Iderra, das Segment Ulaaruk, der neunte Tag nach Traapur
„Plari sagt, dass sie ein halbes Jahr alt ist“, meinte Lean und kicherte, als der Hund ihr die Finger abschleckte. Sanft schob sie das Tier beiseite, damit es nicht die Stickerei zerstörte, mit der sie sich beschäftigte.
„Sie?“, fragte Cherew verwundert. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass das kleine Wesen männlich war. Andererseits hatte er sich dessen auch nie überzeugt.
„Eine Hündin.“ Lean verdrehte die Augen. „Plari hat ihr das Fell geschnitten, meint, dass sie sehr unterernährt ist, aber ansonsten fit erscheint.“
„Das sagt also Plari.“ Plari arbeitete im königlichen Hundezwinger und Lean hatte das kleine Fellbündel am Vormittag zu ihm geschmuggelt. Mittlerweile war das kleine Wesen bereits vier Tage in Leans Obhut und die Dienerin kümmerte sich liebevoll um das Tier. Cherew war es nun erst das zweite Mal gelungen, seinen Pflichten lange genug zu entkommen, um sie und die Hündin zu besuchen. Die Vorbereitungen für die Abreise Pujabaats waren im vollen Gange und die wenige freie Zeit, die ihm zur Verfügung stand, musste Cherew zudem für die Planung seiner eigenen Flucht nutzen.
„Er wird mich nicht verraten“, kam die junge Dienerin seinem Einwand, den sie wohl in seinem nachdenklichen Schweigen las, zuvor, „ich überbringe die Nachrichten zu seiner Geliebten. Sie arbeitet in den Kinderstuben.“
Sie blinzelte ihn an, scheinbar enttäuscht darüber, dass er seine Entrüstung über diese Liebschaft nicht lautstark zum Ausdruck brachte.
Lean war ein liebes, aufgewecktes Mädchen und eine hervorragende Quelle für Klatsch jeglicher Art. Sie strebte nach Höherem und hoffte, dass ihr Geliebter, ein junger Justiziar der königlichen Verwaltung, sie heiraten würde. Ihn hielt sie für einen der vielen ausländischen Krieger, die früher oder später in die Handelsmetropole gespült worden und es dort zu einem einträglichen Posten in der Palastwache gebracht hatte. Mit Vorliebe ließ sie sich von ihm ihre Langeweile durch falsche oder wirkliche Geschichten über die Welt außerhalb der Palast- und der Stadtmauern vertreiben.
„Aber weißt du, was sie heute zu mir gesagt hat? Eine Bekannte ihrer Base hat wohl aufgetragen, als der König den kerajaanischen Botschafter empfangen hat und sie sagt, dass dieser Kerajaaner dem König, eine Base des Kaisers als Ehefrau für seinen Sohn angeboten hat.“
„Für welchen?“
„Arraj natürlich.“ Wieder verdrehte Lean die Augen. „Eine Zweitfrau für Tsnem wäre dem doch nicht gut genug und Ishkan ist viel zu jung. Der König hat das abgelehnt und gemeint, dass Arraj bald verlobt werden würde.“ Ihre Finger flogen weiterhin über die Stickerei, eine Fähigkeit, die Cherew bewunderte.
Die Hündin tapste zu ihm und machte es sich zu seinen Füßen bequem. Flehend blickte sie zu ihm auf, bis er sich erbarmte und begann, sie zu streicheln.
Lean plauderte weiterhin aufgeregt über das Treffen, wobei sie den Botschafter und seinen Hochmut auf kreativste Art und Weise niedermachte. Cherew dachte nach.
War das der Grund für das Zerwürfnis zwischen Pujabaat und dem König? Galt die Ablehnung als eine so große Kränkung des iderranisch-kerajaanischen Verhältnisses, das der Botschafter vorzeitig abreisen musste? Das Verlöbnis, das unmittelbar bevorstand, musste sich auf Schedela beziehen. Die Verhandlungen abzubrechen, wäre für den König ein leichtes gewesen. Aber er hatte lieber daran festgehalten, als den Wünschen seines Kaisers zu gehorchen.
Kein Wunder, dass Pujabaat sauer war.
„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“, unterbrach Lean ihn in seinen Gedanken.
„Hm?“, machte er und bemerkte erst jetzt, dass die Hündin zu seinen Füßen eingeschlafen war.
