Iderra, das Segment Ulaaruk, der achte Tag vor Traapur
Cherew versuchte, nicht zu zeigen, wie ihn die Situation überforderte. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen. All die Geschichten, die Legenden, die man sich in seiner Familie erzählt hatte, waren nur winzige Bruchstücke eines viel größeren Ganzen gewesen. Seine Mutter hatte ihm von den Palmenhainen berichtet, grüne Oasen, hinter denen sich die im grellen Sonnenlicht flimmernde Stadtmauer abhob, doch all ihre Worte hatten die Farben und die Geräusche nicht einfangen können, die ihn jetzt überschwemmten.
Iderra war nicht zu vergleichen mit der Pracht Kemuliaans. Wo die Hauptstadt Kerajaans prächtig gewesen war, wirkte Iderra elegant und wo die weitaus größere Stadt imposant gewesen war, war diese zierlich.
Da waren Türme, die sich mit goldenen Dächern elegant in die Luft schraubten, Pyramiden aus hellem Sandstein und Zinnen, in welche bedeutende historische Ereignisse geprägt worden waren.
»Macht Platz für den Botschafter Kerajaans«, riefen die Ausrufer, die auf ihren Rappen dem Tross voranritten, obgleich die Menschen längst zur Seite gewichen waren. Sie säumten die Straße nach Iderra, reckten die Hälse und starrten den Fremden an, der gekommen war, um sie an ihre eigene Unterlegenheit zu erinnern. Manche von ihnen wirkten neugierig, andere geblendet von dem Glanz und der Glorie des Trosses und viele wirkten von Hass erfüllt.
Iderranische Soldaten standen an der Straße und hielten die Masse zurück. Beruhigt war Cherew deswegen noch lange nicht.
Aufmerksam schritt er an der Seite seines Herrn, der hoch im Sattel seines Hengstes aufragte. Pujabaat blickte weder nach links, noch nach rechts, als hätte er es nicht nötig, die Menschen auch nur eines Blickes zu würdigen.
Cherew dagegen musterte sie ganz genau. Nicht nur, weil er nach möglichen Gefahren Ausschau hielt, sondern ebenso da an diesen Ort und seine Bewohner so viele Sehnsüchte seines Lebens verknüpft waren. Instinktiv prüfte er genau, inwieweit die Menschen den Geschichten und seinen eigenen Vorstellungen entsprachen. So gerne würde er mit ihnen sprechen, herausfinden, ob sie seinem eigenen Volk wirklich so sehr ähnelten, wie es immer behauptet wurde.
Iderra. Selbst der Himmel über der Stadt wirkte anders, größer und irgendwie strahlender, als ob das Blau hier im Süden mehr Strahlkraft besaß.
In diesem Moment wollte er nur fort von dem Herrn, dem er verpflichtet war und eintauchen in die Stadt, durch deren Tore sie soeben einritten. Er wollte verschwinden in den kleinen Gassen fern der prächtigen Hauptstraßen und Alleen, durch die sie ritten und das Viertel der Iderri suchen. Dort, wo diejenigen seines Volkes lebten, die aus der neuen Heimat zurück in die ursprüngliche gekehrt waren und so den Kreis geschlossen hatten. Acht verdammte Segmentjahre. Endlose Jahre, in denen er die eigene Sprache nur in seinen Träumen gesprochen hatte und ihn allein die Hoffnung auf eine Heimkehr die ihm fremden Sprachen der Länder hatte lernen lassen, in die ihn sein Sklavendasein getrieben hatte.
Und was ist, wenn sie dich auch hier nicht wollen?, flüsterte die Stimme in seinem Inneren. Dieses nervige Ding, das immer lauter geworden war, je näher sie dieser Stadt gekommen waren.
Seine Hand ballte sich um den Knauf seines Schwertes. Doch diese Stimme konnte er mit Waffengewalt nicht bekämpfen, sprach sie doch die tiefsten Sorgen seines Herzens aus.
Es kann doch nicht so schwer sein, eine Heimat und ein wenig Frieden zu finden?, dachte er, Viele andere haben das zuvor geschafft. Warum also nicht ich?
Ja, hast du denn deinen Fluch vergessen?, säuselte die Stimme.
Es gelang ihm einfach nicht, sie zu ignorieren. Vielleicht behielt sie ja doch recht.
Sie wurden bis zum königlichen Palast geleitet, der sich in der Mitte der Stadt auf einem Hügel erhob, sodass es von dort einen hervorragenden Ausblick über die Stadt und das umliegende Land gab. Dort wurden sie vom König und seiner Familie erwartet. Selbst Cherew bemerkte, dass es seinem Herrn missfiel, erst hier empfangen zu werden. Es war eine Machtdemonstration des Königs, der somit die Positionen klargestellt hatte. Dadurch, dass Martik Arra ihn hier empfangen hatte, war er der Mächtigere. Der Ort einer Unterhaltung besaß für zwei ebenbürtige Unterhaltungspartner einen erstaunlichen Wert. Immerhin so viel politische Erfahrung besaß Cherew. Er erkannte auch, wie ähnlich die beiden sich in ihrem Gebaren waren.
Martik Arra und Pujabaat waren in demselben Alter, galten beide als erfahrene Feldherren und legten viel Wert auf die Wahrung ihrer Stellung.
Der König stand auf der Treppe, die ins Innere des Palastes führte, neben ihm standen seine Ehefrau und seine drei Söhne, umrahmt war er von seiner Leibwache und hinter ihm drängten sich Dutzende Würdenträger.
