Callinger, Hanuvbre-Gebirge am Lauf des Fedlas, der erste Liusna des Segments Retoldut.
Es war der Tag, an dem die Gänse zurückkehrten, als Sinamet den Geist fand. Sie hatte nicht damit gerechnet, nicht an diesem Abend. Die Sonne senkte sich bereits über den Horizont und ihre Füße schmerzten von dem Aufstieg, den sie heute zurückgelegt hatte. Nach dem langen und ruhigen Winter war sie die körperliche Anstrengung nicht mehr gewöhnt, sodass sie bereits ab der Mitte des Pfades keuchte. Auch nach neun Segmentjahren bedeutete es jeden Frühling wieder eine Tortur.
Für einen Moment hielt Sinamet inne. Sie lockerte die Riemen ihres Bündels, das sie auf dem Rücken trug und blickte ins Tal hinab. Zwischen schneebedeckten Tannen und Fichten blitzte das Blau des Fedlas auf. Sinamet sah die glänzenden Eisschollen, welche die Wassermassen mit sich trugen. Nur eines von vielen Zeichen, mit denen der Frühling sich zu erkennen gab. Für ihre Schützlinge im Tal bedeutete die Flucht des Winters vor allem eins: Hoffnung. Das abgeschiedene Leben im Hanuvbre-Gebirge brachte viele Entbehrungen mit sich, welche die hiesigen Menschen geduldig ertrugen. Die großen Ereignisse der Welt berührten die verstreuten und zurückgezogenen Stammesgemeinschaften, die hier siedelten, kaum. Sie lebten und starben, genauso wie sie es seit Hunderten von Segmentjahren taten. Jede Ungewöhnlichkeit wie die Geburt eines Kindes oder der Tod eines geschätzten Dorfmitglieds erschien im Lauf der großen Dinge als völlig gewöhnlich.
Einst hatte Sinamet sich entschlossen, ein Teil dieser Welt zu werden, um für diese Menschen als Panti - als Dienerin der Götter – mit ihren Fähigkeiten und Gebeten da zu sein. Die leuchtenden Kinderaugen und die Dankbarkeit der Alten, die sie für das Heilen von Krankheiten und das Pflegen von Wunden mit Obst und Fleisch beschenkten, waren ihr Lohn genug, um den Abstieg ins Tal immer wieder aufs Neue zu bewältigen.
In diesem Moment dachte sie nur darüber nach, ob der Junge, der ihre Ziegen in ihrer Abwesenheit hütete, sich bereits auf den Heimweg ins Tal begeben hatte. In dem Fall müsste er ihr entgegenkommen. Sinamets Hütte stand abseits der Dörfer, der Weg zu diesen hinab war steinig und gefährlich. Mit dem Frühling krochen nicht nur Pflanzen aus dem schützenden Bauch der Erde, sondern auch der ein oder andere Jäger der Nacht aus seiner Höhle.
Mit einem Seufzen wandte sie sich vom verheißungsvollen Blick in die Tiefe ab und machte sich wieder an den Aufstieg. Sie war erleichtert, als sie endlich ihre heimelige Holzhütte erblickte, die sich gegen die dunklen Hänge abhob.
In diesem Moment ertönte ein Schrei.
»Panti Sinamet! Panti!«
Sie zuckte zusammen, als sie die Panik in der Stimme hörte. Mit dem Wanderstock in der Hand drehte sie sich um, erwartete einen Bären oder eine andere Gefahr. Ihre Hütte brannte nicht, stellte sie beruhigt fest, stattdessen plünderte eine ihrer Ziegen das Gemüsebeet, wo sich Gras durch die dünne Schneedecke kämpfte. Ein weiteres Tier trottete an ihr vorbei, um ein Büschel zwischen den Zähnen zu zermalmen. Sonderlich gefährlich wirkte die Situation nicht, dennoch war sie besorgt. Dem Jungen musste etwas zugestoßen sein! Vielleicht war er gestürzt und konnte sich nicht selbst befreien?
»Schalwa?« Wo steckte der Junge nur? »Schalwa?«
Vorsichtig ging sie um die Hütte herum, den Stock in beiden Händen, um eine mögliche Gefahr abzuwehren. Kaum dass sie die Ecke hinter sich gelassen hatte, prallte etwas gegen ihre Beine.
