Turilt, der vierte Gamalin des Segments Retoldut
Im letzten Jahr war Netinod alt geworden. Das Haar des Stammesfürsten war bereits zuvor ergraut, doch mittlerweile zitterten auch seine Finger unter den Zeichen des körperlichen Verfalls, und seine Stimme kam nur noch rau und leise über seine Lippen.
Sinamet fragte sich, ob die Neuigkeiten, welche die Panti gleich mit ihm teilen wollten, ihn jünger oder älter werden ließen, ob sie seine Last vermindern oder seine Sorgen verstärken würden. Und als Stammesfürst war die Last, die Netinod zu tragen hatte, bereits jetzt groß genug, sodass er sie bald, das befürchtete sie, wie sie ihn jetzt sah, nicht lange würde tragen können.
Es erschreckte Sinamet, ihn so zu sehen. Selbst inmitten all der Differenzen, die sie persönlich hatte und der Abneigung, welche sie für seine Stammespolitik empfand, so hatte sie ihn doch für seine Stärke und seine politischen Fähigkeiten respektiert. Er war ein verlässlicher Stammesfürst, unbeugsam in wenigen, zentralen Punkten und kompromissbereit in der konkreten Ausgestaltung dieser. Lange Jahre hatte er den Stamm geführt und die verschiedensten Gegner geschickt gegeneinander ausgespielt oder geeint, um die Ziele des Stammes durchzusetzen. Sinamet hatte sich nie die Mühe gemacht, sich die Zahl der Abstimmungen, die in der Stammesversammlung für seine Absetzung anberaumt worden waren, zu merken. Es waren ihrer viele gewesen und doch stand Netinod immer noch auf seinem Platz. Noch. Lange würde es nicht mehr dauern, davon war die lebenserfahrene Panti überzeugt. Schon jetzt umstrichen sie ihn wie wilde Hunde, die Männer und Frauen von Macht und Einfluss im Stamm, gierig warteten sie auf den Fall des Verletzten und lauerten auf den Moment, ihn zu Boden zu stoßen. Einer von ihnen war Lejkar, ihr Bruder.
Netinod ließ sich nichts von seiner wackligen Position anmerken, sondern bemühte sich, Stärke auszustrahlen. Auf einen Stab, in dessen Holz Kirschblüten geschnitzt waren, gestützt, stand er inmitten der Stammeshalle und musterte die Panti, die ihn zu sprechen verlangt hatte. Ausnahmsweise war er nicht umringt von Bittstellern und Würdenträgern. Nur ein halbes Dutzend Dienerinnen, deren Haar nach Art der Kriegsgefangenen geschoren war, putzten und schmückten die Halle.
»Es gibt Neuigkeiten, sagt ihr?« Netinod hatte sich an Dschinak gewandt, der als Sprecher der Gemeinschaft der Panti fungierte.
Der alte und erfahrene Diener der Götter nickte.
»Die Zeichen haben sich verdichtet, sodass wir am gestrigen Abend eine Versammlung der Panti einberufen habe«, begann er, während seine Augen den Stammesfürsten fokussierten. „Und dort erreichte uns ein Bote der Götter, der unserem Stamm einen Auftrag übermittelte.«
»Einen Auftrag?« Netinods Augen funkelten interessiert. Sinamet fragte sich, ob er soeben eine Möglichkeit ahnte, sich weiterhin an der Macht zu halten. »Sagt mir alles.«
»Berichten soll Euch diejenige, der sich der Götterbote zuerst offenbarte.« Dschinak wandte sich zu ihr um. »Sinamet.«
Sinamets Herz pochte. Irgendwo hatte sie doch gehofft, sich diese Situation ersparen zu können. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen und sich der Augen und Meinung vieler anderen auszusetzen.
»Sinamet?« Die Stirn des Stammesfürsten zerfurchte sich, als ob er sich zuerst an sie erinnern müsste. Es war eine Farce. Natürlich kannte er sie, auch wenn sie sich bis heute wünschte, dass sie sich damals, vor Jahrzehnten, vor anderen Umständen kennengelernt hätten. Die Bilder. Sie drängten sich ihr noch heute auf.
Ein kalter Körper, gefangen zwischen Schilfrohr, Wasser und einem eisgrauen Winterhimmel. Tränen auf regennasser Haut. Ein Mädchen verloren im Schmerz.
Nein. Sinamet suchte den Weg zurück in die Gegenwart, in das Hier und Jetzt, welches immer noch von demselben Schmerz erfüllt war.
»Sinamet?« Netinods Stimme war ungeduldig. Selbst das Alter hatte ihm die Tugend der Geduld nicht zu lehren vermocht.
Sie hob den Blick. »Es …« Fast konnte sie Lurrveds Stimme hören, der sie auffordern würde, nicht zu zögern und ihren Weg nicht nach der Vergangenheit auszurichten.
Hinter ihr räusperte sich jemand. Und die alte Panti begann, zu sprechen: »Ich fand den Boten in der heiligen Quelle des Stammes, dem ich diene, gab ihm den Namen Lurrved, und er lebte die folgenden Wochen bei mir, bis ich ihn hierhin brachte. Ich glaube, dass er mich gebraucht hat, um hierher zu gelangen und seine Botschaft zu überbringen.« Bis jetzt hatte sie noch nicht verstanden, wieso er ausgerechnet sie ausgewählt hatte – eine gebrochene Frau, die ihre letzten Lebensjahre nur als ein Opfer für die Sünden ihrer Jugend verstand.
