Wasser und Laken fort- und neues hintrugen. Sie nickten Sinamet, die im Rang weitaus höher stand, anerkennend zu. „Sie gebiert jetzt schon seit dem Morgen!“, flüsterte eine junge Frau ihr zu.
Sinamet stieg die Treppen hinauf und erreichte bald den Vorraum, in dem sich eine Menge Leute versammelt hatte. Schedmasal stand völlig starr vor der Tür, hinter der die Schmerzensschreie der Gebärenden hinaushallten. Seine ganze Haltung zeugte von Anspannung und Furcht. Es war Schedela, die an seiner Seite stand und ihm tröstend die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Ihrer beiden Vater, König Jekar, hatte sich einen Stuhl in eine Ecke des Raumes stellen lassen und ließ das Geschehen scheinbar teilnahmslos an sich vorbeiziehen. Doch das leichte Tippen seiner Finger verriet Sinamet, dass er nicht ganz so gelassen war, wie er sich gab. Würdenträger und weitere bedeutende Persönlichkeiten verharrten ebenfalls hier, um zu bezeugen, dass bei der Geburt alles mit den rechten Dingen zuging.
Wieder ertönten die schrillen Schreie der Prinzessin und im Takt mit ihnen schritt ihr Ehemann über das Parkett. Zeit verrann langsam an diesem Abend. Diener, die durch die Menge der Wartenden huschten, nervöse Schritte und leise Gespräche, die schon im Ansatz von den Schreien unterbrochen wurden, formten später ihre Erinnerung an diesen Tag. Cherew gesellte sich an ihre Seite, wisperte ihr die Ereignisse der letzten Tage zu.
Auf einmal wurde die Tür des Zimmers aufgerissen, nachdem der dünne Schrei eines Säuglings vernommen worden war. Eine der Zofen Malkats trat hinaus und vor den König, der dem Recht nach als Erster über den Ausgang der Geburt erfahren musste.
„Dem Thron“, verkündete sie so laut, dass alle sie verstehen konnten, „ist ein Sohn geboren worden.“
Ein Junge. Mit strahlenden Augen blickte Sinamet zu ihrem Schützling, der sich gegen die Wand abstützen musste, während er von Gratulationen überhäuft wurde. Mit einer entschuldigenden Handbewegung wandte er sich von ihnen ab und ging in das Zimmer seiner Frau.
„Ein Neffe, ist das nicht großartig?“, fragte Schedela, die plötzlich neben Sinamet und Cherew aufgetaucht war.
„Wir alle freuen uns mit Eurem Bruder“, meinte sie.
„Ich werde ihm viel beibringen“, verkündete die Königstochter und erschien Sinamet damit mehr denn je wie ein Kind, das nichts von dem Spiel verstand, das hier gespielt wurde. In Gegensatz zu ihrem Zwillingsbruder war Schedela unverheiratet und würde dementsprechend in nächster Zeit keine Kinder zeugen.
„Gewiss wird dies eine wunderbare Zeit werden“, erklärte auch Cherew, der mit ihr einen besorgten Blick wechselte.
„Seht nur!“
Sinamet hob den Blick und erblickte Schedmasal, der mit einem winzigen Kind auf dem Arm in der Tür erschienen war. Der Königssohn sah mit einem breiten, stolzen Grinsen auf die versammelte Menge und hob den Säugling, damit ihn alle erblicken konnten.
„Volk meines Blutes ein Sohn ist euch geboren. Möge sein Blut sich mit dem euren verbinden, um die Ehre des Volkes zu vermehren!“
„So soll es sein“, donnerten die Versammelten, wie es der Ritus verlangte.
„Volk meines Blutes ich präsentiere euch jenen Sohn, der Joresch genannt werden soll, von diesem Tag bis zu seinem Tod.“
„Von diesem Tag bis zu seinem Tod!“, schallte es zurück.
Sie teilten sich und schufen eine Gasse, sodass Schedmasal problemlos zu seinem Vater treten konnte. Vorsichtig nahm er seinen Sohn und legte ihn zu Füßen des Königs. Der kleine Junge quäkte aus seinen dicken Tüchern hervor.
„Dieser Junge soll dem Thron dienen“, verkündete er.
Dieses Mal waren es nicht die Versammelten, die die Antwort gaben.
König Jekar blickte auf das Kind zu seinen Füßen, beugte sich hinab und hob es auf seinen Schoß.
„Dieser Sohn sei für den Thron und sein Name Joresch“, erwiderte er und sah seinen Sohn an.
„Joresch! Joresch!“ Mit fanatischem Jubel hießen sie das neue Mitglied ihres Volkes Willkommen.
Sinamet konnte die kleinen Füße sehen, die aus dem Tuch schauten und sich schnell auf und ab bewegten. Sie warf einen Seitenblick auf Schedela. Verstand sie, was hier soeben geschehen war? Dieser kleine Junge hatte ihr soeben ihren Platz in der Thronfolge streitig gemacht. Joresch hatte Schedmasal seinen Sohn benannt – ein Name, der schlicht und einfach ‚Erbe’ bedeutete. Bisher hatte König Jekar keinem seiner beiden Kinder, die beide denselben Anspruch auf den Thron hatten, bevorzugt, doch jetzt mochte es erscheinen, dass die Wahl bereits gefallen war.
Stumm sah sie zu Schedela, die soeben ihren Zwillingsbruder umarmte und beglückwünschte. Zwischen ihnen, das wusste sie, hatte sich soeben ein dunkler Schatten gezogen, der Stück für Stück anwachsen würde, auch wenn die Geschwister ihn jetzt noch nicht sagen.
Sinamet musste mehr denn je für sie da sein.
Wahrlich keine leichte Aufgabe.