Iderra, das Segment Ulaaruk, der sechste Tag vor Traapur
Es war eine merkwürdige nächste Woche, die Cherew in Iderra verbrachte. Auf Pujabaats Geheiß suchte er nach weiteren Informationen über Schedela und Callinger. Für die Bewachung seines Herrn wurde er außerhalb von dessen Gemächern nicht mehr eingeteilt. Er bekam nur mit, zu wie vielen Treffen Pujabaat unterwegs war. Wenn er einmal da war, schloss er sich zumeist in seinem Arbeitszimmer ein und arbeitete bis tief in die Nacht an Dingen, die Cherew nicht verstand.
Mittlerweile mieden ihn die anderen Wachen vollkommen, sodass er auch von ihnen schwerlich etwas erfuhr, was über die alltäglichen Pflichten hinausging. Führte er keine Aufträge für Pujabaat auf, neigte Liraan neuerdings dazu, ihm unbeliebte Aufträge zu übertragen. Cherew beschwerte sich nicht. Häufig führten ihn diese in die Tiefen des Palastes hinein, wenn er diesem oder jenem eine Botschaft überbringen oder etwas holen sollte. Dadurch lernte er ein paar von den unerlässlichen Positionsträgern kennen, die zumeist im Hintergrund blieben. Den Hauptarchivar, den Bewahrer der königlichen Schlüssel und den Stallmeister, so wie viele Dienstmädchen, die niemand groß beachtete. Mit ihnen plauderte er über tägliche Gewohnheiten der hohen Herrschaften und erfuhr außerhalb ihrer Essgewohnheiten auch noch manch Nützliches. Wie etwa der Tatsache, dass die Prinzessin Schedela an der Akademie der Sprachwissenschaft lernte und der Königin als Vorleserin diente. Damit lebte sie außerhalb des Palastgeländes. Zu den Gerüchten über sie und den Prinzen berichtete die redselige Zofe der Königin von den Gesprächen, die diese vor aller Augen im Palastgarten führten. Außerdem sei er immer da, sobald Schedela seiner Mutter vorlas. Erstaunlicherweise fiel während dieser Gespräche niemals der Name des Königs.
Zweimal sah Cherew Schedela aus der Ferne. Einmal wie sie auf den Weg in die Gemächer der Königin war und ein zweites Mal, als sie mit dem Prinzen im Garten spazierte. Die beiden unterhielten sich, so Cherew das beurteilen konnte, lebhaft. Bald, so erzählte eine Magd ihm, würde sie ihn gewiss auf eine Jagd begleiten. Vermutlich würde Schedela sie dort alle überraschen: Sie war eine herausragende Jägerin, viel besser, als ihr Bruder es jemals gewesen war. Kurz musste er an jenen Tag denken, als er die Geschwister auf ihre erste Jagd begleitet hatte. Als sie aufgebrochen waren, hatte es noch geregnet, doch wie sie den Wald erreichten, hatte die Sonne die Blätter in Gold, Rot und Orange aufstrahlen lassen. Schedela hatte ...
Hör auf, unterbrach die Stimme ihn, es ist vorbei.
Und natürlich hatte sie – wie so oft – Recht. Er hatte nichts mehr in ihrem Leben verloren – weder im jetzigen noch in ihrem vergangenen. Vorbei. Am besten war es, wenn er Pujabaat ungefährliche Informationen übermittelte und sie anschließend einfach vergaß.
Ebenfalls hörte er sich in der Stadt um, doch war dort kaum etwas über Schedela zu vernehmen. Zur Akademie der Sprachwissenschaften wurde ihm jedoch der Zutritt mit den Worten „Wenn der ehrwürdige Botschafter eine Information wünschte, solle e sich selbst hierhin bemühen“ verwehrt. Hochnäsige Iderraner! Mittlerweile begann selbst er, sie zu verachten.
Zu Cherews Glück gab es da ja noch den Informanten aus der Akademie, mit dem er sich eines Nachts erneut traf. Zwar hatte Garek ihm seine Position nicht genannt, doch war es mit dem Namen und seiner Arbeit als Wissenschaftler ein Leichtes gewesen, herauszufinden, wer er war: Ein aufstrebender Sprachwissenschaftler, der zu einer Berühmtheit Iderras avancierte und über Themen schrieb, deren Titel bereits lachhaft klangen. Warum ein Mann über Bücher brüten wollte, wenn er auch ein Schwert in der Hand halten konnte, entschloss sich Cherew nun wirklich nicht. Er fragte sich, was es über ein Volk aussagte, dass als die berühmtesten Landeskinder jene auserkor, welche die dicksten Bücher schrieben.
Wie dumm, dass es eines dieser Landeskinder war, welches mit dem Verrat spielte. Sicherlich gab es auch dafür eine unschöne Todesart.
Die Narben der Hundebisse juckten.