»Er überbrachte die Botschaft, dass wir als Stamm wieder unsere Position in der Geschichte einnehmen sollen, so wie wir sie früher hatten, damals, zur Zeit der Ubandur-Kriege.«
Auf Netinods Zügen breitete sich Triumph aus. Man konnte von dem Stammesfürsten halten, was man wollte, doch politische Chancen erkannte er. Das Erbe an Callinger, den jungen Fürsten, der das in sich verfeindete und zerstrittene Volk der Puidan gegen den äußeren Feind der Iderri hinter sich vereint hatte, wurde hier noch immer wach gehalten. Callinger war der erste König der Puidan gewesen und ihre Heimat war nach ihm benannt worden. Nicht der Verlust der Königswürde, nicht die damit einhergehende Abnahme an politischer Macht hatte dem Stamm Castoman seinen Stolz darauf nehmen können, dass sie einst die Größten und Ersten unter den Stämmen Callingers gewesen waren. Und nun hatten sie eine Verheißung der Götter erhalten, diese Stellung wieder einzunehmen. Noch stellte sich keiner die Frage des Wie, wichtig für den Moment war allein die göttliche Legitimation.
Auf einmal packte Netinod sie am Arm. Sein Griff war fest, die Hände schweißnass. »Erzähl mir alles«, verlangte er. »Jedes einzelne Wort.« Sie fragte sich, was er jetzt dachte und plante. Sicherlich sah er jetzt schon die Möglichkeiten, die sich für ihn daraus ergaben. Sinamet verstand die Tragweite von Lurrveds Worte noch lange nicht. Sie wusste allein, dass sich hinter ihnen so viel mehr verbarg, als ihr auf den ersten Blick ersichtlich war.
»Natürlich«, antwortete sie. Immerhin hatte sie das Gefühl, dass seine Reaktion nicht allein dem Willen entsprang, die mächtigen und einflussreichen Panti nicht gegen sich aufzubringen, sondern er echtes Interesse an ihrem Bericht hatte.
»Und heute Nachmittag«, meinte er, »wirst du der Stammesversammlung dasselbe berichten.«
Wunderbar, dachte Sinamet, Lejkar wird begeistert sein. Andererseits würde alles, was sie tat, die Beziehung zu ihrem Bruder verschlechtern. Dafür genügte es, dass seine Enkelin ihr zuwinkte.
Warum konnte es nie einfach sein?
Sinamet wusste nicht, wie lange sie die Ereignisse rund um Lurrved wiederholt erzählt und Einwänden und Berichtigungen der anderen Panti gelauscht hatte, doch als sie erschöpft und doch aufgeregt aus der Halle trat, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Noch schienen sich die Geschehnisse um Lurrved tatsächlich nicht herumgesprochen zu haben, denn die Atmosphäre war unverändert und die Menge auf dem Platz vor der Halle hatte sich nicht etwa aus Neugierde auf vermeintliche Enthüllungen, sondern aufgrund der Wettkämpfe der Kinder hier versammelt. Soeben maßen sich Mädchen und Jungen von fünf bis sieben Segmentjahren mit der Zwille. Für die Gesellschaft waren das stets wichtige Ereignisse und die Erwachsenen kommentierten die Würfe angeregt, würden diese Kinder doch einst die Anführer und Krieger von morgen sein. Sie konnten den Stamm zu alter Glorie oder aber in die Vergessenheit führen. Dementsprechend wurde jeder Schritt, den die Kinder machten, sorgfältig beobachtet und ihre Taten vom ganzen Stamm beobachtet. Scheiterten sie, fiel das auf ihre Eltern und auf den Stamm zurück.
Überrascht bemerkte Sinamet, dass Dillenat eines der Kinder war. Aufgeregt hielt sie ihre Zwille in der einen Hand und schob einen Stein in der anderen hin und her, während sie darauf wartete, an die Reihe zu kommen.
Lächelnd schloss Sinamet sich den Beobachtern an. Bis zur Versammlung am Abend war noch Zeit und sie konnte eine Ablenkung nun wirklich gut gebrauchen. Als sie bemerkt wurde, nickte man ihr anerkennend zu und machte der Panti Platz, sodass sie bald in erster Reihe stand.
Einige Bekannte begrüßten sie erfreut und sie tauschten kurz Neuigkeiten aus, während sie den Auftritt eines Jungen verfolgten, der soeben einen Stein in seine Zwille einlegte.
»Dank ihm wird das Geschlecht seines Vaters nicht namenlos werden«, meinte die Frau eines von Sinamets Kindheitsfreunden anerkennend, als der Stein des Jungen die kleinste der aufgereihten Tonfiguren zerspringen ließ.
Sowie sie Sinamets fragenden Blick bemerkte, erläuterte sie: »Sein Vater ist im Winter ertrunken und seine Mutter zu ihrem Stamm zurückgekehrt. Er ist der letzte Träger des Familiennamens.«
»Und er hat nicht den Namen eines anderen angenommen?«, vergewisserte die Panti sich ungläubig. Es erschien ihr unglaublich, dass ein kleiner Junge diese Entscheidung zu treffen mochte.
»Nein.« Ihre Gesprächspartnerin seufzte tief. »Er ist so mutig.« Mutig und zugleich sehr leichtsinnig, dachte Sinamet überrascht.
Der Junge hatte keinen Familienverband mehr, niemand, der ihm zu helfen verpflichtet war. Zugleich trug er die Pflichten des Familienoberhaupts und war dafür verantwortlich, seinen Teil zum Wohl des Stammes beizutragen. Und das alles alleine und bevor er selbst als Erwachsener galt. Er hätte sich einem anderen Verband anschließen können und ein Ehepaar hätte ihn als ihr eigenes Kind angenommen, doch hätte er damit auch ihren Namen angenommen und der Familienname seines Vaters und dessen Vaters wäre aus dem Stammesbaum geritzt worden. Für den Stamm war es ein großer Schmach, wenn einer ihrer Familien verschwand, aber es kam immer mal wieder vor.
