Sie sah wie ihr Bruder die Hand vom Fell des Wolfes nahm und sich umsah. Von dieser Position konnte sie sein Gesicht sehr gut erkennen. Nach all den Jahren…Auf einmal war er ihr so nah. Portale waren eine gute Möglichkeit des Reisens und sie hatte ein kleines erschaffen lassen, dass sie bis hierher geleitete. Heute war der Tag. Heute war die Nacht. Nur heute.
War es Zorn, den sie empfand, als sie ihn so betrachtete? Ja, es war auch Zorn. Zorn über seine Ignoranz, seine Voreingenommenheit und seinen Starrsinn. Aber es war nicht der Zorn, der sie die Entscheidung hatte treffen lassen, jetzt an diesem Ort zu stehen. Wenn der Zorn sie regiert hätte, würde sie nun ihren Bogen ziehen und die Pfeilspitze auf ihren Bruder richten. Doch sie tat es nicht. Sie sah es nicht ein, warum sie zu eben der Person werden sollte, die alle in ihr sahen. Sie war sie und war nie jemand anders gewesen.
Laub raschelte, als sie hinter dem Baum hervortrat. Schedmasal wirbelte herum und starrte zu ihr herüber. Doch noch verdeckten die Schatten der Bäume sie.
Der weiße Wolf, der keiner war, setzte sich auf den matschigen Boden. Seine Schnauze zuckte und er starrte zu ihr hinüber.
Nein. Es waren weder Zorn noch Hass, die sie nun vortreten ließen. Vielmehr waren es Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zugleich, die sie dieses Gespräch hatte suchen lassen. Hoffnungslosigkeit darüber, diesen Konflikt und ihre hoffnungslose Lage auf militärische Weise zu verändern. Hoffnung darüber, ihrem Bruder nach neun Jahren wieder in die Augen zu sehen und die Vergangenheit für einen winzigen Moment lebendig zu machen.
„Schedela.“ Nur ihr Name und seine Hand, die auf dem Knauf seiner Waffe lag.
„Schedmasal.“ Sie trat näher.
Es waren nur Laub und nasse Erde, die sie äußerlich trennten, doch die wahre Grenze war von einem verschwundenen Jungen gezogen worden. Ein Junge, dessen Blut zwischen ihnen stand.
Sie starrten sich an. Stumm. Still.
Das Gesicht ihres Bruders. In dunklen Nächten hatte sie es manchmal mit Küssen bedeckt, wie an jenem Tag, als sie sich im Wald verirrt hatten, in anderen hatte sie heftig auf ihn eingeschlagen, wenn er wieder einmal ihr Spielzeug haben wollte. Doch in diesem Moment war es nur das Gesicht ihres Bruders.
Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit?
Sie war nicht als Bittstellerin gekommen. Sie war nicht als die Königin gekommen, die sie war. Sie war als Schwester gekommen.
„Schedmasal…“
„Was tust du hier?“
Schweigen.
„Meine Wachen werden dich töten, wenn sie dich sehen. Sind deine Leute hier? Du bist gekommen, um mich zu töten, nicht wahr?“ Sein Schwert glitt aus der Scheide, Ketarias spiegelte sich in dem glänzenden Stahl.
„Ich bin alleine gekommen.“ Sie könnte nach dem Bogen über ihrer Schulter greifen, einen Pfeil aus ihrem Köcher ziehen und ihn erschießen. Sie war eine gute Schützin und es wäre so leicht. Bei der Jagd nach Liowir kam man als Bittender nicht als Jäger. Ihr Bruder trug keine Rüstung, keinen Schutz außerhalb von Wams und Mantel.
Alles was sie tat, war stehen zu bleiben.
„Du willst mich töten so wie meinen Sohn.“ Er drehte sich um die eigene Achse, als suche er den Wald nach den Gefahren ab, die er in ihnen sah. Kein Wunder. Wenn der Sohn aus dem eigenen Palast verschwand, musste das Folgen hinterlassen.
„Wahrheit.“
„Was?“ Er blieb stehen, starrte sie an, während er den Kopf ein wenig schief legte.
