Turilt, die vierte Tanutise des Segments Retoldut
Fahrig kniete Sinamet auf den Boden der Hütte, in der Hand ein Kohlestück, mit dem sie wirre Zeichnungen und Notizen auf einer Wand anbrachte. Die Luft war angefüllt mit dem Duft der Kräuter, die sie verbrannt hatte, um sich in Trance zu versetzen und die Nähe der Götter zu suchen. Doch dieses Mal hatte ihr der vertraute Zustand weder Frieden gebracht, noch Antworten geschenkt. Zu den Worten, die Lurrved ihr genannt hatte, konnten oder wollten sie scheinbar nichts sagen. Wahrscheinlich verlangten sie, dass Sinamet ihrem Boten in seinen Anweisungen und Ratschlägen gehorchte und ihren Weg akzeptierte, wie sie ihn ihr offenbart hatten.
Es war lange her, dass sie sich so wach, so aufmerksam und paralysiert gefühlt hatte. Die Schmerzen des Alters, ihre beständigen Begleiter des Alltags, verschonten sie zurzeit, als ergaben auch sie sich in diesem Moment der Autorität des Götterbotens.
Selbst das Klopfen an ihrer Tür nahm sie zunächst kaum wahr. Erst als es beharrlicher wurde, tauchte sie aus ihren Überlegungen auf. Eilig warf sie sich einen Umhang über, bevor sie die Tür öffnete.
Es war Netinod. Eigentlich hätte sie ihn erwarten müssen. Dass sie es dennoch nicht getan hatte, zeugte davon, wie sehr ihr politischer Instinkt unter den Segmentjahren der Abgeschiedenheit gelitten hatte.
"Komm rein“, meinte sie und hielt ihm die Tür auf. Es lag sicherlich nicht in seinem Interesse, bei ihr gesehen zu werden, wo er sie doch mitten in der Nacht aufsuchte.
„Möchtest du etwas trinken? Ich kann Tee aufsetzen.“
„Nein, danke.“ Etwas verloren stand er in ihrer Hütte und rieb sich die Hände über dem Feuer. Draußen war es sehr kalt geworden.
„Warum bist du gekommen?“ Sie reichte ihm dennoch einen Becher mit Met. „Du weißt, dass ich morgen meine Stimme nicht für dich erheben werde.“
Natürlich wusste er das. Es war dumm, das überhaupt in Erwägung zu ziehen. Mittlerweile kannte er sie gut genug, um zu wissen, dass Sinamet ihren Eid sehr ernst nahm.
„Ich bin gekommen, um sicherzustellen, dass die Wahrheit, die gestern Abend ausgesprochen wurde, bekannt bleibt. Denn ich weiß nicht, ob ich nach dem Morgen noch leben werde und dafür Sorge tragen kann. Du kennst deinen Bruder.“
Kannte sie ihn? Sie war sich nicht sicher. Die Zeit hatte sie einander entfremdet und die gemeinsamen Kinderjahre, als er seine Sorgen und Probleme noch mit ihr geteilt hatte, waren lange vorbei. Der Mann, zu dem er geworden war, blieb ihr ein Fremder, in dem sie wenig von dem Jungen sah, der ihr einst so nah gestanden hatte. Natürlich erkannte sie seinen Ehrgeiz wieder, sein Streben danach, Größeres zu erreichen und aus der Masse des Volkes hervorzustechen. Dennoch wusste sie, worauf Netinod hinauswollte. Einen Vorgeschmack auf die Motive, die ihren Bruder antrieben, hatten sie bereits bei der heutigen Besprechung erhalten. Das Bild, wie Lejkar sich vor der Stammesversammlung in Rage redete, hatte sich eingebrannt. Sie war sich sicher, dass er, sobald Netinod tot war, die Mehrheit in der Versammlung erreichen und noch am Abend neuer Stammesfürst sein würde. Er hatte schon immer hoch hinauf gewollt. Natürlich nahm auch er die Worte der Götter ernst, doch wie er nun einmal war, würde er diese verdrehen und als Legitimität für seine ganz eigene Politik und Ziele verwenden.