»Seid uns Willkommen, Gesandter des Reiches Kerajaan«, begrüßte Martik Arra die Besucher. Seine Frau klatschte in die Hände. Diener eilten herbei, in den Händen trugen sie Tablette mit Schalen voller Früchte und Krügen, in denen tiefroter Wein schwamm.
Cherew ließ sich einen Becher geben und nippte vorsichtig daran, bevor er ihn an Pujabaat weiterreichte. Es war ihm gleichgültig, ob er damit den König in seinen Empfindungen beleidigte. Seine Aufgabe war es, das Leben seines Herrn zu schützen. Solange wie er nicht aus seinen Diensten floh, würde er seine Pflicht erfüllen, selbst wenn ihm das zunehmend schwerfiel.
»Ich nehme die Gastfreundschaft Iderras dankbar an«, erwiderte Pujabaat, nachdem er seinen Becher an Cherew zurückgereicht hatte. »Und überbringe die Grüße meines Kaisers und ein Geschenk.« Er wandte sich im Sattel um und winkte einen der zahlreichen Bediensteten in seinem Gefolge herbei. In den Händen hielt er eine Truhe, welche er nun vor den König brachte. Dieser bedeutete seinen Wachen, den Mann durchzulassen. Drei Stufen unterhalb des Königspaares stellte er die Truhe ab und öffnete sie.
»Man berichtete mir, dass Ihr ein begeisterter Sammler historischer Landkarten seid. Unsere Archivare haben einige der schönsten ausgewählt, damit sie Euch ein Andenken an unsere gemeinsame und glorreiche Geschichte seien.«
Cherew hatte die Karten nicht gesehen, aber er war sich sehr sicher, dass sie Teil einer Botschaft waren, welche der Kaiser Kerajaans dem rebellischen König überbrachte. Vermutlich würden sie die Abhängigkeit Iderras von Kerajaans, sowie die Macht und den Einfluss des Großreiches betonen.
»Habt Dank für Euer Geschenk«, ergriff Königin Tsagi Anat das Wort. Sie hatte eine sanfte Stimme, die zugleich durchdringend war. Vor dieser Frau, dachte der Leibwächter, musste man sich in Acht nehmen. »Wir haben ebenso Gaben, welche Euch eine Freude und Erinnerung seien sollen.«
Auf ihr Zeichen hin traten zwei Dienerinnen vor, welche jeweils eine reich verzierte Truhe trugen. In diesen befanden sich ein in rotes Leder gebundenes Buch, auf den in goldenen Lettern der Titel Eine Geschichte der Stadt Iderra, ihrer Wissenschaften und Erfindungen prangte. Es war eine simple Bezeichnung für ein Werk, was vermutlich umso ideologischer und verherrlichender war. Das zweite Geschenk war ein Kunstwerk von sieben vergoldeten Pyramiden, die über- und nebeneinandergestapelt waren. Die Inschriften konnte Cherew nicht lesen.
»Ich bin mir sicher, dass diese großartigen Zeugnisse der glorreichen Kultur und Geschichte Iderras den Kaiser erfreuen werden.« Pujabaat hatte eindeutig erkannt, weshalb ihm ausgerechnet diese Geschenke überbracht worden waren.
»Nun, dann werdet Ihr sicher ein Bad und die Ruhe Eurer Gemächer wünschen, nicht wahr?«
Tsagi Anat lächelte und breitete die Arme aus, ganz die freundliche Gastgeberin.
Pujabaat ließ sich elegant aus dem Sattel gleiten. Sogleich eilte ein Junge heran, der die Zügel entgegennahm und das Pferd davon führte. Das berittene Gefolge tat es ihm gleich.
Auf dem Hof war ein kurzer Augenblick des Aufruhrs, während die Pferde weggebracht wurden, und die Männer sich ordneten. Cherew war umso aufmerksamer, auch wenn er sich innerlich fortsehnte.
Doch bald, da war er sich sicher, würde er erfahren, weshalb Pujabaat ihn eigentlich mitgenommen hatte.
Tatsächlich geschah das schneller, als Cherew gedacht hatte. Er war für den heutigen Tag in der zweiten Wachgruppe eingeteilt, welche sich nur auf Abruf bereithalten sollte und sich ansonsten erholen durfte. Zusammen mit seinen Kameraden waren ihm Zimmer in der Nähe der Gemächer des Botschafters zugeteilt worden. Es waren großzügig ausgestattete Räume. Jedem Soldaten waren eine Liege und eine große Truhe zugeteilt worden, die Cherew kaum zur Hälfte füllen konnte.
Tentarnet, der Anführer von Pujabaats Leibwache, rief sie zusammen und teilte ihnen ihre genauen Befehle mit.
»Denkt immer daran, dass wir hier unter Feinden sind«, schärfte er ihnen ein, »Es gibt radikale Gruppen, deren größter Triumph die Ermordung des Botschafters wäre. Der König ist sich dieser Problematik bewusst und hat Pujabaat weitere Soldaten zu seinem Schutz zugeteilt. Liraan wird die Koordination zu ihnen übernehmen.« Liraan war Tentarnets Stellvertreter und rechte Hand. Zugleich war er ein hervorragender Organisator und aufmerksamer Beobachter. Und er misstraute Cherew.
»Von uns wird dennoch mindestens eine vollständige Gruppe für die Sicherheit des ehrwürdigen Pujabaat verantwortlich sein«, fuhr Tentarnet fort. Er entrollte eine Papyrusrolle und breitete sie auf dem kleinen Tisch inmitten des Raumes aus. »Der genaue Plan für die nächsten Tage ist hier aufgeführt.«
Er nickte und gab ihnen somit die Erlaubnis, sich die Aufzeichnungen anzusehen. Es gab eine präzise Skizze von Pujabaats Gemächern und den Orten, an denen Tentarnet Wachen aufstellen ließ und Niederschriften der nächsten Wachaufteilungen. Aber Cherews Name war nicht aufgeführt. Noch einmal las er über die Namen. Nichts.