„Die Wahrheit hat mich hergeführt.“
Wahrheit, die dritte Komponente, wohlmöglich die einflussreichste. Nichts war mächtiger, nichts konnte mehr schmerzen. Heute. An diesem Tag.
Wieder standen sie sich stumm gegenüber. Der falsche Wolf war verschwunden, still zurückgehuscht in den Wald.
„Wahrheit.“ Er schnaubte. „Wahrheit oder eine andere Lüge, die du mir vorzugaukeln versuchst.“
„Nichts als die Wahrheit.“
„Es erinnert mich an ein Gespräch, dass ich vor wenigen Tagen führte.“ Sein Schwert sank hinab, glitt in den schlammigen Erdboden und der Griff schwang leicht hin und her.
„Du hast sie geschickt, nicht wahr?“
„Ja“, erklärte sie. „Es war die einzige Möglichkeit, die mir blieb.“
„Ihre Worte mögen wahr oder falsch gewesen sein, doch ich gab ihr die Antwort, dass ich ein König bin und als König handeln muss. Dasselbe gilt für dich.“
Unbemerkt von ihr hatte er nach seinem Horn gegriffen und hob es an die Lippen.
„Du vergisst, dass ich ebenso eine Königin bin“, flüsterte sie. „Und du hast vergessen, dass ich nicht nur eine Königin, sondern auch eine Schwester und eine Tante bin.“
Sie rannte auf ihn zu, warf sich gegen ihn und schlug ihm das Horn aus der Hand. Dumpf fiel es zu Boden. Laubblätter wirbelten hoch und verdeckten es für einen Moment. Schedmasal stolperte zurück und fiel zu Boden, als sie sich erneut mit ganzer Kraft auf ihn warf. Sie fielen. Fielen wie früher, als sie sich gebalgt hatten. Etwas knackte laut und Schedela glaubte, dass es ihr Bogen war. Sie riss Sehne und Bruchstücke von sich, drückte ihren Bruder in den Schlamm und wälzte sich auf ihn. Die starke Brust hob und senkte sich unter ihren Händen. Sein lautes Keuchen drang in ihr Ohr, als er sich gegen sie stemmte und sie fast mühelos von sich schob. Seine Hände umfassten ihre Handgelenke, hielten sie fest. Zornig knurrte Schedela auf, stemmte sich gegen den Druck und wand ihre Hände in den seinen. Es gelang ihr, eine Hand zu befreien und mit dieser griff sie vor und versetzte ihm eine Ohrfeige. Ihre Hand schlug auf ihn ein. „Du bist ein Idiot, Schedmasal!“, schrie sie, als er sie von sich schubste, sie landete eine halbe Schrittlänge von ihm entfernt. Sie stöhnte auf, als sich ein Ast in ihre Seite bohrte. Zornig starrten sie sich an. Beide lagen sie ihm Dreck, Blätter hingen in ihren Haaren, Schlamm und Blut vermischten sich auf ihren Gesichtern.
„Wofür war das?“, knurrte ihr Bruder, während er auf sie zu robbte. Zorn. Endlich etwas anderes als diese gefühlstote Kälte.
„Jemand musste es endlich einmal tun“, knurrte sie. Könige und Heerführer. Aber in diesem Moment waren sie nichts mehr als Kinder gewesen.
Der Abstand zwischen ihnen schwand. Schedmasal griff in ihre Haare. Tränen von Schmerz und Wut traten in ihre Augen. Sie schlug nach ihm, zerkratzte sein Gesicht, er schlug sie immer wieder zurück, wenn sie wieder einmal versuchte, ihn am Boden festzudrücken. Eine Fuhre Schlamm landete in ihrem Gesicht. Für einen Moment war sie blind, stemmte sich blind gegen die Last, die sie auf einmal zu Boden drückte. Es gelang ihr noch, ihm ins Gesicht zu stoßen, dann lag auch ihre zweite Hand festgeklammert im Dreck.
„Hör auf“, keuchte er. Der Schlamm lief ihr Gesicht hinab, zunächst war es nur Ketarias’ Licht, das sie sah und das sie blendete, dann sah sie ihren Bruder.
