Callinger, Hanuvbre-Gebirge am Lauf des Fedlas, der erste Liusna des Segments Retoldut.
Die Augen aller Dämonen waren schwarz oder weiß, so erzählt man es sich. So war es immer gewesen, so würde es immer sein. Dieser Mann jedoch hatte braune Augen, wie sie es durch das Wasser hinweg erkannte. Er konnte kein böser Geist sein. Wie auch immer. Niemand hatte etwas in ihrer Quelle verloren. Es war Sinamets Aufgabe, sie von bösen Einflüssen rein zu halten.
Verwirrt starrte Sinamet zu dem Mann, der in ihrer Quelle trieb. Wie war er nur hierhergekommen? Sie entdeckte weder Fußspuren noch sonstige Zeichen in den Resten des Schnees, welche ihr diese Frage erklären könnten.
Sie zögerte. Wer konnte ihr sagen, dass er nicht doch etwas Böses im Schilde führte? Die Gans war es, die Sinamet davon überzeugte, dass er ihr zumindest für den Moment nichts tun würde – ansonsten wäre sie bereits geflohen. Immer noch schwamm das Tier über der Person. Ihr Gefieder war weiß – eine Ungewöhnlichkeit, von der Sinamet sich fragte, ob dies etwas bedeutete.
Leise begann das Tier zu schnattern, eben in jenem Moment, als es zu der Beobachterin am Rande des Teichs blickte.
»Panti Sinamet?« Hinter ihr rief Schalwa. Der Junge hatte es wohl nicht geschafft, auf sie zu warten – oder zu viel Angst um Sinamet und dem stillen Ausharren in einer Hütte, ohne zu wissen, was vor sich ging. Sie beachtete ihn nicht, sondern kniete am Rande des Wassers nieder. Die Quelle war nicht allzu groß – in etwa drei Schrittlängen breit und vier lang. Die Gans beobachtete sie. Ein dunkler Abklatsch ihrer Gestalt zeigte sich vor der Kulisse der untergehenden Sonne im Wasser, es vermischte sich mit dem der Gans, verschwamm zu einem einzigen Flecken Schwarz und – Sinamet erstarrte, blickte zur Sonne am Himmel hinter sich und dann wieder auf ihren Schatten.
Das kann nicht sein, dachte sie. Doch das dunkle Abbild der Gans veränderte sich nicht, völlig egal, ob seine Existenz in dieser Form jeglichen Gesetzen der Logik widersprach. Es dauerte einen Augenblick, bis Sinamet verstand, dass sich der Schatten der Gans nicht etwa an natürlichen Gegebenheiten wie dem Sonnenstand orientierte, sondern am Kopf des Mannes, den dieser stets bedeckte. Ihre Vernunft sagte Sinamet, dass sie warten sollte, bis der Mann ertrunken war. Er war merkwürdig, seltsam und bedeutete eine Ungewöhnlichkeit, eine Gefahr für ihre Welt, selbst wenn dies kein Geist war. Und doch war etwas an dieser Situation, das ihr verriet, dass es nicht so einfach sein konnte.
»Panti Sinamet?« Sie schob den Gedanken an den Jungen ebenso zurück, wie sie die leise Stimme ignorierte, die sie vor den Gefahren dieser Situation warnte.
Der hereinbrechende Frühling.
Der Schatten eines Götterboten.
Ein merkwürdiger Fremder.
All jenes passte zusammen, ergab eine Symphonie aus Gedanken und Möglichkeiten – und einen Pfad zu ihren Füßen, dessen Ende sie nicht sah. Aber warum jetzt?, fragte sie sich selbst, die Geschehnisse immer noch nicht begreifend, hat mein Tribut euch gereicht? Wurde der Preis, für das, was ich verbrach, geleistet?
Es ging nicht darum, dass ein Fremder in ihrer Quelle zu ertrinken drohte.
Es ging nicht allein darum, dass etwas, was sie nicht einschätzen konnte, in ihre Lebenswelt eingedrungen war.
Nein. Sie interessierte allein, dass die Götter ihr Versprechen erhört hatten. Wie von selbst formten ihre Lippen jene Worte, die eine Frau in einer eisigen Winternacht einst zu ihr gesprochen hatte. Es war lange her, dass sie diese zuletzt bewusst gesagt hatte, doch hatte sie jetzt keine Schwierigkeiten, sie genau zu wiederholen. Der Frühling. Die Gans. Der Fremde.
Sie verstand es nicht. Aber sie verstand, dass dieser Spruch, den sie einst für unerreichbar gehalten hatte, nun der Wirklichkeit zu entsprechen begann. Oder interpretierte sie bloß zu viel in die Situation hinein? Aber wer war sie, dass sie über die Entscheidungen der Götter urteilen würde? Einst hatte sie es versucht und war daran gescheitert. Nun musste sie den Zeichen wohl vertrauen. Was bedeutete, dass sie den Fremden retten musste.
Wieder blickte sie zu dem Mann im Wasser. Mittlerweile hatte er seine Augen geschlossen und trieb reglos in der Quelle. Hatte sie zu lange gezögert?
Mit schnell arbeitenden Fingern löste sie ihren Gürtel und den Mantel, ließ diese zu Boden gleiten, zog die Schuhe aus und sprang ins Wasser.
Schalwa schrie auf.
Das Wasser war eisig. Sinamet erschauderte, sowie das Nass ihre Kleidung durchtränkte und das plötzliche Gewicht sie hinabziehen wollte. Nun war sie dankbar für die Tatsache, eine sehr gute Schwimmerin zu sein. Mit raschen Zügen bewegte sie sich bis zur Mitte der Quelle. Die Gans schnatterte laut und schwamm davon, als ob sie wüsste, dass ihre Aufgabe nun erfüllt war.