„Ich meinte, dass die Verlobung natürlich noch nicht verkündigt worden ist, der Vertrag aber bereits unterschrieben wurde.“ Sie seufzte. „Es wird sicherlich eine prächtige Hochzeit werden. Bei der Hochzeit von Tsnem Yerk und Nasiyse vor zwei Jahren gab es einen Tanz mit zwölf mal zwölf Tänzern auf dem Marktplatz. Und das war nur der zweitgeborene Sohn.“
Sie berichtete weiter über die Hochzeitsfeierlichkeiten, beschrieb die traditionellen Kleider der Braut, die ausgefallenen Geschenke der erinischen Gesandtschaft – zu der wohl zwölf Albinohengste gehört hatten-, die Zeremonie, in der sowohl erinische als auch iderranische Bräuche bestimmend gewesen seien. Cherews Gedanken schweiften bald wieder ab. Schedela hatte es also geschafft und sich wider jeder Erwartung mit dem Sohn eines Königs, mit dem ihr Volk eine historische Feindschaft verband, verlobt. Nie und nimmer würde ein solcher Mann die Akzeptanz ihres Volkes erlangen. Was also bezweckte sie damit? Wusste sie, dass sie damit das misstrauische Interesse des kerajaanischen Botschafters erworben hatte, dass allein ihre Existenz eine Beleidigung kerajaanischer Machtpolitik war?
Währenddessen sprach Lean weiter. „Ein Jammer, dass man so wenig über diese Verbindung weiß. Arraj Nek und seine Verlobte waren sehr vorsichtig. Ihre persönlichen Unterhaltungen haben sie nur im Garten geführt und ...“
„Was hast du eben gesagt?“, fragte er, plötzlich aufmerksam geworden.
Lean schüttelte grinsend den Kopf, ohne von ihrer Stickerei auch nur aufzusehen. „Erzähle mir zuerst eine Geschichte. Wer war dein größter Gegner?“
Ihr Blick funkelte aufgeregt. Es lag eine kindliche Freude darin, die ihn an jemand anderen erinnerte. Cherew wusste, dass er ihr weitere Informationen nur mit einer Geschichte entlocken konnte.
Er lehnte sich an die Wand ihres Zimmers zurück, hob die Hündin in seinen Schoß, die mit ihrer rauen Zunge über seine Hände leckte und sich dann einrollte.
„Ich war einst für den Schutz einer adeligen Familie auf einer der Inseln Merinaars verantwortlich“, begann er, „die Frau meines Herrn war bei der Geburt seiner Zwillinge gestorben. Mein Herr versuchte das aufzufangen, indem er sich viel mit seinen Kindern beschäftigte. Doch es gab eine Zeit, da waren die Kinder zehn, als mein Herr große politische Feinde hatte und deshalb viel unterwegs war. Während der Junge sich viel zurückzog, wurde das Mädchen wild und störrisch. Und eines Nachts war sie verschwunden. Wir durchsuchten den ganzen Palast, aber sie war nicht aufzufinden.
Doch inmitten meiner Verzweiflung erinnerte ich mich an etwas, was sie in einem Wutanfall gesagt hatte: „Ich wünschte, jemand würde den Hirsch einfangen.“
Es gab die Legende, dass in den Wäldern von der Stadt ein weißer Hirsch lebte, der, wenn man ihn fing, Wünsche gewährte. Und ihr Bogen und ihre Dolche waren mit dem Mädchen verschwunden.
Also ging auch ich in den Wald, befragte Köhler und Jäger, und schließlich fand ich sie. Ein kleines Mädchen mit blutverschmierten Händen, das sich über den Hirsch beugte, welches es getötet hatte. Er war weiß, dennoch blickte sie sich mit Tränen in den Augen an.
„Er hat nicht nach einem Wunsch gefragt“, weinte sie, „und so musste ich ihn töten.“
„Wir werden ihn zu deinem Vater bringen“, versprach ich ihr, denn sie weigerte sich, dass ich sie tröstete. „Und abwarten, was geschieht.“
Und so brachte ich nicht nur sie, sondern auch einen weißen Hirsch zurück in die Stadt. Er wurde zwei Tage später zu dem Festmahl gereicht, mit dem die Rückkehr ihres Vaters gefeiert wurde.