Ein wenig überrascht ging er zu Tentarnet, der die Situation beobachte und nachzudenken schien.
»Herr?«, fragte er, »was ist meine Aufgabe?«
Der Kerajaaner ließ ihn warten, bevor er auf ihn reagierte.
»Cherew.« Er meinte, einen Hauch von Missbilligung in der Stimme des Leibwächters zu hören. Doch statt einer Erklärung reichte er ihm eine kleine Papyrusrolle. »Anweisung des Botschafters.«
Cherew runzelte die Stirn und entrollte das Schriftstück.
Zwei dürre Sätze, mehr stand dort nicht. Der Auftrag war denkbar simpel.
Er grinste, ging an Tentarnet und seinen Kameraden vorbei und machte sich auf den Weg.
Es wurde Zeit, die Stadt zu erkunden.
Cherew war froh, aus dem Palast in die Stadt zu kommen. Früher oder später hätte er sich wahrscheinlich hinausgeschlichen, in sofern kam ihm dieser Auftrag gut gelegen. In den frühen Morgenstunden sollte er einen Mann treffen. Ein simpler Auftrag, bei dem kaum etwas schief gehen konnte. Und, bis dahin hatte er freie Zeit zur Verfügung, um Informationen zu sammeln.
Er hatte die Farben abgelegt, die ihn als Mitglied der Leibwache des Botschafters auswiesen und wirkte nun wie ein gewöhnlicher Iderraner. Nachdem ihm während des Einzuges so viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden war, wurde er nun kaum beachtet. Es war ein wundervolles Gefühl.
Jetzt verstand er ein Stück weit, wieso Pujabaat ihn gekauft hatte: Er konnte sich innerhalb Iderras unauffällig bewegen. Ein Kerajaaner fiel allein aufgrund des unterschiedlichen Aussehens sofort auf. Cherew mochte kein Iderraner sein, doch er konnte sich sofort als einer ausgeben, denn sein Volk stammte ursprünglich aus Iderra. Nach der Zerstörung der Handelsmetropole durch Kerajaan dreihundert Segmentjahre zuvor waren einige, die sich nicht unterwerfen wollten, über das Meer auf die Insel Callinger geflohen und hatten sich dort niedergelassen. Mit der Zeit war eine neue Volksgruppe entstanden. Die ursprünglichen Einwohner Callingers, die Puidan, bezeichneten sie als Iderri, derweil die Einwohner Iderras sie Dardzer‘ory nannten, was fremdgeworden hieß. Sie selbst besaßen keine Eigenbezeichnung.
Weder gehörten sie wirklich in die Wüsten Iderras noch in die Wälder Callingers. In ihre Kultur und Lebensweise hatten sie Elemente beider Welten integriert und mit Neuem kombiniert.
Je weiter er sich bewegte, desto mehr spürte er die Sehnsüchte in sich erwachen, die er lange zurückgehalten hatte. Cherews Hände waren schwitzig vor Nervosität.
Bist du etwa ein kleiner Junge, dem man Süßigkeiten vor die Nase hält?, fragte die Stimme in seinem Inneren hämisch.
Dieses eine Mal gelang es ihm, sie zu ignorieren und zur Seite zu schieben. Überrascht stellte er fest, dass sie tatsächlich schwieg.
Einenen Moment hielt er inne, atmete tief ein und aus und versuchte die Eindrücke der Stadt aufzunehmen. Die Gerüche. Die Geräusche. Das Leben.
Dann entschied er sich, das Viertel seines Volkes aufzusuchen.
Der Großteil seines Volkes war weiterhin in Callinger beheimatet, doch im Laufe der Zeit waren auch einige nach Iderra zurückgekehrt und hatten sich in der einstigen Heimat niedergelassen. Dort blieben sie zumeist unter sich und hatten eine eigene Gemeinschaft gegründet, die weitgehend unabhängig von den Iderranern existieren konnte.
Sie waren Cherews Ziel.
Seitdem er aus Callinger geflohen war.
Er spürte, wie sich seine Schritte von selbst beschleunigten, als sein Geist ihn zur Eile drängte. Nicht, dass er keine Zeit gehabt hätte – Pujabaats Auftrag konnte bis zum Morgengrauen warten – aber all die Träume der vergangenen Jahre ergossen sich in diesem Moment in ihm, als das Ziel auf einmal greifbar zu werden schien. Was seine Eltern wohl denken würden, wenn sie ihn jetzt sähen? Oft hatte seine Mutter ihm von hier erzählt, es war immer ein Wunsch von ihr gewesen, Iderra einmal zu sehen. Weder sie noch sein Vater hatten jemals hierhergefunden.
Das ist für dich, Mutter, dachte er, sowie er durch den mit Weinreben umrankten Torbogen trat, hinter dem das Viertel der Iderri begann.
Die Mischung der Kulturen von Iderra und Callinger zeigte sich auch in der Architektur und Lebensweisen von Cherews Volk.
Die kunstvollen Säuleneingänge Iderras waren mit den für Callinger typischen Holzschnitzereien verbunden und statt Hausgötzen standen in den Nischen neben den Haustüren eine Schale Wasser und eine mit Kräutern. Die Kleidung der Menschen, die auf den Straßen unterwegs waren, glich aufgrund der klimatischen Bedingungen eher jener der Iderraner, doch aus offenen Fenstern drang der Geruch callingeranischer Fischgerichte und würziger Erbsensuppe.