Verdammt.
Dieses Mal trafen sie sich in einem verlassenen Haus, das als verflucht galt, nachdem einer der Jugendlichen, die diesen Ort als einen Treffpunkt auserkoren hatten, gestorben war.
Obwohl Garek erneut einfache und verschmutzte Kleidung trug, missfiel es ihm eindeutig, sich an diesem verschmutzten Ort aufzuhalten. Derweil Cherew sich entspannt gegen die Wand lehnte, stand er steif inmitten des Raumes, darauf bemüht, nichts zu berühren.
„Ich möchte erfahren, was ihr über eine Schedela von Callinger wisst“, erkundigte Cherew sich, noch bevor Garek von seinen eigenen Informationen erzählen konnte. Er wusste, dass er dem Wissenschaftler mit dieser Frage Macht verlieh, doch wäre es dumm, diese Quelle verkümmern zu lassen.
Garek verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Schedela wurde bei den letzten Prüfungen in die sprachwissenschaftliche Akademie aufgenommen, von mir.“
In seinem letzten Gespräch hatte Garek erwähnt, dass er eine Spionin im unmittelbaren Umfeld der Königin platziert hatte. Ob es sich dabei wohl um Schedela handelte?
„Weshalb hast du sie als deine Schülerin erwählt?“
„Ich weiß nicht, ob Ihr mit den Prüfungen der Akademie vertraut seid?“ Er ließ es wie eine Frage klingen, doch eigentlich war es als Herablassung gemeint. Natürlich konnte er als vermeintlicher Kerajaaner nichts über das herausragende Wissenschaftssystem Iderras wissen. Er war eben ein ganz und gar ungebildeter Barbar. Cherew gedachte auch nicht daran, das zu ändern. Sollte Garek sich ihm gegenüber doch erst einmal mit dem Schwert beweisen.
„Berichtet mir.“ Sollte Garek sich dadurch doch besser führen. Vielleicht ließ ihn das ja unaufmerksam werden.
„Ein wichtiger Bestandteil der Prüfung ist es, etwas in vollkommener Weise zu zitieren. Schedela wählte eine mir unbekannte Ballade, die sie in vollkommener Art und Weise vortrug. Zudem ist ihre Sprache hier kaum geläufig und wird in unserer Sprachwissenschaft außerhalb ein paar Fußnoten kaum erwähnt!“
„Ihr saht in ihr also eine Möglichkeit, eine lebendige Sprecherin dieser Sprache zu nutzen?“, fasste Cherew trocken zusammen. Was für ein merkwürdiges Motiv das war! Diese Wissenschaftler waren doch alle ganz und gar verrückt.
Und sie nennen uns Barbaren!
Garek zuckte mit den Schultern. „Und die Erfolge geben mir Recht. Sie übersetzt alte Sprachbeispiele für mich und hilft mir eine Sprache zu entschlüsseln, von der wir nur einen winzigen Quellenkorpus haben. Außerdem habe ich die These, dass es noch eine weitere Sprache auf Callinger gegeben haben muss und vielleicht auch noch gibt. Einige Wörter sind erkennbar Lehnswörter einer anderen Sprache, die dem Iderranischen zwar ähnelt, diesem aber keinesfalls gleichzusetzen ist. Es gibt Geschichten darüber, dass vor einigen Jahrhunderten Iderri nach Callinger flohen. Womöglich bildeten sie dort eine neue Population und darüber hinaus sogar eine eigene Sprache aus, die fortan isoliert von der Sprache auf dem Festland existierte. Es …“ Vermutlich hätte er noch sehr viel länger, so fortgeredet, aber Cherew hob die Hand und wies ihn an, aufzuhören. Er hatte Gared nur weiterreden lassen, weil er wissen wollte, was dessen Kontrollverlust mit ihm machte. Seinem Gerede hatte er kaum noch zugehört, stattdessen ihn aufmerksam beobachtet. Beim Reden, so hatte er gesehen, bekamen Gareds Augen einen fieberhaften Glanz, seine Bewegungen wurden ausufernder und er nahm sich mehr Raum. Es schien, als ob ihn die Wissenschaft selbstbewusster werden ließ, als ob erst sie ihm half, zu sich selbst zu finden. Ja, er definierte sich sehr, durch das, was er erforschte. Verrückter Kerl. Aber er versprach Cherew Informationen über Schedela.
Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass ich jene Sprache beherrsche? Egal. Er würde es nie erfahren. Cherew beherrschte das Kerajaanische seit seiner Sklavenzeit fließend und würde sich mit Garek in keiner anderen Sprache unterhalten.