Und das Mädchen und ihr Bruder lachten wieder, denn ihrer beiden Namen bedeuteten Freude.“
„Hat dein Herr dich bestraft?“, fragte Lean neugierig.
„Nein“, erwiderte Cherew, denn die Jagd des weißen Hirsches war Schedela als ein großer Verdienst für ihren Stamm angerechnet worden, mit dem sie in diesen endgültig aufgenommen worden war und ihren Götternamen erhalten hatte. Zehn Jahre. Jekar hatte sich unglaublich gefreut, galt ein frühzeitiges Ablegen der Prüfung, die für gewöhnlich erst mit dreizehn bis sechzehn absolviert wurde, doch als ein großes Glück.
„Lebt sie noch? Das Mädchen?“ Cherew dachte an das Mädchen, an ihr Lachen, ihre Neugierde. Nichts davon hatte er in der Frau entdeckt, die er im Bankettsaal des Palastes gesehen hatte. Selbst ihr Lachen war davon intendiert, Männer an sich zu binden.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist lange gestorben. Sie hat nur eine ältere Schwester, deren Name Rache bedeutet.“
Lean schnaubte auf. „Wer nennt sein Kind denn Rache? Barbaren.“
Cherew musste lächeln. In Iderra trugen die Frauen Namen, die Schönheit, Anmut, Zierde ihres Mannes oder liebliche Blume bedeuteten und bewaffneten sich mit Kleidern, Lächeln in den richtigen Momenten und Worten.
„Allerding hat die Frau eine Nichte, ein Mädchen, das mich braucht.“
Lean musterte ihn aufmerksam. „Und du wirst zu ihr zurückkehren?“
Cherew nickte. „Ja.“
„Gut. Vielleicht wird sie sich ja erbarmen, ihr einen Namen zu geben“, meinte sie und deutete auf die Hündin in Cherews Schoß. Bisher hatte er sich geweigert, sie zu benennen. Es war ein letztes Zugeständnis an seine eigene Furcht, an die namenlosen Hunde, deren Angriff er nur mühsam abgewehrt hatte. Hunde wurden nicht benannt.
„Also, was wolltest du sagen?“, lenkte er das Gespräch auf den Hintergrund seiner kurzen Geschichte zurück.
„Ich meinte doch nur, dass der Prinz und seine Verlobte ihre privaten Gespräche im Garten führen“, wiederholte sie verständnislos, „dort werden sie von allen beobachtet, doch niemand kann sie belauschen, weil das Gelände zu offen ist. Im Palast sind überall Diener und mögliche Zeugen. Jeder Liebesschwur wird doch sofort dem Hoftratsch zugetragen.“
Aufgebracht starrte er sie an, weil sie ihm plötzlich ein weiteres Puzzleteil zutrug, mit dem er möglicherweise weitere verbinden konnte. Liraans Treffen mit Hishen Tej. Gareks Forschungen. Die plötzliche Abreise. Tatsache war, dass er bei den Wachdiensten, die er bei Pujabaat gestanden hatte, nie etwas bemerkt hatte. Er hatte sich mit unzähligen Leuten getroffen, Beziehungen geknüpft, neue Handelsabkommen ausgehandelt und die kerajaanischen Interessen vertreten, alles in seinen Gemächern. Und mit einer Regelmäßigkeit, die angesichts der Vielzahl von Arbeit und Verpflichtungen erstaunlich war, spazierte er immer während der höchsten Mittagsstunde und der höchsten Nachtstunde durch die Gärten, wobei ihn immer eine andere Person begleitete. Bewachen ließ er sich von zwei Männern, doch Cherew war niemals darunter gewesen.
„Ich brauche deine Hilfe, Lean“, meinte Cherew, dem plötzlich eine Idee gekommen war.
Ihre Augen funkelten aufgeregt. „Wobei?“, fragte sie.
Und er erklärte es ihr.
Die kostbare Stunde, die ihm noch blieb, bis er bei seinem Dienst zurückerwartet wurde, nutzte Cherew, um in die Stadt zu gehen. Auf dem Gewürzmarkt suchte er sich einen Händler, der in fünf Tagen mit einer Karawane nach Jurhagist aufbrechen würde und noch einen Wächter für die Reise suchte. Er erwartete keine Schwierigkeiten dabei, den Palast zu verlassen, doch für die Stadttore war es besser, sich eine entsprechende Tarnung zuzulegen.