Es war für ihn schwer, die Größe dieser Siedlung einzuschätzen. Wie viele Iderrani mochten hier leben? Fünfhundert? Jedenfalls mehr, als er sie seit langer Zeit zuletzt gesehen hatte.
Cherew entschloss sich, zuerst eine Taverne anzusteuern. Auch diese vereinte Elemente aus Iderra und Callinger zugleich. Ein Torbogen durchschnitt eine Mauer aus dunkel angestrichenem Stein und führte ins Innere. Cherew gab sein Kurzschwert und seinen Dolch an einen der beiden Männer, die vor dem Bogen wachten. Das war ein Brauch, den sein Volk von den Puidan übernommen hatte. Eine Taverne war ein Ort der Erholung, wo jeder gleichberechtigt sein musste und keiner einen waffentechnischen Vorteil gegenüber anderen haben durfte. Das Hineinschmuggeln von Waffen galt als verpönt. Natürlich kam es dennoch dazu.
Cherews Herz hämmerte und er zögerte kurz. Durch den offenen Torbogen sah er Menschen, die lachten, sich bewegten und aßen. Und die Stimmen, die zu ihm schallten, sprachen seine Sprache.
Die Worte schlugen eine emotionale Saite in seinem Inneren an, die er lange nicht mehr gespürt hatte und auf einmal erhielt die vage Sehnsucht nach einem Ort, an dem er einfach sein und einmal ankommen konnte, ein Gesicht.
Er atmete einmal tief ein und aus. Dann trat er ein.
Das Gefühl von Heimat verstärkte sich nur. Der charakteristische Geruch von Kiefern hing in der Luft und Cherew erkannte Kohlebecken, auf denen diese mutmaßlich verbrannt wurden. Allein das verriet ihm, dass diese Taverne eine der besseren war. Kiefern waren im heißen Umland Iderras nicht heimisch und mussten importiert werden.
Mit einem Lächeln bemerkte er den Speer des Hauses, der über dem Torbogen hing. Unzählige Generationen von Gästen hatten ihre Initialen, Zeichen oder einfach Kerben in das Holz geritzt, sodass dieser nun im Kampf nicht länger zu gebrauchen war. Vermutlich hatte der Hausherr diesen zuletzt, um ihn in seiner Konsistenz zu retten, außer Reichweite gehängt.
Die Taverne war weitgehend offen gestaltet. Eine Mauer umgab den rechteckigen Innenhof, dessen Mitte wiederum durch eine kleine Kampfarena geprägt war, um die herum man Liegen drapiert hatte. Gekocht wurde nicht nach der Art der Iderraner – verdeckt –, sondern unter den Augen aller, damit jeder sich davon überzeugen konnte, kein Gift ins Essen gemischt zu bekommen. Es stank nach Rauch, Schweiß, Erbrochenem und selbst Blut, all jenem, was Cherew auch erwartet hatte.
Und kurz nachdem er eingetreten war, reichte ihm jemand ein Trinkhorn. Es war lange her, dass Cherew ein solches zuletzt in den Händen gehalten hatte. Die Völker des nördlichen Kontinents bevorzugten Krüge, Schläuche oder Becher.
Er hob es an den Mund und nahm einen tiefen Zug. Der würzig-süße Geschmack überraschte ihn. Weshalb eigentlich? Es war nicht so, als ob Met auf Callinger nicht weit verbreitet wäre. Vorsichtig nahm er einen weiteren Schluck, dieses Mal genießender. Ja, er erinnerte sich an frühere Tage, wo er so manches Horn am abendlichen Lagerfeuer geleert hatte. In seinem Inneren breitete sich ein Gefühl aus, was er fast als Glück bezeichnen wollte.
»Du bist länger aus der Heimat fort, nicht wahr?« Oh, diese Laute! Diese Sprache. Ebenso wie die Kultur hatte auch die Sprache Einflüsse aus Callinger und Iderra aufgenommen und daraus zugleich etwas Neues gemacht.
Cherew blickte auf. Der Mann, welcher ihm das Horn gereicht hat, stand noch immer neben ihm. Zuvor hatte er ihm kaum mehr als einen flüchtigen Blick geschenkt, doch jetzt musterte er ihn ausführlicher. Er war in Cherews Alter, ein Mann, der vom Alter gebeugt ging und mit der Zeit ergraut war. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Doch trotz des unaufhaltbaren körperlichen Verfalls blitzten die Augen seines Gegenübers vergnügt und aufmerksam. Sicherlich würde man ihm, sobald er die Taverne verließ, einen Speer aushändigen. Solch ein Mann träumte vom Schlachtentod, denn ein friedlicher Tod im Alter war unehrenhaft.
Cherew erwiderte sein Lächeln nicht. Er öffnete den Mund und befürchtete schon, dass er in den letzten Jahren seine eigene Sprache verlernt hatte, doch die Worte kamen ihm so leicht über die Lippen. »Ich dachte, das hier ist die Heimat.«
Weshalb solltest du sie auch vergessen, Narr? Es ist die Sprache, in der du träumst.
Er ballte die Hände zu Fäusten. War es ein schlechtes Zeichen, dass die ihn quälende Stimme ausgerechnet jetzt zurückgekehrt war? Wie lange war sie fort gewesen. Zehn Minuten?
Der Mann zuckte mit den Schultern.