»Und das haben die Panti zugelassen?«
Die Frau, die an ihrem Stirnschmuck vier Milchzähne der Kinder, die sie geboren hatte, trug, zuckte mit den Schultern. »Er wurde noch vor dem Tod seines Vaters beim Kamitja zum minderwertigen Mitglied erklärt, somit war er dem Gesetz nach dafür geeignet.«
»Ich werde vor den Göttern für ihn bitten«, entschloss sich Sinamet, »sie belohnen solchen Mut.« Sie hoffte es zumindest. Die Götter hatten schon so manchen kleinen Jungen, der in seinem Mut groß war, plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen. Oh Joresch, dachte sie traurig, was ist nur geschehen? Plötzlich musste sie auch an Schalwa denken, den die Götter auf eine solch gefährliche Reise geschickt hatte! Sie rechnete nach: Wenn alles gut gegangen war, müsste er mittlerweile an seinem Zielort angekommen sein. Götter, wacht über ihn. Er war doch noch so jung … Ein Kind, dem sie eine Aufgabe aufgebürdet hatte, die ihr nun im Rückblick viel zu schwer für den Jungen erschien. Aber es war der Weg, den die Götter ihr, ihm und ihnen allen aufbürdeten. Nicht mehr und nicht weniger mussten sie tun.
Die nächste Tonfigur zersprang mit einem lauten Klirren und Sinamet zuckte zusammen, weil es auf einmal Masal war und nicht dieser Junge, den sie vor ihren Augen hatte. Auch er hatte eine Zwille mit großer Selbstverständlichkeit zu führen vermocht und auf Tonfiguren gezielt. Vergangenheit. Und doch, und doch … Lurrveds Worte. Wann hast du aufgehört, eine Mared zu sein? Ja, wann eigentlich. Verwirrt beobachtete, wie der Junge - zufrieden mit seiner Leistung – zurücktrat. Es war nicht Masal. Nur ein Junge ohne Familie, der sich in der Anerkennung sonnte, die ihm nun mit Applaus und auch durch die neidischen Seitenblicke seiner Mitkämpfer zuteil wurde. Zurecht. Es war eine hervorragende Leistung gewesen.
»Wirst du dir einen Schüler suchen, wenn die Zeit gekommen ist?«, erkundigte ihre Gesprächspartnerin sich. »Du bist nicht mehr die Jüngste und hast bisher nie einen Schüler erwählt.«
»Jetzt ist nicht die Zeit dafür«, wich Sinamet aus. Darüber mochte sie jetzt nicht nachdenken. Es gab zu viel andere Dinge, die es zu erledigen galt.
Lieber fokussierte sie sich auf Dillenat, die nun an der Reihe war.
Aufmerksam beobachtete sie, wie das Mädchen sich selbstbewusst aufstellte und einen Stein in das Lederband ihrer Zwille legte. Die Tonfiguren waren innerhalb des Geländes selbst aufgebaut. Manche standen erhöht auf Steinen oder Pfosten, andere waren gar abseits der Plattform in den feuchtnassen Untergrund gedrückt worden und halb im Schlick versunken. Sie existierten in verschiedenen Größen. Je kleiner eine Figur und je weiter entfernt sie stand, desto mehr Punkte gab es für einen Treffer.
Dillenat zielte auf eine etwas größere Figur in mittlerer Entfernung. Schallend zerbrach sie. Es war ein guter, aber kein außergewöhnlicher Anfang. Missbilligend schnalzte Sinamet mit der Zunge. Ihre Großnichte hatte sicher begonnen, aber es war nicht das Bedürfnis nach Sicherheit, das Außergewöhnlichkeit hervorbrachte. Die Götter mochten das Mädchen auf ihrem Weg segnen und in ihren Träumen unterstützen!
War Lejkar auch hier? Sie konnte ihn innerhalb der Menge nicht erblicken. Wahrscheinlich hatte er Wichtigeres zu tun, als dem Wettstreit seiner Enkelin zuzusehen. Dafür entdeckte sie jedoch zwei seiner Schwiegertöchter und einen Jungen, in dem sie ihren Großneffen erkannte. Waren die Kinder groß geworden!
Sie war froh darüber, dass Dillenat – im Gegensatz zu dem Jungen - eine Familie hatte, die sich um sie kümmerte. Das Mädchen musste nicht alleine durchs Leben gehen wie der kleine Junge, der vor ihr angetreten war. Nur manchmal wünschte sie sich, dass Familie weniger kompliziert wäre. Dann hätte sie die Möglichkeit, mehr Zeit mit Dillenat zu verbringen.
Aber so konnte sie nur anerkennend klatschen und lächeln, sowie das Mädchen ihre Runde beendete, die besser endete, als sie begonnen hatte.
Es war ein unbefriedigendes Gefühl, nur zuzusehen und nicht diejenige zu sein, die ein Kind an der Hand nahm, ihm Tipps gab und es ermutigte, beim nächsten Mal besser zu werden.