„Es geht mich nichts an, woher du kommst, Jüngchen“, knurrte der braungebrannte, weißhaarige Händler namens Shigkar, „aber Ärger will ich nicht.“
„Und Ihr werdet keinen bekommen“, versprach Cherew und mit einem Handschlag war das Geschäft besiegelt.
„Sei zwei Stunden vor dem Morgengrauen bei meiner Lagerhalle am Platz des guten Geruchs. Wir wollen bei der Öffnung vor den Stadttoren stehen.“
„Das werde ich“, erwiderte Cherew. „Kann ich in der Lagerhalle ein paar Sachen für mich hinterlegen?“
Shigkar musterte ihn. „Ich bin ein ehrenwerter Händler und schmuggle weder Alkohol noch Opium. Es wird von meinen Männern durchsucht werden.“
Cherew verneigte sich. „Selbstverständlich.“ Er gedachte weder das eine, noch das andere zu tun. Allerdings wäre es auffällig, wenn er den Palast mit Gepäck verlassen würde.
Mit dem wenigen Geld, das er besaß, kaufte er ein paar Sachen für die Reise ein. Hoffentlich war es nicht zu auffällig, dass er mit kerajaanischen Münzen bezahlte. Bereits zuvor hatte er ein paar Sachen beiseitegeschafft: Einen Mantel, ein Hemd, die er nun ebenfalls in das Lagerhaus von Shigkar brachte.
Zu seinem Dienst schaffte er es nur noch pünktlich, weil er den Rest des Weges rannte, was ihm sein Bein mit Schmerzen für den Rest des Tages vergalt.
Der Rest seines Dienstes war unspektakulär und kurz vor Mitternacht schlich sich Cherew aus dem Schlafraum, um sich mit Lean bei den Gärten zu treffen.
Die königlichen Palastgärten galten als ein Meisterwerk der Gartenkunst, doch Cherew hatte keinen Blick für Blumenbeete und kunstvoll arrangierte Kakteengewächse, sondern suchte nach möglichen Verstecken. In wenigen Minuten würde Pujabaat zu seinem Mitternachtsspaziergang auftauchen. Aufgrund dieser ungewöhnlichen Zeit waren die Gärten fast verlassen. Irgendwo unterhielten sich ein paar betrunkene Männer mit schlechten Witzen, anderswo knutschte ein Liebespaar, das Cherew und Lean nicht einmal bemerkte.
Schließlich fand Cherew einen Busch, der für seine Zwecke genügte und wo er die Pforte, durch die Pujabaat kommen müsste, im Auge behalten konnte.
„Niskon wird so eifersüchtig sein, wenn ich ihm davon erzählte“, kicherte Lean, wie sie sich in den Busch drückten.
„Ich hoffe, du tust es nicht“, knurrte er. Zwar gedachte er nicht, allzu lange in Iderra zu verweilen, doch konnte er es wahrlich nicht gebrauchen, Teil des Hofklatsches zu werden – oder dass seine schlechte Lüge gegenüber Lean über seine eigentliche Position am Hof aufflog.
„Wieso nicht? Ich muss ihm doch zeigen, was er verlieren würde, wenn er eines der Mädchen heiratet, die seine Mutter ihm aufschwatzen will.“
„Leise jetzt“, wisperte er. Soeben hatte Pujabaat mit Liraan den Garten betreten. Weitere Wachen waren heute nicht zu sehen.
Zu ihrem Glück kamen die beiden in ihre Richtung und schlenderten gemächlich einen der mit Kies bestreuten Wege entlang.
„... mentale Verfassung bereitet mir Sorgen“, meinte Liraan soeben. „Er ist unberechenbar.“
„Aber willens und mit der perfekten Motivation, die niemand tiefergehend hinterfragen wird“, erwiderte Pujabaat, „es wird gelingen.“
„Was ist mit der Prinzessin?“
„Sie muss auf bestialische Art und Weise sterben. Ich brauche einen Krieg, der Iderra bindet, und es unfähig macht, sich unseren Bestrebungen entgegenzustellen. Umso mehr, wenn es nicht gelingen sollte, den Plan in seiner Gesamtheit auszuführen. Es ...“
Die beiden blieben an einem kleinen Teich stehen. Sie schreckten einige Vögel auf, die sich mit lautem Kreischen in den Himmel erhoben und die folgenden Worte übertönten. Vorsichtig bedeutete Cherew, Lean näher an die beiden heranzukommen.
