Sinamet wurde mitten in der Nacht wach, als die Geräusche von aufgeregten Rufen und dem Klackern von Pferdehufe durch ihr offenes Fenster drangen. Sie richtete sich in ihrem Bett auf und trat, ihre Decke immer noch über den Schultern, an das Fenster. Ihre Vorhänge flatterten im Wind und sie musste sie erst zur Seite ziehen, um hinausblicken zu können. Lichter flackerten unten auf dem Hof und im Schein der Fackeln konnte sie eine Reitertruppe sehen, die scheinbar eben eingetroffen war.
„Die Königin“, wisperte sie. Die Bettdecke fiel zu Boden, als sie nach dem dunklen, bodenlangen Umhang griff und ihn über ihr Nachthemd zog und es fest zuknöpfte, bis nichts mehr von dem weißen Stoff zu sehen war. Dann griff sie zu ihren Stiefeln und steckte ihre nackten Füße hinein. Nachdem dies getan war, öffnete sie ihre Tür, knallte sie zu und eilte durch die Gänge des Palastes bis zur großen Treppe. Sie übersprang jede zweite Stufe, ungeachtet der Tatsache, dass dabei ihre nackten Beine zu sehen waren, was absolut nicht schicklich war.
Endlich erreichte sie das Tor zum Innenhof und stieß einen Flügel auf. Dann stolperte sie in die Dunkelheit. Soeben wurden die Pferde von einigen müden Stallburschen an ihr vorbeigeführt. Schweißflocken zeigten sich auf ihren Fellen. Irgendjemand rief: „Hat jemand den König schon geholt?“
Sinamet drängte sich durch eine kleine Ansammlung von flüsternden Mägden und Knechten, dann erreichte sie die Gruppe von Neuankömmlingen. Sie erkannte Lavoras, die mit gesenktem Kopf dastand, während die energische Wirtschaftlerin Jinassa mit leiser Stimme auf sie einredete. Dahinter stand Tokvok, einer der Soldaten, die die Königin auf ihrer Reise begleitet hatten, die Zügel einer kräftigen Rotschimmelstute in den Händen. Auf deren Rücken hatte erkennbar niemand geritten, stattdessen hing an jeweils jeder Seite ein Tragekorb.
„Was ist geschehen?“, fragte Sinamet, während sie die Augen besorgt über den Hof schweifen ließ. „Wo ist ihre Majestät?“
„Sinamet…“ Lavoras schluchzte auf. „Ihre Majestät, sie ist…“
„Sagt so etwas nicht“, unterbrach sie die Verzweifelte. Bestimmt würde Schenitema gleich durchs Tor reiten, um lachend ihrem Gemahl entgegen zu eilen. Doch die Zweifel blieben, flüsterten ihr die Frage zu, weshalb ihre Zofe und Gesellschaftlerin Lavoras mitten in der Nacht auftauchen sollte. Weshalb? Sie hatte doch nur für einige Tage in den Wald gehen wollen, um die weise Frau um Rat zu fragen, die dort lebte. Es gab keine Gefahr, keine Konflikte, keine Kriege in diesen friedlichen und glücklichen Tagen. Warum sollte so etwas geschehen?
In diesem Moment hörte sie das Greinen eines Säuglings. Eines Säuglings. Sie ging zum Pferd und blickte in den Korb. Winzige, nackte Füße traten gegen ihre Hand, als sie vorsichtig hineinfasste, um das Kind hinaus zu nehmen. Sie hob das Tuch an, in das es gewickelt worden war und legte es erneut hinein. Ein kleines Mädchen, sah sie. Der Säugling hatte die Augen geöffnet und starrte sie überrascht an.
„Shhm Kleine“, beruhige sie das Kind und barg es in ihrer Armbeuge. Nun wimmerte es nur noch leise. Vor Hunger, vermutete sie. Tovkok räusperte sich hinter ihr.
„Es sind Zwillinge, Sinamet.“
Zwillinge! Überrascht sah sie ihn an. Schon lange waren keine Kinder und noch seltener Doppelkinder mehr in der Königsfamilie geboren worden. Nach mehreren Fehlgeburten Schenitemas, die Hoffnungslosigkeit in Bezug auf Kindersegen im Palast gesät hatten, lag nun dieses kleine Stück Leben in ihrer Armbeuge. Sie ging um das Pferd herum und blickte in den anderen Korb. Tatsächlich, ein zweites Kind, nur dass dieses friedlich schlummerte und erst aufwachte, als sie sich über es beugte. Aufmerksam, mit weit geöffneten Augen blickte der Säugling zu ihr auf. Vorsichtig hob sie das Kind mit der freien Hand hinaus und nahm es hinaus.
„Ein Junge“, erklärte Tovkov ihr und half ihr mit geschickten Fingern den Säugling in das wärmende Tuch zu wickeln und in ihre andere Armbeuge zu legen. Zwei Königskinder. Zwei Wunder nach mehreren Fehlgeburten und munkelnden Stimmen, dass die Königin nie gesunde Kinder gebären würde. Aber war das der Preis wert?