Sinamet verließ den Wettstreit, nachdem Dillenat aufgehört hatte. Sie sprach mit einigen Menschen, die sie länger nicht gesehen hatte und knüpfte Kontakte mit ihr Fremden. Die Menschen waren überall. Sie bevölkerten die ganze Insel, strömten aus bunt geschmückten Hütten und Männer und Frauen tanzten auf der Straße zu der Lyra eines Sängers. Mit einer tragenden, melodischen Stimme sang er über den Raub der schönen Kedeth. Es war ein Stück, das rasant begann und tragisch endete und Sinamet daher als wenig passend für diese Feierlichkeit erschienen. Auf dem großen Platz der Siedlung türmten junge Männer Holz für das Lagerfeuer am Abend auf, aufmerksam beobachtet von einer Horde halbnackter Kinder, die in den Händen Stäbe oder kleine Schwerter aus Holz hielten.
»Panti Sinamet«, riefen sie, sowie sie der alten Frau gewahr wurden und rannten auf sie zu. »Eine Geschichte. Bitte erzähl uns eine Geschichte!«
Es war kein schlechtes Lob, für seine Geschichten erinnert zu werden, entschloss Sinamet sich.
»Was für eine Geschichte wollt ihr hören?«, fragte sie, als die Kinder lärmend auf sie zustürmten.
»Erzähl von Leretaths Fluch«, bat ein Mädchen.
»Nein, von Callinger!«, verlangte ein Junge lautstark. Dann riefen sie alle durcheinander, forderten nach Sagen längst verblasster Helden, Erzählungen historischer Persönlichkeiten oder eigener Erlebnisse.
»Hört zu«, verschaffte sie sich Gehör. »Ich werde euch die Geschichte von Pirelet erzählen. Kennt ihr sie?«
Einvernehmlich schüttelten die Kinder den Kopf. Was lehrten die Panti hier nur? Über Pirelet war eine der schönsten Versepen verfasst worden, den Sinamet kannte. Ein Meisterwerk der Kunst. Aber Sinamet war keine Sängerin oder Dichterin und so beließ sie es bei der Erzählung. Es wäre einem solchen Meisterwerk nicht würdig gewesen, es nicht perfekt vortragen zu können.
»Als Sohn eines Königs wurde Pirelet geboren«, begann sie. Gebannt hingen die Kinder an ihren Lippen.
Pirelets Leben war nicht der Stoff, aus dem Heldengeschichten gewoben wurden, aber es bot jede Menge Platz für moralische Ermahnungen, die sie eifrig in ihrer Erzählversion einfloss. Es war wichtig, den Kampf oder den Umgang mit Waffen zu lernen, doch viel wichtiger war das Wissen darüber, wann man einen Kampf führte. Pirelet hatte sich entschieden, einen Kampf zu führen, den die Götter nicht für ihn vorgesehen hatten und so hatte er den Preis für seinen Ungehorsam gezahlt. Das mussten die Kinder lernen.
»Und so starb er an eben jenem Platz, an dem sein Vater fünfzehn Segmentjahre zuvor seine Krone verloren hatte, den Tod eines Verräters«, beendete sie die tragische Erzählung.
Die Kinder schwiegen. Verwirrt musterten sie Sinamet.
»Das ist keine schöne Geschichte«, platzte ein kleiner Junge schließlich heraus. »Sie ist traurig.«
»So ist das Leben eben«, belehrte ihn ein Mädchen, die aussah wie seine ältere Schwester.
»Was lernen wir denn aus dieser Geschichte, Kinder?«
»Das Leben ist gemein«, plapperte der Junge.
Seine Schwester stieß ihm genervt den Ellenbogen in die Seite. Sie blickte Sinamet an. »Wir müssen dem Weg der Götter folgen«, meinte sie. »Jeder Einzelne.«
»Richtig«, stimmte die Panti zu, »Pirelet hat sich gegen das ihm bestimmte Leben im Exil aufgelehnt und sich gegen den Weg gewandt, den die Götter für ihn gewählt hatten. Diese Entscheidung bezahlte er mit seinem Leben.«
Sie glaubte nicht, dass die Kinder wirklich verstanden, was sie ihnen sagen wollte. Aber vielleicht würden sie sich irgendwann an ihre Worte erinnern und damit hatte diese Geschichte ihren Zweck erfüllt.
»Danke Panti.« Das Mädchen verneigte sich vor ihr, die anderen Kinder folgten ihrem Beispiel. Sie lachten schon wieder, als sie davonrannten, um ihr Spiel erneut aufzunehmen. Kurz beobachtete Sinamet sie bei ihren wilden Wettkämpfen. Eifrig testeten sie, wer die Schnellste, der Stärkste oder die Aufmerksamste war. Einige von ihnen mochten einst berühmte Kriegerinnen oder die schnellsten Gesandten werden. Andere von ihnen würden falsche Wege einschlagen und fallen. Die Götter nahmen und gaben – wie sie es wollten.
Und was ist, wenn ich den falschen Weg einschlage? Wann bemerke ich das?
Ihr lief ein Schauer über den Rücken.
Jede Stammesversammlung in Callinger versammelte sich an demselben Ort. Sie sprachen mit der Stimme des Stammes, entschieden für ihn und besiegelten Sieg oder Niederlage. So war es nur richtig, dass sie auch an dem bedeutsamsten und heiligsten Ort des Stammes tagten: unterhalb des Kirschbaumes des Stammes Castoman, der sich am momentan nördlichen Ende der Hauptinsel Turilts auf einem Hügel befand. Hier war der Boden trockener und auf der lehmigen Erde wuchsen Gras und stachlige Büsche, deren Äste von kleinen gelben Blüten gekrönt wurden, die sich als Kunstwerke der Sonne entgegenstreckten. Auch der Sonne entgegen tanzten weiß-rosa Kirschblätter, die von feuchtkalten Winden emporgehoben wurden.