„... keinen, der sich der Allmacht unseres Kaisers entgegenstellen könnte. Tasiri zerreibt sich in seinen wundervollen Stammesfehden, Luurik wird der Seuchen nicht Herr, die ihre Bevölkerung hinwegraffen, Notavik wird sich wie auch bisher nicht einmischen, bis es für sie zu spät ist, Merinaar ist zu schwach und bekriegt sich wieder mit den Lendri.“
„Ühlekohpu?“
„Verdammtes Piratenpack“, spie Pujabaat aus, sodass seine Stimme über das Wasser hallte. Kurz darauf senkte er sie wieder. „der Kaiser hätte schon lange bei ihnen aufräumen sollen. Eine Strafexpedition auf ihre Inseln und die Problematik wäre gelöst. Aber auch sie haben nicht die Macht, sich uns entgegenzustellen. Nein, wenn wir Iderra endgültig niederringen, ist die Vormachtstellung unseres Kaisers auf unserem Kontinent gesichert.“
Die beiden gingen weiter, bis sie sich in einem kleinen, offenen Pavillon niederließen. In der Nähe fand Cherew erneut einen Busch, in dem er und Lean sich verstecken konnten.
„... Schedela“, beendete Pujabaat soeben seinen Satz und Cherew verfluchte seine Langsamkeit.
„Gut“, meinte Liraan, „was ist mit dem Sklaven?“ Überrascht bemerkte Cherew, dass damit er selbst gemeint war. Atemlos duckte er sich tiefer in sein Versteck.
„Er hat seine Schuldigkeit getan.“ Pujabaat wirkte gleichgültig. „Soll er im Haushalt meiner Frau dienen, dass sie noch einen weiteren Grund hat, mir meine Ungerechtigkeit anzukreiden. Wer weiß, wenn sie mir endlich einen Sohn schenkt, darf sie ihn verkaufen.“
Pujabaat schlug gegen etwas, vielleicht das Holz des Pavillons. „Warum heirate ich denn die Base des Kaisers, wenn nicht, damit sie mir Anwärter auf den Kaiserthron gebiert?“
„Euer Plan wird dem gewiss Abhilfe schaffen“, meinte Liraan vorsichtig.
„Gewiss. Doch bevor wir uns Callinger zuwenden, müssen wir uns um Iderra kümmern.“
„Noch vier Tage.“ Cherew überlegte. In vier Tagen würde der Botschafter mit einem opulenten Gastmahl aus Iderra verabschiedet werden, am Morgen danach würden sie abreisen. Und in dieser Nacht, wenn alle sich betrunken hatten, plante Cherew zu fliehen.
„Der Kaiser wird zufrieden sein.“
Pujabaat schnaubte. „Es ist eine Schande, Liraan, dass ich seine politischen Fehler ausbügeln muss. Wenn ich scheitere, würde er mich, ohne zu zögern, fallen lassen.“
„Aber eigentlich liebt Ihr es.“
„Ja“, antwortete Cherews Herr, „ich muss kein Schwert wie du führen, um das Leben eines Menschen zu beenden. Bei mir genügt ein Wort in das richtige Ohr, das Ziehen von ein paar Fäden, um die richtigen Personen an die richtigen Orte zu stellen, das Schaffen von wenigen Verbindungen, und eine Herrscherfamilie ist nicht mehr als ein beiläufiger Vermerk in den Geschichtsbüchern, mit denen man meine Söhne quälen wird. Und dort wird es heißen, dass in vier Tagen der Untergang Iderras begonnen hat.“
„Was sagen sie?“, wisperte Lean, die kein Kerajaanisch verstand.
Cherew hätte sagen können, dass sie den Untergang ihrer Heimat planten, die politische Macht ihres Königs brechen wollten, doch er verstand das Wie nicht und wisperte ihr nur zu, dass sie leise sein müsste.
Zu laut.
„Da war doch etwas“, meinte Liraan plötzlich und Cherew hörte, wie er aufstand.
„Jetzt.“ Er stieß Lean an, die ihren Kopf mit zerzausten Haaren aus dem Gebüsch reckte und kicherte und „Komm, Liebling“ rief.
Wie erwartet, wandte der prüde Liraan sich ab und murmelte etwas davon, dass doch alle Iderranerinen Huren seien.