Tief sog die Panti Luft ein, bevor sie hinabtauchte. Die Kälte umgab sie nun vollends. Zu ihrem Glück war die Quelle nicht tief, sodass sie den Mann rasch erreichte. Sie ergriff seinen Arm, spürte das Gewicht seines Körpers, das sie zum Grund der Quelle zog. Kostbare Augenblicke verrannen, in denen sie versuchte, die richtige Position zu finden, um ihn mit sich ziehen zu können.
Schreie. Weinen. Klagen. Tod.
Nein! Sie drängte die Bilder davon, die mehr noch als das Wasser mit eiskalten Fingern nach ihrer Seele griffen.
Ein Kind, leblos in ihren Armen. Eine weiße Gans, die über den Baumwipfeln verschwand. Eine sich im Wasser spiegelnde blutrote Sonne.
Nein! Sie würde es nicht zulassen, sie… Sie atmete aus. Blasen tanzten über ihr auf der Oberfläche, während sich ihre Lunge mit Wasser füllte. Tränen verließen ihre Augen, vermischten sich mit dem Wasser und Sinamet japste nach Luft.
Eine Frau im Nebel, stehend auf einer weißen, unberührten Schneedecke. Und die Worte. Ihre Worte.
Erinnere dich! Sie hielt in ihren Bewegungen inne. Von einem Moment zum anderen. Um sie herum war nichts als Stille.
Versagerin! Mörderin! Verräterin!
Stirb doch! Etwas berührte ihre Hand, griff nach ihr. Sinamet riss die Augen auf.
Ein Leuchten im Wasser. Ein Licht, das unter ihr hervorbrach.
Kämpfe! Lebe! Sie spürte, wie Luft durch ihre Lungen floss, wie die Sicht und ihre Erinnerung aufklarten. Mit neuer Kraft ergriff sie die Arme des Mannes, der regungslos unter ihr trieb. Ihre Beine schlugen durch das Wasser, das Nass zurückdrängend, ihr Kopf reckte sich dem Licht entgegen.
Sie durchbrach die Wasseroberfläche.
Gierig sog Sinamet die frische Luft ein, bevor sie sich dem Mann zuwandte. Noch immer rührte er sich nicht. Sie schwamm halb unter, halb vor ihm, sodass sie seinen Kopf über Wasser halten konnte.
»Panti Sinamet!« Sie schwamm auf dem Rücken, weshalb sie ihn nicht sehen konnte. Es klang, als ob der Junge direkt am Wasser stehen würde.
Erschöpft folgte sie seiner Stimme. Ihre Züge waren langsam. Sie war sich sicher, dass sie ihre schmerzenden Glieder nur nicht spürte, weil sie nichts mehr spürte. Nichts außer der Kälte. Es war merkwürdig, wie es ihr im Wasser möglich war, einen deutlich schwereren und größeren Mann zu bewegen. Sie verstand überhaupt nichts von dem, was soeben vor sich gegangen war. Sinamet war nur erleichtert, als sie endlich das rettende Ufer erreichte.
Schalwa war dort und hielt ihr die Hand entgegen. Mit seiner Hilfe verließ zuerst die Panti die Quelle, bevor sie nach dem Arm des Mannes griff, um ihn aus dem Wasser zu ziehen. Ohne sich zu rühren, blieb der Junge neben mir stehen.
»Jetzt hilf mir doch«, fuhr sie ihn barscher an, als sie wollte.
Schalwa zitterte. »Er ist ein Geist.«
»Er ist kein Geist«, beruhigte sie ihn, derweil sie den Oberkörper des Fremden an Land hievte. »Ich bin eine Panti, ich weiß das.« Zumindest hoffte sie das.
Endlich beugte sich der Junge herab, um ihr zu helfen. Gemeinsam zogen sie den Mann ans Ufer.
»Was ist passiert, Panti?«, fragte Schalwa besorgt. Sogleich hatte er wieder Abstand zu dem Fremden genommen. Sinamet glaubte zu wissen, was in ihm vorging. Der Wunsch, nicht alleine mit seinen Gedanken zu sein, hielt ihn hier, während die Angst vor dem Unbekannten ihn zugleich fortzog. Zugleich sorgte er sich um ihre Sicherheit.
Sinamet war an der Seite des Fremden niedergekniet. Es war ihr nicht möglich, äußere Verletzungen zu entdecken. Er lag einfach nur da. Wenn sie nicht die sanften, regelmäßigen Atemzüge unter ihrer Hand gespürt hätte, so hätte sie geglaubt, er wäre tot. Hatte das Wasser ihm überhaupt geschadet? Er hatte sich viel länger als sie selbst in der Quelle befunden. Sie wäre fast ertrunken. Jegliches medizinisches Wissen, das sich Sinamet über die Segmentjahre angeeignet hatte, konnte diese Tatsache nicht erklären. Der Mann schien einfach zu schlafen.
»Da war ein Licht, Panti, im Wasser!«
Der Junge hatte es auch gesehen? Sie hatte es für eine Einbildung gehalten. Was mochte dies bedeuten?
Schalwa trat hinter sie und legte ihr ihren Mantel über die Schultern. Dankbar hüllte sie sich in den wärmenden Stoff.
»Das ist kein Geist?«, vergewisserte er sich.
Sinamet begann, ihre klatschnassen Sachen auszuziehen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise. Soeben war etwas geschehen, was über ihren eigenen Verstand hinausging.
Sie blickte auf das Wasser.
Alles wirkte wie zuvor.
Wäre da nicht der Fremde, der zwischen ihnen lag.