»Ob hier oder dort, wirklich einig ist sich niemand. Fragst du hundert Menschen in Callinger, werden dir achtzig sagen, dass es Iderra ist. Tust du dasselbe hier, erhältst du die gegenteilige Antwort. Wir waren schon immer ein kompliziertes Völkchen.« Er wirkte, als ob ihm die letztendliche Antwort reichlich egal war. »Also, wie lange bist du aus Callinger fort?«
»Acht Segmentjahre«, antwortete Cherew wahrheitsgemäß. »Und kaum auf dem Kontinent bin ich in die Hände von Sklavenhändlern geraten.« Er hatte gelernt, dass man das Vertrauen eines Fremden am leichtesten durch eine Mischung aus Wahrheit und Weglassung erlangte. Und Cherew wollte Informationen - ebenso wie Pujabaat. Es konnte nicht schaden, wenn er ein paar zusätzliche sammelte.
Sein Gesprächspartner hob sein Horn und stieß es gegen Cherews. »Das nennt man wohl Pech.«
Beide nahmen sie einen Schluck. Süß rann der Met seine Kehle hinab. »Das kann man wohl sagen.«
»Und jetzt bist du deinem Herrn entflohen?« Es war keine fernliegende Frage. Cherews Volk kannte die Sklaverei nicht in der Art, wie die Kerajaaner sie auslebten. Verbreitet war nur eine Kriegsgefangenschaft, die in eine zeitlich begrenzte Sklaverei führen konnte, doch die wenigsten Besiegten gaben dem Sieger diesen Triumph. Der Versuch einer Flucht oder Selbstmord war eine Frage der Ehre. Cherew dagegen war auf der Flucht vor dem eigenen Scheitern und der Vergangenheit gefangen genommen worden, er konnte nach seinem Tod nicht auf einen Ehrenplatz an der Seite seiner Vorfahren hoffen. Deshalb musste er weiterleben, bis seine Schuld gesühnt war.
»Der betrinkt sich und hofft, hier den großen Reichtum zu finden«, log er nun. Er hatte Pujabaat noch nie betrunken erlebt und bezweifelte, dass sein Herr an so etwas Vergnügen empfand. Bei einer Gier nach Reichtum war er sich nicht sicher. Sicher schätzte er Luxus als Privileg und Selbstverständlichkeit seines Standes, doch war ihm das zumindest nicht die erste Intention. Cherew kannte seinen Herrn einfach viel zu wenig, um ihn wirklich einschätzen zu können.
»Dann solltest du dasselbe tun.« Von einem vorübergehendem Bediensteten nahm sein Gesprächspartner einen gefüllten Krug und schenkte Cherew Met nach. Er war wirklich ein aufmerksamer Beobachter, was nachteilhaft für ihn war. Es war eine schlechte Idee gewesen, seine Suche hier zu beginnen. Der Alkohol war ein Laster, dem er nie wirklich hatte entkommen können. Cherew spürte bereits, wie er begann, Wirkung zu ergreifen und ihn danach drängte, weiter zu trinken.
Und warum solltest du dich nicht betrinken? Jetzt, wo du Heimat gefunden hast?, flüsterte die Stimme in seinem Inneren, vergiss alles andere und lebe den Augenblick.
So nahm er noch einen Schluck, während er seinen Blick zum Kampfring schweifen ließ, wo sich soeben ein Mann und eine Frau im Tonscherbentod maßen, einem traditionellen Spiel und Wettkampf von Cherews Volk. Hierbei erhielt jeder Kämpfer einen mit Essig gefüllten Tonkrug, den er möglich geschickt als Waffe einsetzen musste. Hier hatten die Gegner ihre Krüge beide zerdeppert und hielten nun scharfkantige Scherben in den Händen, mit denen sie sich die nackten Oberkörper zerschnitten. Cherew schätzte die beiden als ebenbürtige Gegner ein. Der Mann war weitaus muskulöser und kräftiger als seine Gegnerin, doch diese war dafür flinker und wendiger. Das Spiel wurde in unterschiedlichen Härtestufen gespielt, doch hier würden sie sicherlich nicht auf Leben und Tod kämpfen.
Der Alkohol, die Beobachtung des Kampfes, all das bildete eine schwindelerregende Masse, welche die Selbstbeherrschung des Soldaten angriff. Vielleicht war es der Versuch, den Erinnerungen zu entkommen, die dieser Ort zwangsläufig aufkommen ließ, welche ihn auch das zweite Horn bis zu Neige leeren ließ. Außerdem linderte der Alkohol den beständigen Schmerz in seinem Bein, herrührend von einer alten Kampfwunde.
Er löste seinen Blick vom Kampf und musterte seinen Trinkkumpan, der genauso die Kämpfenden beobachtete.
»Cherew«, stellte er sich vor.
»Nuruy«, lautete die Antwort.
»Was ist geschehen in den letzten acht Segmentjahren?«, fragte er, »man kriegt nicht viel mit als Sklave.« Noch kamen ihm die Worte flüssig über die Zunge. Wenn er weiter trank, würde sich das bald ändern
»Wenig und viel, wie so meistens in der Politik. Die Puidan bekriegen sind weiterhin und ihr König hält sich immer noch mehr schlecht als recht auf dem Thron.« Natürlich. Wie hatte er auch jemals glauben können, dass sich die letzten acht Segmentjahre irgendetwas verändert hatte?
In Nuruys Blick lauerte etwas und Cherew erkannte, dass sein Gegenüber versuchte, seine eigene Position herauszufinden. Er hatte lange genug zwischen Politikern gelebt, um zu verstehen, wie Menschen versuchten, an Informationen zu gelangen.