Cherew, der wusste, dass es Zeit war, zu gehen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, legte den Arm um Lean und taumelte Arm in Arm mit ihr davon. Es war zu dunkel, als dass sie aus dieser Entfernung erkannt werden könnten und Liraan oder Pujabaat machten keine Anstalten, ihnen zu folgen.
Erleichtert ließ Cherew Lean los, kaum, dass sie außer Sichtweite waren. Sie verließen den Garten in einen anderen Flügel des Palastes und gingen durch leere Flure.
„Das hat Spaß gemacht“, jauchzte die Dienerin. „Hast du denn etwas Nützliches erfahren?“
„Ich denke“, erwiderte er leise, „aber ich muss es noch verstehen.“
„Und was haben sie nun erzählt?“, fragte Lean ungeduldig.
„Ich erzähle es dir morgen, ja? Ich werde bei meinen Pflichten zurückerwartet.“ Das stimmte zwar nicht, aber er musste vor Liraan und Pujabaat in die Gemächer zurückgekehrt sein.
„Dann denkst du dir bis morgen auch einen Namen für die Hündin aus“, sagte sie in einem harschen Befehlston, den sie sich sicherlich von der Oberdienerin abgeschaut hatte. „Es gehört sich nicht, dass ein Tier keinen Namen hat. Das ist unhöflich.“
Cherew, der in Gedanken schon wieder bei dem Gehörten war, nickte nur. Ein Name für die Hündin war wahrlich das Letzte, worüber er jetzt nachdenken wollte.
Er verabschiedete sich von Lean und machte sich, während er weiter überlegte, auf den Weg zu Pujabaats Gemächern.
Pujabaat plante, die Macht des Königs zu brechen. Was hatte er noch gesagt? Dass er einen Krieg anzetteln wollte? Zwischen Iderra und ... Callinger? Indem er die Prinzessin töten ließ ...
Ruckartig blieb Cherew stehen.
Schedela.
Sie wollten Schedela töten
Hast du es endlich begriffen?, wisperte die Stimme, die erstaunlich lange geschwiegen hatte, du sollst die Nichte retten, doch von der Tante hat nie jemand gesprochen. Hast du selbst nicht gesagt, dass sie schon lange gestorben ist? Was kümmert es dich, wenn nicht nur das Mädchen, sondern auch die Frau stirbt?
Was kümmerte es ihn?
Es war neun Jahre her, dass sie miteinander gesprochen hatten.
Bestimmt waren es auch neun Jahre, dass Schedela überhaupt an ihn gedacht hatte.
Was schuldest du ihr denn?
Aber da war das Mädchen seiner Erinnerung, das ihn mit blutverschmierten Händen und tränenüberströmten Wangen anblickte und ihn anflehte, ihre Welt wieder in Ordnung zu bringen. Das Mädchen, dem er Ringen und Messerkampf beigebracht hatte. Und die Frau, die ihm vor zehn Jahren ihr erstes Messer geschenkt hatte, dass er ihr einst übergeben hatte.
„Du hast mir viel öfter das Leben gerettet, als es dir bewusst sein wird, Cherew“, hatte sie gesagt, „wie oft hatte meine Verteidigung von Angriffen nur Erfolg, weil du mich die richtigen Dinge gelehrt hast.“
Er hatte das Messer bei seiner Flucht zurückgelassen – wie alle seine Erinnerungstücke.
Die Gegenstände hatte er zurücklassen können, doch den Erinnerungen konnte er nicht entfliehen.
Schedelas Lachen, ihre unbändige Lebensfreude, ihre Zielstrebigkeit und ihr Ehrgeiz, wenn sie ihn wieder und wieder zu beeindrucken versuchte.
Verdammt.
Eine Wahrheit war, dass er ihnen nie entkommen würde. Eine andere war, dass er es sich nie verzeihen würde, dass er sein Leben gegeben hätte, um das Mädchen zu schützen, und sich der Frau verweigerte.
Du bist gegangen, um sie und Schedmasal zu schützen.
Nein.
Er war gegangen, um sich selbst vor ihrem Zorn zu schützen, von dem er wusste, dass er über ihn kommen würde.
Es war selbstsüchtige Feigheit gewesen. Eine Flucht vor der Verantwortung.
Mehr nicht.
Die dritte Wahrheit war, dass er nie aufgehört hatte, sie zu lieben. Sie, die Tochter, die er nie gehabt hatte.