Er lag über ihr und sorgte dafür, dass sie sich nicht bewegen konnte. Zorn. Zorn in seinen Augen. Aber er war lebendig. Sie spürte seinen warmen Körper, der sich gegen den ihren drückte, das Leben, das durch seine Adern floss.
„Was sollte das?“, fragte er erneut.
„Wahrheit, Bruder und Erinnerung. Außerdem bin ich so verdammt sauer auf dich.“
„Du bist sauer auf mich?“ Ungläubig starrte er sie an.
„Du hast mich verbannt, mir nachgesagt, Joresch getötet zu h…“
„Nimm seinen Namen nicht in den Mund“, unterbrach er sie, „Wag es nicht.“
„Joresch.“ Trotzig sah sie ihn an.
Er drückte ihre Handgelenke aufeinander, um sie mit einer Hand zu umfassen.
„Joresch, Joresch, Joresch.“
Seine Hand war größer als die ihre, doch als er die linke fortnahm, war sie schnell genug. Ihre Linke entkam dem Gefängnis, ballte sich in den Schlamm und warf diesen in sein Gesicht. Unwillkürlich löste er sich von ihr, stolperte davon und rieb sich den Schlamm aus den Augen.
Schnell stand Schedela auf und wich zurück. Kaum war er sich gewahr, was geschehen war, rannte er auf sie zu.
Sie stolperte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen einen Baumstamm traf. Auf einmal war das Stahl, der sich gegen ihre Kehle drückte. Erschreckt sah sie auf, blickte ihm in die Augen.
„Ich sollte wirklich meine Wachen rufen.“
„Schedmasal.“ Tränen rannen ihr aus den Augen, verschmierten die Maske aus Schlamm und Dreck, die sich für einen Moment über die Wirklichkeit gelegt hatte und nun gleich einem Spiegelbild zerfiel.
„Er ist mein Neffe“, flüsterte sie. Der Druck auf ihre Kehle verstärkte sich, hinderte sie am Sprechen. Es blieben ihr nur die Tränen.
„Ich sollte wirklich meine Wachen rufen“, wiederholte er. Was hielt ihn zurück? Was ließ ihn innehalten und sie einfach nur ansehen? Es war sein Gesicht, das ihres Bruders. Sie erkannte die Narbe, die er ihr verdankte, als sie im Streit zu heftig mit einem spitzen Ast zugeschlagen hatte, sah das Muttermal an seiner rechten Wange, das er später als eines Königs unwürdig bezeichnet hatte.
Es verzog sich zu einem Ausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte.
„Erzähl mir deine Wahrheit, Schedela.“ Die Art, wie er ihren Namen aussprach, verursachte ihr ein Kribbeln. Es erinnerte sie an all die Jahre zuvor. Bruder und Schwester. Zwillinge. Eins. Es war Liebe, das verstand sie nun, Liebe, die ihn innehalten ließ. Aber nicht die Liebe zu ihr, sondern zu seinem Sohn. Er war Liowir gefolgt, weil er gehofft hatte, ihn wieder zu finden und er blieb auch jetzt stehen, weil es diese Hoffnung war, die ihn antrieb. Hoffnung und Sehnsucht. Doch dies war etwas, was Schedela verstehen und womit sie umgehen konnte.
„Ich…“ Sie brach ab, zu schmerzhaft war der Druck auf ihren Hals.
Ihr Bruder merkte es und nahm den Dolch einige Millimeter zurück.
„Ich kann es dir nur zeigen“, wisperte sie.
„Ich werde ganz bestimmt, keine Gedankenverbindung zu dir eingehen.“
„Keine Gedankenverbindung“, spezifizierte sie, „Nur die Wahrheit.“
„Und wie soll das gehen?“ Er verdrehte die Augen, wurde zunehmend unruhiger. Sie musste sich beeilen.
In des Ketarias Nacht,
jener alter Traum erwacht,
stirbt der Alte, folgt jene.
Des herrlich Mondes Träne,
fängt sich im seltenen Quell.
Es erwächst selten und schnell.