In diesem Augenblick wurde das Tor zum Palastinneren wieder geöffnet und eilige Schritte erklangen.
„Wo ist meine Frau?“, dröhnte Jekars Stimme über den Hof.
„Majestät.“ Lavoras trat vor und sank in einen tiefen Knicks.
„Was ist geschehen?“ Der König blickte die Zofe an.
„Ihre Majestät sie…“ Lavoras stockte. „Sie kam zu früh nieder und starb dabei.“
Sinamet stand neben dem Pferd, die Kinder auf den Arm und konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sie wusste, dass die Emotionen auf seinem Gesicht soeben erstarrten. Jekar war niemand, der seine Gefühle offen zeigte, sondern sie erst, wenn er alleine war, herausbrechen ließ. So klang seine Stimme fast ruhig, als er meinte: „Wenn dem so ist, wo ist sie dann?“
„Hauptmann Rokat kommt mit ihr hinterher. Wir sind voran geritten, um die Nachricht zu überbringen und die Kinder in Sicherheit zu bringen.“
„Das Kind? Es lebt?!“ Überraschung. Freude, die sich nun in seiner Stimme mit Schmerz mischte.
Sinamet trat vor, seine beiden Kinder in den Armbeugen. „Es sind Zwillinge, Majestät.“ Er trauerte, dass sah sie ihm an, doch die Kinder freuten ihn. „Ein Mädchen und ein Junge.“
„Wer ist zuerst geboren?“ Sie hatte Cherew nicht gesehen, doch er, der pragmatisch veranlagte, stellte wieder die richtige Frage.
Lavoras wechselte einen Blick mit Tovkov.
„Wir wissen es nicht, Majestät“, gab sie zu. „Als ich zu Ihrer Majestät in die Hütte kam, hatte sie bereits geboren. Es gibt so schnell, ich war nur für eine Handspanne Zeit Wasser holen und als ich wieder kam, lag sie da, die Kinder im Arm. Sie war so schwach und starb nur kurze Zeit später.“ Sinamet war keine Politikerin, aber dieses Problem verstand sie sogleich. Es gab Reiche, wo nur Söhne auch Erben waren, doch in dieser Familie erbte traditionell der Älteste, egal welchen Geschlechts, auch wenn Söhne dennoch beliebter waren. Besorgt sah sie auf das kleine Mädchen. Würde Jekar den Jungen zum Erben und Erstgeborenen ernennen, obwohl er die Wahrheit nicht kannte? Es brauchte einen Ältesten, einen Erben.
Sie sah den Zorn in Jekars Gesicht, doch das Wimmern seiner Tochter lenkte seine Aufmerksamkeit auf sie.
„Ich wünsche, Schenitema selbst entgegen zu reiten und sie zu Grabe zu tragen“, verkündigte er. Dann wandte er sich zu Sinamet.
„Reicht mir die Kinder“, befahl er. Es war das Mädchen, das sie ihm zuerst behutsam in den Arm legte, als hoffe sie, dass er sie dadurch nicht gegenüber ihrem Bruder benachteiligen würde.
„Meine Tochter“, meinte er und überrascht bemerkte sie, dass Tränen über seine Wangen liefen. „Schedela soll dein Name sein, damit Freude der Fels sei, auf dem du dein Leben baust.“ Er gab ihr das Kind zurück und nahm stattdessen seinen Sohn entgegen, den er in die Luft hielt, um ihn den Versammelten zu zeigen. Über sein Geschrei hinweg erklärte er. „Und mein Sohn soll Schedmasal genannt werden, denn Freude ist sein Glück.“ Trotz den traurigen Hintergründen musste Sinamet lächeln. Durch die Namensgleichheit stellte er die beiden auf dieselbe Stufe und zeigte deutlich, dass er keines dem anderen vorzog.
„Nehmt die Kinder, Sinamet“, sagte er zu ihr. „Sorgt für sie und erzieht sie. Seid ihnen die Mutter, die Schenitema ihnen nicht mehr sein kann. Ich weiß, dass sie es gewollt hätte.“ Es war eine hohe Ehre für eine niedrige, veramte Adelige wie sie. Sie hätte sich Gedanken machen müssen, darüber eine Amme zu suchen oder all die Dinge, die vorbereitet und besorgt werden mussten. Doch alles, was zählte, waren in diesem Moment die Kinder in ihren Armen. Ihre Bedürftigkeit, die winzigen Füße und die großen Augen ließen sie vor Liebe erbeben. Es waren nicht ihre Kinder, aber in diesem Moment schwor sie sich, alles für Schedela und Schedmasal zu tun und dafür zu sorgen, dass die Beiden ein glückliches und von Freude erfülltes Leben haben würden.