In vier Tagen. Dann würde das Gastmahl sein, bei dem der Botschafter verabschiedet werden würde. Es würde dann geschehen, davon war Cherew plötzlich überzeugt. Pujabaat hatte einen Handlanger, der die Tat für ihn vollbringen würde.
Nur, dass sein Plan nicht funktionieren würde. Schedmasal würde niemals einen Krieg mit Iderra um einer Schwester willen führen, deren Tod ein Segen für ihn und seine politischen Ambitionen wäre.
Schedelas Tod wäre umsonst.
Er musste sie warnen.
Doch als er zu Pujabaats Gemächern zurückkehrte, erwartete Liraan ihn bereits mit verschränkten Armen im Türrahmen des Schlafsaals.
„Wo warst du?“, fragte er und starrte ihn an.
„Bei einem Mädchen“, antwortete Cherew, weil es das war, was man von ihm erwarten würde. Dennoch hoffte er, dass Liraan dem nicht weiter nachgehen würde. Er wollte Lean, auch wenn sie seine Geschichte sicherlich bestätigen würde, nicht in Schwierigkeiten bringen.
Liraan schnaubte. „Ein Wunder, dass dich jemand nimmt, Sklave. Aber du hast deine Pflichten verletzt.“
„Ja, Herr.“
„Kein Ausgang für dich bis zur Abreise.“
„Ja, Herr.“ Cherew stand still und verfluchte sich selbst.
Jetzt gefährdest du noch deine Flucht, du Narr!
Mit einer Kopfbewegung bedeutete Liraan ihm, dass er im Schlafsaal verschwinden sollte.
Cherew befolgte die Anweisung, legte sich auf die Matte, die ihm als Bettstatt diente, doch Schlaf fand er nicht mehr.
Verzweifelt überlegte er nach einer Möglichkeit, um Kontakt zu Schedela aufzunehmen.
Doch in den nächsten vier Tagen achtete Liraan aufmerksam darauf, dass Cherew Pujabaats Gemächer außerhalb seiner Aufgaben nicht mehr verließ, und brummte ihm außerdem all jene unangenehmen Tätigkeiten auf, die sonst niemand übernehmen wollte. Es gelang ihm nicht einmal, Lean zu besuchen, geschweige denn, dass er es vermochte, Schedela in ihrer Akademie aufzusuchen. Nun ärgerte er sich darüber, dass er Lean nicht in das im Garten Gesprochene eingeweiht hatte. Vermutlich würde sie sich nur über ihn und sein gebrochenes Versprechen ärgern, doch der Intrige war sie sich nicht im Geringsten bewusst.
Er wagte es nicht, die Gemächer noch einmal in der Nacht zu verlassen, auch wenn er den Wachen, die Liraan aufstellte, sicherlich entgehen konnte. Sicherlich konnte er auch behaupten, dass Pujabaat ihn zu einem nächtlichen Auftrag in die Stadt schickte, doch konnte er diese Ausrede nur einmal bringen, und wollte sie sich für den Augenblick seiner Flucht aufheben.
Cherew hasste dieses Gefühl der erzwungenen Tatenlosigkeit, des Gefängnisses, das sich zunehmend um ihn herum aufbaute und fühlte sich wie ein Tier, das um die wenigen Möglichkeiten kreiste, die ihm blieben.
Währenddessen wurden die Vorbereitungen für die Abreise des Botschafters getroffen. Es galt, das Gepäck zu packen, weitere Wachen für die Reise anzuheuern und diese zu planen. Die anderen hatten mittlerweile gehört, das Cherew seine Pflichten vernachlässigt hatte. Während die einen ihn deshalb noch mehr verachteten, fragten die anderen ihn über das Mädchen aus, mit dem er sich traf, und beneideten ihn offen.
Pujabaat ließ ihn nicht einmal zu sich rufen, es schien, als ob er seine Schuldigkeit für dessen Pläne erfüllt hatte. Doch zu seiner Überraschung wurde er dazu eingeteilt, diesen während des Abschiedsbanketts zu bewachen.
Das rückte rasch näher und eines Nachmittags fand sich Cherew mit einer der anderen Wachen namens Eliaan plötzlich auf dem Weg zum Bankettsaal, um dort ihre Positionen einzunehmen. Dabei mussten sie einen Umweg laufen und waren in der Nähe der Dienerquartiere.