Der Kirschbaum stand bereits, seitdem Sinamet sich erinnerte, und ihr Vater hatte ihr dasselbe über ihn erzählt. Die Wurzeln der Kirsche gruben sich tief in die Erde und in warmen Sommernächten roch es wundervoll nach den reifen Früchten, die verheißungsvoll zwischen grünen Blättern in einem dunklen Rot glänzten. So manches Mal hatte Sinamet als kleines Mädchen neben dem mächtigen Stamm gestanden und sich vorgestellt, wie die Früchte wohl schmecken würden. Probiert hatte sie diese nie. Sie hatte dem Verlangen immer standgehalten. Ihr jüngerer Bruder nicht. Aber sie hatte sein Geheimnis nie verraten. Denn das Essen der Früchte war verboten, diese gehörten allein den Göttern und wurden ihnen als ein Opfer überlassen.
Jetzt jedoch dachte niemand an die Kirschen, die noch lange nicht reif waren und die Kinder, die trotz des Verbots verwegen, die ein oder andere pflückten, waren hier zur Zeit nicht zugelassen.
Das Lachen von Kindern fehlte Sinamet bereits, als sie den Hügel betrat.
Mit ernsten Gesichtern saßen Männer und Frauen auf aus Holz und Schilfrohren errichteten Stühlen rund um den Baum und unterhielten sich leise. Es waren Mitglieder der Stammesversammlung, Panti und weitere Würdenträger des Stammes.
Sinamets Herz pochte, als sie zwischen ihnen hindurch schritt und einen Platz links neben dem größten und prächtigsten Stuhl einnahm. Gespräche verstummten und man musterte sie sowohl neugierig als auch aufgebracht. Doch niemand sagte etwas, denn kurz darauf erreichte Netinod den Kreis. Sein Gang war fast ein wenig schwingend und leichtfüßiger, als Sinamet es bei ihm lange gesehen hatte. Lächeln tat er allerdings nicht, auch wenn das wahrscheinlich eher zu seiner Inszenierung passte, denn seiner Stimmung wegen war. Er nahm den Platz neben ihr ein.
Als Stammesfürst stand er der Versammlung zwar nicht vor, doch gebührte ihm dennoch ein Ehrenplatz und so blieb Sinamets Platzierung an seiner Seite auch nicht unbemerkt. Ihr missfiel es, so in den Mittelpunkt gedrängt zu werden, doch hatte Netinod darauf bestanden.
Sie suchte den Blick ihres Bruders, der seinen Platz in der Stammesversammlung bereits eingenommen hatte. Und sie las den Zorn darin. Ja, er war zornig. Doch da war noch mehr. Mit der Zeit war es ihr immer schwerer gefallen, seine Empfindungen zu erkennen.
Wo war Thijnet? Sie hatte ihn nach der Versammlung nicht wieder gesprochen und wusste immer noch nicht, wie sie es einordnen sollte, dass er sich in seiner Rede so gegen sie gewandt hatte. Es hatte sie verletzt. Da. Sinamet entdeckte ihn ihr schräg gegenüber sitzend. Soeben beugte er sich zu seinem Nachtbarn, dem Panti Dschinak, und wisperte ihm etwas zu.
Sinamet war sich nicht ganz sicher, ob sich die Neuigkeiten um Lurrved nicht doch schon verbreitet hatten.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und beobachtete angespannt, wie der Stammesfürst das Wort ergriff.
»Verehrte Versammlung, es gibt Entscheidungen, die getroffen werden müssen, Entscheidungen, die nicht aufgeschoben werden können. Unsere Panti haben sich am gestrigen Abend versammelt und eine Botschaft der Götter empfangen.« Netinod wandte sich zu ihr um. »Sinamet, berichtet Ihnen.«
Sie hatte ihn zuvor gefragt, ob nicht jemand anderes diese Aufgabe übernehmen könnte, ein Panti, dessen Stimme mehr Gewicht beigemessen wurde, doch er hatte darauf bestanden, dass sie sprach.
Ihr Bruder musterte sie überrascht, sowie sie das Wort ergriff.
Mittlerweile sollte sie die Rede gewöhnt sein, wiederholte sie doch wieder und wieder dieselben Worte, dennoch wich ihre innere Unruhe nicht. Detailliert erzählte sie von Lurrved, seinem Auftauchen und seinen Worten. Währenddessen hatte sie Zeit, die Reaktion der Versammelten zu bemerken. Viele murmelten aufgebracht, andere wirkten fasziniert und neugierig – und ihr Bruder lächelte.
So wunderte es sie kaum, dass er nach ihr das Wort ergriff. Schon als er aufsprang, breitete sich in Sinamets Inneren ein mulmiges Gefühl aus. Er plante etwas.
Mit ausgebreiteten Armen stand ihr Bruder dar, seine Haltung eine einzige Betonung seiner Macht. »Ich stimme unserem verehrten Stammesfürsten darin zu, dass es außergewöhnliche Zeiten sind.« Sein Lächeln gefiel ihr ganz und gar nicht. »Und wie meine Schwester soeben verkündete, braucht es für diesen Neubeginn zugleich eine Rückbesinnung auf die alten Zeiten.« Sieh an, dachte sie amüsiert und besorgt zugleich, ausgerechnet jetzt betonst du unsere Familienbande, kleiner Bruder? Selbstverständlich war auch das ein Teil seiner Politik und Inszenierung.