»Schalwa.« Sie ließ den Stock fallen und strich dem Jungen tröstend über den Rücken. Zitternd klammerte sich das Kind an sie. Heiße Tränen rannen ihm über die Wangen. Besorgt sah Sinamet sich um, doch war es ihr nicht möglich, in der hereinbrechenden Dunkelheit, das, was ihn erschreckt hatte, zu erkennen.
»Was ist passiert?«, fragte sie ihn also. Mit verheultem Gesicht blickte er zu ihr auf, schluchzte und klammerte sich noch fester an sie.
»Schalwa.« Sie löste seinen Klammergriff von ihren Beinen, beugte sich zu ihm hinab und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. »Was ist passiert?«
Das Kind schniefte. »Ein Geist«, hörte sie zwischen den Schluchzern hervor, »Er vergiftet die Quelle.«
Ihre Hand krallte sich in seine Schulter. »Bist du dir sicher?«
Schalwa nickte. »Im Wasser, ein Gesicht.«
Beruhigend redete sie auf ihn ein. »Du treibst die Ziegen in den Stall, ja? Sie können heute nicht draußen bleiben. Und wenn du damit fertig bist, kochst du uns Tee. Einverstanden?«
Eifrig nickte er. »Ja. Und ich bereite dir die Kräuter vor.« Tapfer richtete sich Schalwa auf. »Damit du den Geist vertreiben kannst.« Der Junge war ein aufmerksamer Beobachter.
»Tue das.« Sie gab Schalwa einen Stoß. »Los.«
Noch immer war sein Gesicht verheult, aber er ging, ohne sich weiter umzusehen, nahm sich einen Stock und klopfte einer Ziege auf den Hintern.
Sinamet ließ ihren Stab dagegen auf dem Boden liegen. Ihn würde sie nicht brauchen.
Es war die Quelle, wegen der sie diesen Ort als ihre Heimat erwählt hatte. Als sie gekommen war, hatte es hier keine Panti gegeben, die diesen heiligen Ort rein hielten. Nur wenige strebten in die fernen und verstreuten Dörfer, wo es kaum Aufstiegsmöglichkeiten gab. Und die Dankbarkeit von Dorfbewohnern verhalf kaum zu einflussreichen Positionen auf dem Spielbrett der Macht. Aber Sinamet war hier.
Es war ihre Aufgabe, für die Menschen und die heilige Quelle da zu sein. Leise Worte murmelnd schritt sie über Schnee und Gras und zwischen hohen Kiefern hinweg. Sie griff in einen der vielen Beutel, die an ihrem Kordelgürtel befestigt waren. Fein gemahlene Kräuter in den Händen erreichte sie die Quelle. Es war nur ein kleines, aber tiefes Wasserbecken, von dem ein Bach abging, der jetzt zugefroren war.
»Seid ruhig, ihr Geister«, summte sie, derweil sie in einem Kreis um die Quelle herumging und dabei die Kräuter ausstreute, »Zürnt dem Geist des Lebens nicht. Schlaft, bis der Winter kommen darf.«
Als sie ihre Runde beendet hatte, wagte sie es, näher heranzugehen. Sie trat an den Rand des Wassers. Leise knirschte der Schnee unter ihren Stiefeln. »Vergießt keine Tränen in Zeiten der Hoffnung«, sang sie weiter, »Lasst uns leben, leben.«
Sie sah den Geist. Unter der Wasseroberfläche drehte seine Fratze sich ihr zu. Dunkle Haut. Sinamet zuckte zusammen. »Der Geist des Krieges kommt in Gestalt eines Iderri«, zischte sie, »Verschwinde, böser Geist«
Eilig streute sie die restlichen Kräuter in ihrer Hand auf die Wasseroberfläche. Langsam sanken sie herab und umspielten die feindliche Fratze, deren Augen geschlossen waren. Sanft legten sie sich auf die dunkle Haut des Krieges, der am Zeitenende kommen würde, so sprach es die Überlieferung. War diese Zeit nun gekommen?
»Es ist mein Zuhause, böser Geist. Verschwinde.« Sie drehte den Beutel über der Oberfläche um. Reste der Kräuter trieben dort.
Eine Gans ließ sich, ungeachtet der Beobachterin, auf das Wasser der Quelle sinken und pickte einige der Kräuter auf. Dem Stamm Thramon aus Penek galten sie als heilige Boten der Götter. Für Sinamet waren sie nicht mehr als Zeugnisse der von den Göttern geschaffenen Schönheit. Der Schatten der Gans schob sich über das Gesicht des Geistes.
Und seine Augen öffneten sich.