„Das tue ich“, bestätigte sie, weil Netinod nichts weiter über das Verhältnis ihres Bruders und ihr zu wissen brauchte „was also willst du von mir?“
Netinod blickte sie an. „Ich möchte, dass du an den Königshof reist und dem König berichtest, was gesprochen und gesehen wurde.“
Überrascht hob Sinamet die Augenbrauen. Ihr Stammesfürst war nicht als sonderlich königstreu begannt, sondern hatte sich stets für die Eigenständigkeit seines Stammes eingesetzt. Immer wieder hatte er mit Bewunderung von jenen Tagen gesprochen, als ihr Stamm noch das Königsgeschlecht gestellt hatte. Ihren Weg, am Königshof zu dienen, hatte er immer missbilligt.
Es war schon faszinierend, was der Gedanke an den nahenden Tod mit Menschen machte. Ihren Respekt für Netinod ließ es noch wachsen. Im Gegensatz zu ihrem Bruder dachte er noch jetzt an die Pflichten, welche die Götter ihm als Stammesfürst auferlegten. Und die Weitergabe von dem, was die Götter sprachen, war eine wichtige Pflicht. Selbst im Kriegsfall wurden Worte der Panti stets weitergegeben und am Königshof zusammengetragen. Eigentlich hätte Sinamet es erwarten können. Warum zögerte sie nur dennoch, wo ihr auch Lurrved zu diesem Schritt geraten hatte?
„Ich denke nicht, dass ich dessen würdig bin“, bekannte Sinamet leise.
„Unsinn.“ Netinod schnaubte und winkte ihren Einwand fort. „Immerhin ward Ihr es, Panti Sinamet, welche die Worte zuerst hörte. Außerdem habt Ihr am Königshof lange und treu gedient. Ihr müsst gehen.“
Auf einmal umklammerte kalte Angst ihr Herz. Sie dachte an Schedmasal. Wie würde er reagieren, wenn sie nach all den Segmentjahren wieder vor ihm stand? Sie wusste, dass er ihr nie vergeben hatte, auch wenn sie seine Vergebung nicht verlangte. Immerhin war sie selbst es, die sich nach all der Zeit noch immer die schlimmsten Vorwürfe machte.
„Schickt jemanden anderen“, bat sie, „der König …“
„… wird sich freuen, wenn er nach all der Zeit seine verehrte Mared wieder trifft.“ Er neigte leicht den Kopf von ihr. „Panti Sinamet, es ehrt euch, dass Ihr hier verbleiben wollt, aber ich möchte wahrlich nicht, dass Ihr in die politischen Kämpfe nach morgen hineingezogen werdet.“ Er verstand es nicht, natürlich nicht. Die Gründe, weshalb sie den Hof verlassen hatte, waren nie offen kommuniziert worden. Sie war eine Panti. Im Gegensatz zu Schedela konnte man sie, die den Willen und die Worte der Götter kundtat, nicht als Verräterin brandmarken.
„Ich sorge mich der kommenden Ereignisse wegen“, sprach er mit einer Offenheit weiter, die sie wahrlich nicht von ihm gewöhnt war – vor allem nicht ihr gegenüber. „Diese Dunkelheit entspricht den Tatsachen und ich fürchte, dass wir sie über die inneren Kämpfe aus den Augen verlieren.“
Sie wusste, es war der Lauf der Dinge, dass Stammesfürsten abgelöst worden, dennoch konnte sie nicht anders, als die Situation zu bedauern. Vielleicht mochte Netinod nicht der richtige sein, um den Stamm in diesen schwierigen Zeiten zu leiten – aber ihr Bruder Lejkar war es mit Sicherheit nicht.