»Ich denke, wir alle wissen, dass Callinger seine Krone nicht durch friedliche Verhandlungen erreichte. Die Lieder erzählen zu gerne von den überzeugenden Worten, die er gegenüber den anderen Stämmen fand, und vergessen dabei, dass er nicht nur die feindlichen Iderri besiegte. Zuallererst siegte er über diejenigen, die seinem Weg nicht folgten. Er tat es, weil sein Weg der richtige und von den Göttern gewollt war. Wie anders konnten sie das zeigen? Als dass sie ihm eine Krone schenkten, die sein Geschlecht so lange trug, bis es seinen Nachkommen auf grausamste und unehrenhafteste Weise entrissen wurde.«
Welche Lügen erzählst du ihnen da nur? Glaubst du selbst, was du dort sprichst? Niemand hatte dem ersten Königsgeschlecht Callingers die Herrschaft entrissen. Sie hatten sie selbst aufgrund ihrer Unfähigkeit verloren und die Götter hatten die Gunst, die sie einst gegeben hatten, wieder genommen.
Sorgenvoll betrachtete sie ihren Bruder, der sich immer mehr in Rage redete und von der glorreichen Vergangenheit, die sie unter Callinger gehabt hatten, sprach. Aber sie sah, dass viele ihm aufmerksam lauschten. Zu viele.
Erst jetzt wurde Sinamet die Tragweite von Lurrveds Worten bewusst und das, worauf einige diese Legitimation beziehen würden. Sie las die Antwort im Verhalten ihres Bruders und in dem fieberhaften Glanz seiner Augen.
Ist es das, was ihr wolltet, als ihr Lurrved diese Worte überbringen ließet? Ein neuer Thronstreit, bei dem mein Stamm sich erneut auf das Recht beruft, den König zu stellen?
Doch die Götter schwiegen und Sinamet fühlte sich ratloser als zuvor.
Immerhin hatte Lurrved gesagt, dass sie sich auf Callinger zurückerinnern und ihren damaligen Platz in der Geschichte wieder einnehmen sollten. War es wirklich das, was er gemeint hatte? Und wenn es so war, wer war sie denn, dass sie Missfallen an diesen Worten der Götter ausdrücken durfte?
Nur warum hörten sich Lejkars Worte dann so falsch an?
»Aus diesem Grund«, kam er zum Ende seiner Rede, »fordere ich den Stammesfürsten auf, sich einer Probe der Götter zu unterziehen.«
Nein! Sie hatte es geahnt. Oh Lejkar, du bist doch genauso ein Vertreter des Alten. Wie kannst du dann hoffen, den Neuanfang einzuleiten? Es waren die Jungen, auf die sie bauen mussten. Schalwa, Dillenat, Schirewel und die Kinder, denen sie Pirelets Geschichte erzählt hatte. Sie waren es, die die Zukunft in ihren Händen hielten. Und alles, was sie als alte Generation noch tun konnten, war es, ihnen den Weg zu bereiten, damit die Grenzen ihrer Wahrnehmung das Fundament waren, auf den die Jugend die Zukunft erbauen konnte.
Sie sah zu Netinod. Die Augen des Stammesfürsten hatten sich kurz geschlossen, als ob er sich seinem Schicksal ergeben würde. Ein einziger Moment der Schwäche. Und es war einer zu viel.
Lejkars Forderung wurde aufgenommen und Sinamet musste nicht auf das Ergebnis der Abstimmung warten, um zu wissen, dass ihr Bruder seinen Willen bekommen würde.
Das Ergebnis war noch nicht einmal knapp.
Ein Götterurteil. Hatte Netinod das geahnt, sowie er nach dem Strohhalm gegriffen hatte, als die er ihre Botschaft deutete?
Der Stammesfürst der Castoman stand auf.
»Einverstanden«, meinte er mit rauer Stimme, »ich verlange einen Zweikampf und da du diesen Vorschlag vorgebracht hast, Lejkar, werde ich gegen dich antreten.«
Zugegeben, das hatte Sinamet nicht erwartet. Netinod konnte nicht erwarten, diesen Zweikampf zu überstehen. Auch ihr Bruder war nicht der Jüngste, doch war er sehr viel trainierter und kräftiger als der Stammesfürst. Weshalb also hatte Netinod ausgerechnet einen Zweikampf vorgeschlagen? Es gab genug andere Möglichkeiten, wie die Götter ihren Willen offenbarten, in denen er sein eigenes Leben nicht aufs Spiel setzte. Oder rechnete er bereits damit, dass sein Nachfolger, ihn aus dem Weg räumen würde und wollte lieber ehrenvoll sterben?
»Einverstanden, in welcher Disziplin?« Ihr Bruder lächelte siegesgewiss.
Netinod räusperte sich. Seine Stimme zitterte leicht. »Im Kajak.«
Lekjar nickte. »Schwester, zu welcher Zeit soll der Kampf angesetzt werden?« Sie war sich sicher, dass er sie mit Absicht fragte, um ihre Reaktion erfahren zu können. Sinamet tat ihm den Gefallen, ihre Maske fallen zu lassen, nicht.
»In den Morgenstunden, kurz bevor sich die Sonne aus ihrem Bett erhebt. Es soll als Zeichen des Aufbruchs in die neue Zeit gewertet werden«, antwortete sie ruhig, auch wenn ihr Inneres rebellierte.
Eine neue Zeit brach an. Aber bedeutete das auch eine bessere? Und woher wusste sie denn überhaupt, was besser war? Wonach sollten sie streben inmitten ihrer zerfallenen Welt?
Seid einig.
Aber wie?
Der Mond stand hoch am Himmel, als Sinamet die Ruhe ihrer Hütte und ihres Bettes aufsuchen konnte.