Cherew, der wusste, dass sich ihm keine andere Möglichkeit bieten würde, bat Eliaan kurz auf ihn zu warten.
„Ich muss mich noch verabschieden“, murmelte er.
Eliaan, der ihm immer wohlgesonnen gewesen war, grinste. „Hat sie eine Schwester?“
„Drei“, antwortete Cherew, der nichts über Leans Familie wusste. „Sie arbeiten auch hier.“
„Dann stelle mir eine beim Bankett vor. Die Hübscheste.“ Cherew verdrehte die Augen. Und ihm wurde vorgeworfen, dass er seine Pflichten vernachlässigte?
„Natürlich.“ Er schlug Eliaan gegen den Arm, bedankte sich rasch und beeilte sich, zu Leans Kammer zu kommen.
Die Hündin, der er noch immer keinen Namen gegeben hatte, sprang ihm entgegen und fiepte aufgeregt, aber Lean war nicht da. Cherew verfluchte sich, er hatte nicht daran gedacht, dass sie natürlich ihren eigenen Pflichten nachging, und fragte sich zunehmend verzweifelt, was er denn jetzt noch tun konnte.
Er kritzelte eine Nachricht für Schedela nieder und eine weitere für Lean, in der er sie bat, diese an Schedela zu überbringen. Dabei bezweifelte er, dass Lean lesen konnte. Und außerdem würde man sie kaum zur Verlobten des Thronerben vorlassen.
Aber er konnte es nicht unversucht lassen.
Ratlos verließ er Leans Kammer wieder. Er wusste, dass Schedela Gemächer bei den adeligen Damen, die am Hof lebten, zugestanden worden waren. Doch er wusste auch, dass sie praktisch weiterhin in der Akademie wohnte und sich nur zu den entsprechenden Anlässen im Palast aufhielt. Vielleicht war sie dort und bereitete sich auf das Bankett vor, wahrscheinlich würde sie erst später eintreffen. Außerdem befanden sich ihre Gemächer am anderen Ende des Palastes.
Nein, er würde während des Banketts selbst eine Möglichkeit finden müssen, Schedela zu warnen. Voller Sorge über das, was geschehen mochte, lief Cherew zurück zu der Stelle, wo Eliaan auf ihn wartete.
Auf den Gängen waren nicht wenige Personen unterwegs. Diener erfüllten ihre Pflichten, ein Kindermädchen jagte einem vorlauten Bengel hinterher, der versuchte, eine Katze einzufangen. Männer der Palastwache liefen Patrouille.
Darunter ein Mann, der ihm vage bekannt vorkam, und soeben um eine Ecke bog. Eilig stieß Cherew einen Diener beiseite und packte Jalldred am Arm.
Sofort wirbelte dieser herum, die Waffe einer Palastwache bereits in der Hand.
„Was machst du hier?“, fragte er verblüfft.
Energisch schüttelte Cherew den Kopf und sprach auf pohiret weiter: „Dafür ist keine Zeit. Du musst zu Schedela gehen und sie warnen.“ Rasch blickte er sich um, doch es war niemand zu sehen, der sie hören konnte.
Jalldred starrte ihn nur an, verblüfft darüber, dass er seine Sprache sprach. „Wen soll ich wovor warnen?“
Zornig darüber, dass der Puidan die Scharade aufrechterhielt, und ihm somit kostbare Zeit stahl, fuhr Cherew ihn an: „Ich weiß, dass du mit Schedela hergekommen bist. Wenn dir ihr Leben wirklich etwas wert ist, solltest du dafür sorgen, dass sie an dem Gastmahl nicht teilnimmt. Und ich bin mir sicher, dass sie Schedmasal die Genugtuung nicht bieten will, hier zu sterben.“
Nun war es Jalldred, der ihn am Arm packte. „Was wird geschehen?“, fragte er aufmerksam. Die Waffe hielt er immer noch in der Hand.
„Man wird sie ermorden“, antwortete Cherew leise.
„Wer?“
Doch auf diese Frage schüttelte er nur den Kopf. Er konnte es nicht riskieren, selbst verhaftet zu werden, sodass seine Flucht gefährdet wurde.
Aber Schedela durfte nicht sterben. Nicht sie. Niemals sie.
„Wer bist du?“
Er zögerte. „Sag ihr, sag Schedela, dass Cherew sie warnt.“