Trete ein, du Wanderer
Zur wunderbaren Heimkehr
Deine Vergessen’ Zeiten,
in diesen Mondes Weiten
„Eine Legende, Schedela? Du bist mit einem Märchen zu mir gekommen?! Ich hatte mir wirklich eine bessere Geschichte erhofft.“
Sie schluckte. Das Licht Ketarias’ flimmerte von ihren Augen. „Du bist einer Geschichte gefolgt“, stöhnte sie, „Vielleicht ist auch Liowir nur eine Legende, vielleicht nicht.“
Er schwieg. Ruckartig nickte er. Sollte dies ein Zeichen für sie sein, fort zufahren?
„Dieses Lied ist die Wahrheit, Schedmasal. Ich bin dort gewesen vor neun Jahren, als es sich das letzte Mal geöffnet hat. Ich habe die Wahrheit gesehen. Es ist nur diese eine Nacht, diese eine Stunde, wenn Ketarias stirbt und Nomikat sich erhebt und der Tränenstern Hilusabet sich spiegelt.“
„Hilusabet.“ Er sah zum Himmel auf. Es war keine Spur des klaren, hellen Sterns zu sehen, der als ausgesprochenes Trauersymbol galt. Er war nur selten zu erblicken, nur dann wenn Ketarias und Nomikat sich kurz begegneten und selbst dann nur selten. Zum letzten Mal hatte er vor neun Jahren am Himmel gestanden, kurz nachdem König Jekar gestorben war.
„Hilusabet“, bestätigte sie, „Der Tränenstern.“
„Worüber weint er?“, fragte ihr Bruder. Sein Gesichtsausdruck erschien ihr seltsam entrückt, als würde er mit den Gedanken fern der Wirklichkeit sein.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete sie, „Aber wir können es gemeinsam ergründen.“
Ein Vogel zwitscherte irgendwo über ihnen. Sein fröhliches Lied hallte durch den Wald und schien doch fern diesem Moment zu sein. Sie sahen sich an.
„Schedmasal.“ Sein Name. Er klang so fremd auf ihrer Zunge, nachdem sie ihn all die Jahre nicht ausgesprochen hatte. Und doch war es eine Melodie, die ihr sogleich wieder einfiel und flüssig über ihre Zunge ging. Ein Lied, das für immer ein Teil ihres Lebens sein würde.
„Schedela.“ Sie weinte vor Glück, als sie die Art vernahm, wie er ihren Namen aussprach. Sie konnte es nicht beschreiben und doch erschien es ihr, als ob in diesem Moment jenes Zwillingsband wieder zusammengefügt worden war. Das Blut von Joresch war für Moment wie ausgeblendet, es gab nur sie und ihn.
„Gemeinsam?“ Es war eine Frage. Er klang so verunsichert und ratlos. Eine Schwäche, die sie nicht häufig erleben würde, dessen war sie sich gewiss.
„Gemeinsam“, bestätigte sie rau.
Der Stahl glitt von ihrer Kehle. Stille. Der Wind toste durch den Wald, wirbelte die Blätter des Herbstes hoch und hüllte sie in einen Sturm. Es roch nach Herbst, nasser Erde, nach Leben.
„Sieh!“
Schedmasal legte wie sie in den Kopf in den Nacken. Während ihrem Gespräch war Ketarias immer mehr verblasst. Nur noch ein blasser Schimmer strich über den Nachthimmel. Wirbel aus blauem Licht und verschiedensten Tönen besiegelten seinen Untergang. Die Ausläufer vermischten sich mit Nomikats roten Strahlen, die gleich Fingern über den Himmel glitten. Dort, wo sie sich begegneten, gab es eine Explosion der Farben. Fern dieser Stelle war das Licht der Monde schwach und kaum zu sehen, doch je näher sich die Zwillinge kamen, desto deutlicher strahlten ihre Lichter. Purpurfarbene Flammen züngelten über die Schwärze, spiegelten sich in den Gesichtern der beiden Königszwillinge und tauchten den Wald in einen diffusen Schimmer. Inmitten dieser Flammen war ein einzelner, silberner Stern zu sehen, der heller als alle anderen leuchtete. Einzelne silberne Punkte spiegelten sich den Tränen gleich in den Wasserpfützen auf der Lichtung. Tränen.
„Komm“, wisperte Schedela und sah ihrem Bruder in die Augen.
„Wohin?“
„Zum Tor des Mondes.“
Er nickte.