Sie hatte das Gefühl, schon lange nicht mehr so viel geredet zu haben, wie in den letzten Stunden. Alle möglichen Menschen hatten sich an ihre Existenz erinnert und gemeint, sich bei ihr einschmeicheln zu müssen. Dann war da noch die abendliche Zeremonie gewesen, welche die Festlichkeiten offiziell eröffnet hatte. Der ganze Stamm hatte sich versammelt und die Panti hatten am Feuer die Namen derjenigen Jugendlichen verlesen, die in die Gemeinschaft aufgenommen waren, sowie die derjenigen, welche die Götter wieder aus ihr gerissen hatten. So hatte Sinamet auch vom Tod einiger ehemaliger Freunde ihrer Kindheit erfahren. Diejenigen, mit denen sie aufgewachsen war, starben langsam weg, und von denen, die anschließend vor die Flammen getreten waren, kannte sie nur wenige. Auch Sinamet war inmitten der Gemeinschaft an das Feuer gegangen und hatte die traditionelle Frage »Welche Ehre hast du hinzugetan?« beantwortet. Lange Jahre hatte sie eine ähnliche Antwort gegeben, die mit ihrem Dienst an den Menschen ihres Dorfes, zusammenhing. Jetzt nicht.
»Ich habe einen Teil der Wahrheit, die verloren war, zurückgebracht und so dem Stamm Ehre hinzugetan«, hatte sie gegenüber der schweigenden Menge verkündet.
»Du hast Ehre hinzugetan«, bestätigte diese ihr, »tue auch weiterhin Ehre hinzu.«
In den letzten Jahren war sie sich gewiss gewesen, bereits die Antwort für das nächste Jahr zu kennen. Jetzt tanzte sie inmitten der Dunkelheit einen Tanz, dessen Rhythmus sie nicht kannte.
Lurrved, ihr Bruder … Sie alle hatten auf sie eingesprochen und die Mauern fortgerissen, welche die Panti um ihr Bewusstsein errichtet hatte. All die Zeit hatte sie geglaubt, ihren Platz innerhalb der Welt zu kennen. Sie war dort glücklich gewesen in den Bergen, ihrem Dorf und mit den Menschen, die ihr vertrauten, sie mochten und sich freuten, wenn sie von ihrer Hütte zu ihnen hinabgestiegen war. Wieso konnte es nicht so sein wie all die Jahre zuvor? Zuvor hatte sie sich für eine Woche mit den Pflichten und auch den Freuden ihres Stammes auseinandergesetzt, Geschichten erzählt und gehört und war dann für den Rest des Jahres gegangen, um sich von eben dieser Woche zu erholen.
Ein Teil von Sinamet wünschte sich so sehr, einfach zurückkehren zu können zu dem Ort, der ihr eine Zuflucht gewesen war. Doch mit den Worten Lurrveds war ihre gewohnte Welt, in dessen Rahmen sie sich so sicher gefühlt hatte, auseinandergebrochen. Nicht nur hatte sich das politische Gefüge ihres Stammes verändert, sondern auch sie selbst. Die Barriere war gefallen. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Schedmasal. Schedela. Joresch. Schirewel. Und sogar der Mann, dessen Existenz sie fast völlig aus ihren Gedanken verbannt hatte: Cherew. Ihre Stimmen gesellten sich zu den anderen in ihren Kopf und sangen mit ihnen mit, erzählten von der Vergangenheit und von der Frau, die sie einst gewesen war und offenbarten so die Diskrepanz zwischen damals und heute, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sinamet mochte nicht behaupten, dass das Bild sich zum Guten geändert hatte.
Der Blick zurück war ein schleichender Prozess gewesen, der begonnen hatte mit den Fragen, die Lurrved ihr gestellt hatte.
Wieso glaubst du also, dass du jemals aufgehört hast, eine Mared zu sein? Das war seine Frage gewesen, mit der die Reise zurück in ihren Schmerz begonnen hatte.
Unter ihrer Decke ballte sie die Fäuste zu Händen. Nun hatte sie eine Antwort für ihn.
Ich habe niemals aufgehört, eine Mared zu sein, lautete diese, ich habe nur aufgehört, mich dementsprechend zu verhalten und mich selbst, so zu bezeichnen. Aber ich bin es immer gewesen.
Und das bedeutete auch, dass sie so nicht mehr an ihr früheres Leben anknüpfen konnte. Doch die Zukunft blieb ein blinder Fleck. Die aktuelle Situation bereite ihr Sorgen. Der Konflikt zwischen ihrem Bruder und Netinod konnte den Stamm nicht nur einen, sondern hatte auch die Kraft einer Spaltung.
Was wollt ihr von mir, Götter? Was ist der Weg meines Lebens? Wo gehöre ich hin?
Sie war wieder so ratlos wie an jenem Tag, als ihr Vater von ihren Plänen erfahren hatte, ihm als Vertreterin des Stammes in die Volksversammlung zu folgen und es ihr folglich verboten hatte. Vor den Scherben ihres Traumes stehend, hatte sie sich ratlos und hilflos gefühlt, nicht wissend, was sie mit ihrem Leben weiter anstellen wollte. Ähnlich erging es ihr jetzt.
Lange lag sie wach und dachte nach.