Gespielt gleichgültig blickte er in sein erstaunlich leeres Horn. »Dann kümmern sie sich immerhin nicht um unser Volk. Sollen sie ihren Thron in Tsarem haben, ich will nur die Pinienwälder im Spätsommer.«
Hinter ihnen toste Jubel. Der Kampf schien beendet zu sein.
Nurury seufzte. »Und die taubedeckten Wiesen am Frühmorgen, während der Nebel von den Seen aufsteigt.« Für einen Augenblick starrten sie beide in die Ferne, verloren in den Erinnerungen an eine Heimat, von der sie beide kein Teil mehr waren. »Hast du gehört, dass sie hier ist?«, fragte Nuruy plötzlich.
»Wer?« Cherew bemerkte, dass er mittlerweile selbst nach einer Bedienung Ausschau hielt, um sein ziemlich leeres Horn nachfüllen zu lassen. Nun war es doch auch egal, oder?
»Die Schwester des Königs, Schedela.«
Cherew verschluckte sich an seinem Met. Er hustete. Seine Gedanken kreisten wirr. Was bei den verlorenen Stätten suchte Schedela in Iderra? Wieso sollte sie riskieren, ihre in den letzten Jahren erkämpfte Position in Callinger aufgeben, nur um hierherzukommen?
Nuruy deutete seinen Gesichtsausdruck richtig. »Es beschäftigt dich also doch.«
»Natürlich tut es das«, knurrte Cherew im Versuch, seinen Fehler zu überspielen, »Völlig gleich, was sie hier sucht, in Callinger kommt es zu einem Ungleichgewicht, aus dem im Zweifel wir als Verlierer hervorgehen.« Beim Versuch, sich auf der Kopfstütze einer Liege abzustützen, verfehlte er diese und stolperte zur Seite.
Du Narr. Eigentlich weißt du es doch besser. Wie willst du jetzt deinen Herrn beschützen? Oder dich selbst?
Angestrengt starrte er in sein Trinkhorn, in dem noch ein Rest der hellgelben Flüssigkeit schwamm.
»Ausgerechnet du sprichst vom Verlieren unseres Volkes?« Das war eine neue Stimme.
Immerhin hatte ihn sein Instinkt nicht ganz verlassen. Etwas wacklig drehte er sich um, die Füße bereits in Fechtstellung.
Ihm gegenüber stand die Frau aus der Kampfarena. Ihr nackter Oberkörper war von Schnitten übersät und in der rechten Hand hielt sie noch immer ihre Tonscherbe. Also hatte sie gewonnen. Sie trug den geschorenen Kopf einer Soldatin mit den zu zwei langen Zöpfen geflochtenen vorderen Strähnen. Er schätzte ihr Alter auf dreißig, fast halb so jung wie er selbst. Auch ihr Körper war kampfbereit, die Haltung ausbalanciert, die Arme angewinkelt und die rechte Hand mit der Tonscherbe vorangestreckt.
»Ausgerechnet du, der die Niederlage unseres Volkes erst herbeigeführt hast?« Sie starrte ihn an. »Tsavarty?«
Was habe ich dir gesagt?, höhnte die Stimme, der Fluch deiner Vergangenheit holt dich immer ein. Immer.
Cherew griff an. Denn die Stimme hatte recht gehabt.
Er wollte ihrer Hand ausweichen, um sie zu rammen, doch er war zu langsam und sie zu schnell. Ohne sie auch nur zu berühren, krachte er gegen die Mauer. Nur kurz darauf war sie bei ihm und der Alkohol ließ ihn in die falsche Richtung und in ihre provisorische Waffe stolpern. Blut lief über seine Wange.
»Du bist langsam geworden, Tsavarty«, spottete sie. »Ein Wunder, dass sie dich einst unsere Hoffnung nannten.«
Er blickte sie an. Sie war jung, zornig und noch voller Wagemut vom Tonscherbentod. Und sie hasste ihn. Eigentlich hätte ihn das nicht überraschen dürfen. Er hatte seine Heimat nicht grundlos verlassen und hätte damit rechnen müssen, dass er auch hier unter den Aussiedlern Callingers wiedererkannt wurde. Es war dumm gewesen, zu glauben, dass hier alles vergessen wäre und er auch nur für einen Moment in eine Illusion seiner Heimat zurückkehren konnte.
Wie ich es schon sagte, säuselte sie, nur ein närrischer Traum.
Ein närrischer Traum. Traum. Traum. Die Worte hallten in seinem Inneren nach. Acht verfluchte Segmentjahre! Wozu?
»Tsavarty ist nicht länger mein Name«, murmelte er, vom Alkohol verlangsamt und von Zorn und Frust erfüllt. Die Farben flirrten vor seinen Augen.
Er wankte auf sie zu.
»Nein, mit deinem Verrat hast du jeden Anspruch darauf verloren.« Die Scherbe in ihrer Hand glänzte blutig.
Um sie hatte sich eine interessierte Menge eingefunden. Zwar waren Waffen hier verboten, doch galt ihre Meinungsverschiedenheit noch nicht wirklich als ein Kampf. Würde er die Taverne verlassen, hielt sie jedoch nichts mehr zurück.
»Wie auch immer.« Als Cherew einen Schritt weiter auf sie zukam, wich sie nicht zurück. »Isch musss geh-en.«
Sie lächelte. »Wenn du das meinst.«
Ohne ihn weiter behindern zu wollen, trat sie beiseite, eben so wie die restlichen Menschen. Cherew entdeckte Nuruy in der Menge.
»Vielleischt führ wir das Gesschpräch sspäter w-weiter?«, rief er ihm zu.