„Es tut mir leid, Netinod“, meinte sie sanft. Sie war selten mit ihm einer Meinung gewesen und hatte ihn in der langen Zeit ihrer Bekanntschaft häufig verflucht, aber sie hatte ihn immer respektiert für sein Pflichtbewusstsein und seine Aufopferungsbereitschaft seinem Stamm gegenüber. Es war eine Integrität, die in der jetzigen Zeit und Gesellschaft selten zu finden war.
„Nein, Sinamet. Trauert nicht um jemanden, dem die Götter ein zu langes Leben schenkten.“ Natürlich gab er sich selbstsicherer als er war. Den Schmerz und die Angst vor dem Kommenden sah Sinamet ihm trotzdem an. Und was war mit ihr? Hatten die Götter ihr ein langes Leben geschenkt, nur um zu beobachten, wie ihre einstigen Schützlinge sich gegenseitig zerfleischten? Es machte den Schmerz nicht einfacher und die Sorge nicht kleiner, dass sie sich ihrer Verantwortung als Mared neu bewusst geworden war.
Sie gab sich einen Ruck. „Ich werde meine Pflicht erfüllen, so wie die Götter diese erwählten, als sie ihren Boten in meine Hütte entsandten.“
„Ich weiß, Sinamet.“ Wenn er es gewusst hatte, wieso wirkte er dann nur so, als ob eine schwere Last von seinen Schultern geglitten war?
„Dem Volk zur Ehre.“ Diesen Spruch gab es in der Tradition nicht. Es hieß, dem Stamm zur Ehre. Doch Lurrved hatte ihr gezeigt, dass ihr Auftrag über die Stammesgrenzen hinweg galt. Sie würde nicht als eine Abgesandte ihres Stammes an den Königshof zurückkehren, sondern als Verkünderin der Worte der Götter – und sie wollte, dass er eben das verstand.
Netinod neigte den Kopf, akzeptierte, dass sie ihm die Grenzen aufzeigte. Er würde es auch als seinen Nachruhm nicht in Anspruch nehmen können, dass er sie zum Königshof entsandt hatte.
Er wollte sich bereits abwenden, als sein Blick auf die von ihr mit Kohle beschmierte Wand fiel. Sein Blick verweilte länger darauf, als es schicklich gewesen wäre. Zwar diente eine Panti ihrem Stamm, aber sie hatte das Recht, ihm ihre Gedanken mitzuteilen, wenn sie es für die rechte Zeit hielt.
„Was ist das, Panti Sinamet?“ , fragte er und betrachtete ihre wirren Notizen genau. Sie bezweifelte, dass er diese vollends würde verstehen können.
„Der Versuch, einen Sinn, in den Worten der Götter zu erkennen.“
„Und es geht um ein Tor des Mondes?“ Überrascht hob Sinamet eine Augenbraue. Also konnte Netinod besser lesen, als sie geglaubt hatte. In der Regel waren die Panti die Schriftkundigen der Gesellschaft, nur vereinzelt konnten auch die Stammesfürsten und Abgesandten in der Volksversammlung lesen und schreiben. Von Netinod war ihr das indes nicht bekannt gewesen. Vielleicht war auch das ein bewusstes Mittel der Politik.
„Richtig“, gab sie zu, neugierig auf die Gedanken, die er hatte.
Er legte den Kopf schief. „Ich bin mir sicher, bereits davon gehört zu haben, aber ich kann Euch leider nicht sagen, woher.“
„Es gibt Legenden und einen Haufen Geschichten darüber“, erläuterte Sinamet. „Kindergeschichten, in denen das Tor des Mondes als ein Ort erscheint, wo die Kinder Hilfe oder Rettung vor einer Gefahr finden, Antworten auf Fragen oder einen Zufluchtsort in der Not.“ Allerdings gab es keinerlei Belege, dass dieser Ort auch der Wirklichkeit entsprach – oder sie hatte diese schlichtweg noch nicht gefunden. „Häufig ist es eine Allegorie für ihr eigenes Wissen, ihre eigene Stärke, welche die Kinder in sich selbst finden.“
Er verneigte sich. „Dann bete ich dafür, dass Ihr die Antworten findet, die unser Volk mehr denn je braucht.“
Mit diesen Worten öffnete er die Tür und verließ den Raum. Natürlich, er hatte keine Antworten für sie. Im Gegensatz zu ihr war er nicht darin geschult, den Willen der Götter in Kleinigkeiten zu erkennen. Und sie zweifelte selbst allzu häufig an ihren Deutungen.