Irgendwann musste Sinamet doch eingeschlafen sein, denn sie träumte von einem Ort, an dem sie seit Jahrzehnten nicht mehr gewesen war. Die kleine Insel inmitten des Schilfs war menschenverlassen, doch im Schlamm fanden sich noch die Fußabdrücke zweier Person. Ein großes Paar und ein kleines. Sinamet hockte sich nieder und legte die Hand in die kleine Spur. Ihre Hand war größer. Langsam richtete sie sich wieder auf. Der Schilf umgab sie schützend. Einzig dunkelblaue Schmetterlinge und Libellen mit durchsichtigen Flügeln durchflogen die bläulich glänzende Wand und umtanzten Sinamet. Einst hatte dieser Ort für sie Freiheit bedeutet, jetzt spürte sie noch einen Nachhall der Leere und des Schmerzes ihres Kindseins.
Bist du dort, wenn ich zu dem Felsen gehe?
Es war die Frage eines Kindes aus dem Mund der Erwachsenen, doch an Relevanz hatte sie nicht verloren. Als Kind war sie gerannt, heute ging sie die kleine Strecke. Für ein Kind war diese Insel groß gewesen, die Frau war bald angekommen.
Auf dem Felsen, gegen den schwarze Wellen schlugen, saß jemand.
»Lurrved.«
Er lächelte. »Hast du jemand anderen erwartet?«, fragte er.
»N- Ja.«
»Jenen, dessen Namen du mir gegeben hast?«
»Du weißt es.«
Er neigte den Kopf. »Er war ein guter Mensch.«
Sinamet sah ihn dort sitzen an seiner statt. Ein Mann, der die Lebensfreude der Jugend nicht verloren hatte, und erfüllt war von der Weisheit des Alters. Es war eine seltsame Freundschaft gewesen. Der Alte und das kleine Mädchen, aber es war die reinste und tiefste gewesen, die sie je gepflegt hatte. Seinetwegen war sie eine Panti geworden. Irgendwie hatte sie einen Teil von ihm in den Fremden in ihrer Quelle wiedererkannt und ihm seinen Namen gegeben. Und jetzt waren sie hier. An ihrem damaligen Treffpunkt.
»Wie viel weißt du noch?, fragte sie mit rauer Stimme, »über mich?«
»Ich weiß so viel, wie für das Erfüllen meines Auftrages von Nöten ist.« Es wirkte so entspannt, wie er mit überkreuzten Beinen auf dem Felsen hockte und sie musterte. Ab und an schlugen die Wellen höher und Spritzer benetzten seine Kleidung. Aber Lurrved rührte sich nicht.
»Dein Auftrag. Er ist noch nicht vorbei?«, vergewisserte sie sich.
»Nein.« Sie hatte diese Antwort erwartet. Andersfalls wäre er nicht hier, nicht an diesem Ort, der ihr einst so viel bedeutet hatte.
Stille. Er musterte sie, wartete, bis sie etwas sagte.
Aus all den Fragen ihres jetzigen Lebens stach eine hervor.
»Wessen Mared soll ich sein?«, wisperte sie.
Ein Lächeln strich über Lurrveds Gesicht. Er stand auf dem Felsen auf und machte einen weiten Satz bis ans Ufer. Die Schilfrohre knackten bedrohlich unter seinem Gewicht. Dann war er vor ihr. Sanft hob er ihr Kinn an, bis er ihr direkt in die Augen blicken konnte.
»Beginne mit denen, deren Mared du einst und immer warst.«
Tränen stiegen in Sinamets Augen auf. Es war lange her, dass sie geweint hatte, doch jetzt verklebten sie ihre Wimpern und rannen ihre Wangen hinab. War es wirklich das, worauf es hinauflief? Nach all den Jahren … Die Kinder von damals waren herangewachsen und hatten den Worten ihrer Mared nicht mehr gelauscht. Jetzt waren sie erwachsen … und vielleicht alt genug, um ihr erneut zuzuhören. Vielleicht. Und was war, wenn sie es nicht tun sollten?
»Was ist meine Botschaft?«
Er ließ ihr Kinn los. »Ich kann dir deine Botschaft nicht nennen, Sinamet. Jeder Mensch trägt seine eigene und muss sie für sich selbst allein entdecken. Ich kann dir nur sagen, dass das, was du zu geben hast, wertvoll ist. Vergiss es nicht.«
Das war nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte. Es hätte so vieles einfacher gemacht, wenn er ihr einfach ihren Weg, ihre Zukunft klar benannt hätte. Aber er tat es nicht und sie wusste, es wäre sinnlos, tiefer danach zu fragen.
Unter Tränen lächelte sie. »Ich gab dir damit den richtigen Namen. Heilungsbringer bedeutet dein Name und Heilung hast du mir gebracht.«
»Genauso wenig wurde dir dein Name grundlos gegeben.«
»Wahrheit ist mein Schild«, murmelte Sinamet nachdenklich die Bedeutung.
»Und nicht nur deines«, fügte er hinzu.
Sie nickte, denn sie wusste, was er damit aussagen wollte. »Wann soll ich gehen?«
»Breche morgen auf, bevor der Kampf beginnt«, schlug er fort. »Das ist mein Rat.« Es war vernünftig, auch wenn sie das Fest dadurch würde früher verlassen müssen. Das war in Ordnung. Sie hatte die Worte am Feuer gesprochen und der Tradition sowie dem Willen der Götter somit genüge getan. Gewänne Netinod den morgigen Kampf, so würde er sie an seiner Seite halten wollen. Und ihr Bruder … Sie wusste nicht, was er im Falle eines Sieges für sie plante. Ehrlich gesagt, wollte sie es auch gar nicht wissen.
»Hast du noch einen weiteren Rat für mich?«, fragte sie stattdessen Lurrved.
Sanft legte er ihr die Hand auf die Schulter.
»Du musst das Tor des Mondes finden, wenn die Zeit reif ist.« Er lächelte.
„Das Tor …“
Sinamet erwachte.