»Sicherlich.« Nuruy nickte ihm zu. Sein Lächeln war verloren gegangen. Ein weiteres Gespräch würde es garantiert nicht mehr geben.
Cherew ließ sich sein Kurzschwert aushändigen und vermisste augenblicklich seinen Speer, den er als Waffe immer bevorzugt hatte.
Sie dagegen besaß natürlich einen. Geduldig wartete sie hinter ihm, bis ihr dieser gereicht wurde.
Er wartete nicht auf sie, sondern trat aus dem Torbogen. Mittlerweile hatte die Abenddämmerung eingesetzt und die dunklen Schatten spielten mit dem letzten Licht des Tages ihr Spiel, das nur für den Augenblick endlich wirkte, bevor es am nächsten Tag vom Neuen begann.
Hinter ihm hörte er, wie seine Verfolgerin schrie: »Er gehört mir. Bleibt zurück.«
Einst war Cherew ein Soldat gewesen, der Beste seines Volkes. Damals hätte er inmitten der Straße mit erhobener Waffe auf sie gewartet.
Doch der damalige Cherew war mit dem Namen Tsavarty nicht nur sich selbst, sondern auch seinem Volk gestorben.
So etwas wie Ehre und Gelübde hatte er damals ebenso verloren.
Und so wandte er sich um und rannte los.
Narr, sangen die Stimmen währenddessen in ihm, Wie hast du denn jemals glauben können, hier eine Heimat unter deinesgleichen finden zu können? Hast du wirklich all die Jahre auf einen Ort gehofft, der dich gar nicht will?
Er hätte weinen können, wenn er das nicht mittlerweile verlernt zu haben schien.
Er schaffte es keine fünf Straßenzüge weit. Sie machte es ihm einfach und warnte ihn, indem sie erneut laut rief: »Du bist langsam geworden.«
Solange du das denkst, ist das gut.
Cherew war ruhig geworden. Die Enttäuschung und der Frust hatten sich in eine tiefe Leere gewandelt, die rasch gefüllt wurde mit der Notwendigkeit des Handelns. Das Schwert wurde ein Mittel der erneuten Identitätsfindung, die ihm in dieser Taverne so plötzlich geraubt worden war. Er zog seine Waffe und die Art, wie sich der Griff in seine Hand fügte, zeigte ihm, dass er noch etwas konnte, etwas war, auch wenn es nur ein mittelmäßiger alternder Kämpfer sein mochte.
Er blieb stehen, bereit, sich ihr zu stellen. Es gab keine Heimat, an die er sich wenden konnte, niemandem, zu dem er sich flüchten könnte. Nur ihn.
Ihm gegenüber blieb sie stehen. Noch immer war ihr Oberkörper frei. Verkrustetes Blut zierte ihre Brüste, doch die Spitze ihres Speeres bewegte sich rasch durch die Luft.
»Ich bin Anaareh«, erklärte sie, »und ich werde dich töten und deinen Verrat gegenüber unserem Volk rächen.« Er war einfach zu spät gekommen. Die Geschichte seines Verrats war ihm vorausgeeilt und hatte für ihn die Tür auch hier endgültig geschlossen. Seinem Fluch konnte er nicht entkommen.
Cherew fragte sich, weshalb er die Waffe überhaupt hob. Selbst wenn er diesen Kampf gewann – es würden andere kommen, die die Jagd nach ihm begannen. Die Nachricht, dass der, der einst den Namen Tsavarty getragen hatte, in Iderra aufgetaucht war, würde sich aus der Taverne bald verbreiten. Im Viertel der Iderri würde ihn bald jeder zu einem Feind erklären.
Die Vergangenheit holt dich eben immer ein, sang die Stimme in ihm.
»Dann werde ich mit ihr untergehen«, entgegnete er leise, ob Anaareh ihn hörte, war ihm gleichgültig.
In der Luft über einer engen, staubigen Gasse berührten sich Speerspitze und Schwert zaghaft. Eine kurze Berührung, dann zuckte der Speer zurück. Hinter ihm lächelte die Frau.
Und der Tanz begann.
Cherew beneidete seine Gegnerin um ihren Speer und die Reichweite, die sie ihm damit voraus war. Er war ein sehr erfahrener Speerkämpfer. Die besten Techniken, aber auch ihre Schwächen kannte er genau. Vielleicht konnte er sich das zu Nutzen machen.
Sie umkreisten einander. Trotz ihres Zorns ging Anareeh vorsichtig und taktisch vor. Natürlich hinderte sie das nicht daran, ihn weiter zu verspotten.
Er ließ sie reden, murmelte kurze Entgegnungen und versuchte sie einzuschätzen. Wenn er die Möglichkeiten hatte, bevorzugte Cherew einen offensiven Kampfstil. Lebensmüde war er dennoch nicht.
Da. Sie deckte ihre linke Seite nur ungenügend.
Cherew machte einen Satz nach vorne, tauchte unter ihrer Waffe hindurch und stieß mit dem Schwert nach ihr. Klack. Das Metall traf auf Holz, als sie seinen Schlag abwehrte.
Sie ist schnell, dachte Cherew.
Er wich wieder zurück. Ihr Speer folgte ihm, die Spitze zustoßend wie eine Schlange, glänzend in der Nachmittagssonne.
Nur ein rascher Sprung rettete Cherew vor ihrer Waffe. Sie lächelte.
Närrischer Hochmut, bemerkte er. Dann griff er an.
Er umging ihre Speerspitze, sprang hoch, als sie nach seinen Beinen stieß und hob die Waffe.