Sinamet verließ ihren Heimatort kaum zwei Stunden später, noch bevor der Morgen graute. Zwar bedauerte sie es, sich nicht von Dillenat verabschieden zu können, doch wollte sie sowohl Ärger wie auch Aufmerksamkeit vermeiden. Natürlich wurde sie von den Wachen angerufen, als sie sich auf den Weg zu den unterirdischen Bootsanlegestellen machen. Aber sie hielten Sinamet nicht auf – es war nicht außergewöhnlich, dass Panti ohne jede Erklärung zu nächtlichen Reisen aufbrachen, um in der Einsamkeit den Willen der Götter zu suchen. Stattdessen neigten sie ehrfürchtig die Köpfe vor der alten Panti, die mühsam den Abstieg begann. Dass sie von ihrer Abwesenheit berichten würden, ließ sich indes nicht verhindern.
In der Nacht hatte es geregnet, und die Stufen, die hinab in die Höhle führten, waren glitschig. Vorsichtig hielt Sinamet sich an dem dünnen Geländer fest. Eine gebrochene Hüfte war das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
Endlich erreichte sie den Steg und steuerte ihr Kajak an, das noch dort vertäut war, wo sie es zurückgelassen hatte. Sorgfältig verstaute sie das Gepäck, wobei sie darauf achtete, das Gewicht gleichmäßig zu verteilen. Auf dem Hinweg waren sie noch zu zweit gefahren, doch war sie erfahren genug, das Kajak alleine zu steuern. Entschlossen löste sie das Tau, nahm das Paddel und stieg vorsichtig ein. Unruhig schaukelte das Kajak auf den Wellen, die durch den Höhleneingang schwappten.
Sinamet stieß sich vom Steg ab und tauchte das Paddel ins Wasser. Ihre Knochen protestierten. Sie hatte in der Nacht zu lange verspannt gesessen. Allerdings war sie nicht in der Lage, darauf Rücksicht zu nehmen. Es stand zu viel auf dem Spiel. Die Zweifel flüsterten immer noch in ihrem Inneren und die Angst in ihr pochte auf die Unmöglichkeit dieser Mission, aber Sinamet kontrollierte beide – für den Moment.
Entschlossen lenkte sie das Kajak durch den Höhleneingang und tauchte ein in die verwirrende Welt aus Schilfwänden und schwimmenden Inseln. Das erste Licht des Tages drang durch die dichten Nebelschwaden, welche Turilt wie gewöhnlich umgaben. Sie mischten sich mit dem lumiszierenden Licht des Schilfes, das gleich Leuchtnestern immer wieder durch das Grau schimmerte.
Kurz hielt Sinamet das Kajak in Position und blickte zurück zu der Insel, die ihre Heimat war. Sie war kürzer geblieben als geplant und hatte sich in all der Zeit mehr wie ein Fremdkörper denn wie ein integrierter Teil der Gemeinschaft gefühlt. Von der unbeliebten Außenseiterin zu einer Erwählten, mit der die Götterboten redeten … Sie hatte einige Positionen eingenommen. Keine von ihnen hätte sie selbst für sich erwählt. Doch manchmal galt es, einen Lebensweg außerhalb der eigenen Bequemlichkeit zu wählen.
Kurz meinte sie einen Blick auf jenen Felsen zu erhaschen, den sie in ihrem Traum gesehen hatte. Wieder saß darauf eine Gestalt, die ihr nachblickte. Lurrved? Sein Name lag ihr bereits auf der Zunge, doch kurz darauf war der Felsen im Nebel verschwunden. Und mit ihm ganz Turilt.
Nachdenklich begann Sinamet zu paddeln.
Es war Zeit.