Überrascht grunzte sie auf, sowie er sie traf. Verdammt. Cherew hatte zu hoch gezielt, die Klinge war an einer Rippe abgeprallt und hatte sich dort verhakt. Sie schrie vor Schmerzen auf und helles Blut lief über ihre nackte Haut.
Er bewunderte ihre Beharrlichkeit. Die kostbaren Sekunden, die er durch den unglücklichen Stoß verlor, nutzte sie, indem sie ihrerseits die Waffe hob und nach ihm stieß. Dafür nutzte sie nur eine Hand, doch ausweichen konnte Cherew nur, indem er seine eigene losließ. Klirrend prallte sie auf dem Boden auf. Mit einem zornigen Gesichtsausdruck stieß Anareeh die Klinge fort, in die Gasse hinter sich und vorerst unerreichbar für Cherew.
Achtsam wich er zurück bis an die Hauswand. Er fühlte sich an den Kampf mit einem Mädchen in den Gassen Kemuliaans erinnert. Dort hatte sie ihn in einer ausweglosen Situation mit einem Hausgötzen beworfen. Doch hier befanden sie sich in Hintergassen – die Nischen gab es nicht.
Nun war sie zornig. Trotz ihrer Verletzung ließ Anareeh ihm keine Ruhe. Die eine Hand presste sie gegen die Wunde, mit der anderen führte sie ihre Waffe. Ihr Speer war eine tödliche Schlange, die vor und zurückzuckte und ihn von einer Ecke in die nächste trieb.
Dann traf sie sein Bein. Brennende Schmerzen schossen durch Cherews Adern, als das ohnehin schon verletzte Körperteil sein Gewicht nicht mehr tragen wollte. Er versuchte, dieses auszugleichen, doch es war zu spät. Er knickte ein, verlor das Gleichgewicht und krachte auf den Boden. Es gelang ihm, sich abzurollen. Die Spitze verfehlte ihm um wenige Zentimeter.
Keuchend lag er auf dem Rücken, sein Bein war ein brennendes Feuer.
Sie tauchte über ihm auf, den Speer erhoben, das Gesicht grimmig und in den Augen lodernder Hass.
»Das ist deine gerechte Strafe, Verräter.«
Cherew machte sich bereit, ihrem Speerstoß auszuweichen, den Schaft zu ergreifen und ihn gegen sie zu verwenden.
Doch plötzlich erstarrte Anareeh. Ihre Augen verdrehten sich und blutiger Schaum trat aus ihrem Mund aus. Dann sackte sie zusammen. Hinter ihr tauchte die blutige Spitze eines Schwertes auf. Gehalten wurde es von einem Cherew unbekannten Mann.
Nervös rappelte Cherew sich auf und versuchte, sein verletztes Bein dabei zu entlasten. Abwehrend hob die Fäuste. Instinktiv wanderte sein Blick zu seinem Schwert, das hinter dem Mann auf den Pflastersteinen lag.
Feind oder Freund? Vermutlich Ersteres. Wahrscheinlich war er in der Taverne gewesen und hatte Anareeh verfolgt.
»Wer war sie?«, fragte der Fremde. Sein harter Akzent war kaum zu verstehen. Eindeutig war er nicht von hier. Er ließ sein Schwert sinken und wischte die blutige Klinge an seinem dicken Mantel ab. Er wirkte nicht sonderlich kampfbereit. Dennoch blieb Cherew aufmerksam. Es konnte immer noch eine Falle sein.
Die Kleidung des Fremden war viel zu warm für dieses Wetter, doch das schien ihn nicht zu stören. Die hochgekrempelten Ärmel waren das einzige Zugeständnis an die Hitze.
»Jemand, der mich töten wollte«, antwortete Cherew immer noch nervös. Vorsichtig stand er auf. Einen Schmerzensschrei konnte er noch soeben unterdrücken.
Komm schon. Das ist nicht die erste und die schlimmste Wunde, die du hattest.
Warum hatte dieser Mann ihm geholfen? So etwas tat man nicht uneigennützig.
Vielleicht solltest du ihn töten, schlug die Stimme vor und Cherew fand ihren Vorschlag noch nicht einmal so irrational.
»Eine halbnackte Frau.« Skeptisch hob der Fremde eine Augenbraue. »Sie hat gut gekämpft.«
Cherew zuckte mit den Schultern. »Und du hast sie getötet. So ist das Leben.«
Der andere nickte. Noch immer stand er ihm gegenüber. Niemand von ihnen schien gewillt, die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken.
»Wir sollten sie verstecken«, schlug Anareehs Mörder vor.
»Sie werden mich jagen, so oder so«, entgegnete der Iderri, »da ist es gleich, wie viele Leichen ich hinter mir zurücklasse.«
»Dann sollten wir fort.« Er steckte sein Schwert wieder in seine Scheide zurück und warf einen letzten Blick auf die tote Frau zu ihren Füßen. »Schnell.« Wir. Wann war es dazu gekommen? Es war eine Falle. Ganz bestimmt.
Cherew nickte, um sein Misstrauen nicht überdeutlich zu zeigen. Er zögerte kurz, dann ging er an dem Fremden vorbei und hob rasch sein Schwert auf. Nichts geschah. Erleichtert darüber, die Klinge wieder in den Händen zu haben, musterte er diesen wieder.
Was für ein merkwürdiger Mensch. Der andere war jünger als er, vielleicht Ende dreißig, und sein schulterlanges hellblondes Haar zeigte noch keine grauen Strähnen. Woher mochte er kommen?
»Mein Name ist Jalldred«, stellte er sich vor.
Es war ein Name der Puidan aus Callinger.
Und in diesem Moment erkannte Cherew ihn.
Verdammt.