„Wie kommt es, dass Prinzessin Schedela am Königshof ist? Sie dient der Königin höchstselbst als Vorleserin, eine hohe Position für einen Flüchtig, wie ich meinen möchte.“
„Natürlich habt ihr Kerajaaner gewiss eigene Methoden für den Umgang mit Flüchtlingen gefunden, doch in Iderra sind wir die Meinung, uns ihre Fähigkeiten und ihr Wissen zu Nutze zu machen.“ Sein Tonfall sagte, dass er das für die weitaus bessere Option hielt und keiner etwas Gegenteiliges zu behaupten hatte. „Die Königin hat eine Vorleserin aus meiner Akademie gesucht und ich hielt Schedela für die beste Wahl. Und ich habe wahrlich keinen Grund an ihrer Befähigung zu zweifeln. Sie erfüllt ihre Aufgabe so gut, dass inzwischen sogar der verehrte Prinz ihre Gegenwart sucht.“
Cherew glaubte ihm kein Wort. Mit Sicherheit hatten er und Schedela eine Vereinbarung geschlossen, womit sie durch seine Verbindungen an den Königshof gelangt war. Aber was für einen Vorteil brachte ihm das?
„Vielleicht interessieren Euch ja auch mehr die Ansichten, welche die Bevölkerung über Euren Botschafter hegt?“, fragte Garek mit einem Hauch von Liebenswürdigkeit in der Stimme.
Mit einer Handbewegung forderte er Garek auf, fortzufahren. Es wäre sinnlos, ihn in Bezug auf Schedela weiterhin zu bedrängen. Immerhin schien er noch nicht gewillt, diese zu verraten, sondern hielt an ihr und ihrer Nähe zur Königin fest. Was er sich wohl davon erhoffte?
„In den Straßen verbrennt man mittlerweile Figuren kerajaanischer Soldaten und Frauen verkaufen auf dem Markt Schutzbringer gegen den bösen Blick des Botschafters“, berichtete er mit einem Lächeln. Bedauern schien er diese Entwicklung nicht im Geringsten. Verächtlich fügte er hinzu: „Man scheint völlig vergessen zu haben, dass Iderra eine kerajaanische Provinz ist.“
Interessant, dass Garek sich davon ausnahm. Vielleicht war ihm durch seine Spionagetätigkeit der drohende Blick Kerajaans allzu sehr bewusst.
Die Unbeliebtheit des Kaisers und dadurch auch seines Botschafters konnte sich allerdings durchaus zu einem Problem entwickeln.
Der König hatte wahrlich genug unternommen, um die Iderraner an ihre eigene Großartigkeit und Macht glauben zu lassen. Er war es, der die Schlachten des Kaisers gewonnen und dessen Thron gerettet hatte. Er war es, dem man in den Straßen zujubelte. Und er war es, den man die Hoffnung Iderras nannte. Der Kaiser dagegen war ein Fremder, der aus der Ferne Bedingungen stellte, welche die Iderraner zunehmend als Anmaßung und Bürde empfanden.
Kein Wunder, dass Pujabaat das iderranische Volk als ein Problem erachtete.
„Gut, hast du weitere Informationen, die für den Botschafter relevant sind, oder willst du mich weiter mit Ammenmärchen unterhalten?“, fragte er betont gelangweilt.
Garek hob die Augenbrauen. „Für gewöhnlich ist es Aufgabe der Sklaven, sich Ammenmärchen auszudenken, um ihr eigenes Schicksal zu beklagen“, erwiderte er.
Cherew ignorierte es. Um ihn zu beleidigen oder gar zu verletzten, kannte Garek ihn längst nicht gut genug.
„Also?“
Der Iderraner seufzte. „Er soll sich an Hishen Tej, den Neffen des Königs, halten. Als Informant dürfte er gänzlich ungeeignet sein, dafür ist er zu wenig in die Beratungen seines Onkels involviert oder daran zu uninteressiert. Aber es scheint in der jüngeren Zeit ein Zerwürfnis der beiden gegeben zu haben, das Hishen Tej verbittert hat. Die jugendliche Wut dürfte sich sicherlich für die Zwecke des Botschafters nutzen lassen.“
Cherew hatte schon von dem Neffen des Königs gehört. Unter den Mägden war er für seinen trunkenen Zorn gefürchtet, der leitende Archivar, welcher von der Königin so sehr geschätzt wurde, hatte über dessen Unbelehrbarkeit gegenüber Historie und Tradition geklagt.
„Ich werde es dem Botschafter mitteilen. Weiteres?“
Garek kramte in der Umhängetasche, die er bei sich trug, und holte ein mit einer Kordel zusammengebundenes Bündel Papier hervor.
„Wie gewünscht, sind hier meine Forschungen. Seid achtsam damit, ich habe viel Arbeit darin investiert. Es sind jedoch nur erste Ansätze, ich werde eine konkrete Ausarbeitung einreichen, wie es mir die Zeit erlaubt.“
Elendiger Bastard. Und zugleich so ein Narr.
Dennoch drückte er Cherew das Papierbündel in die Hand. Da er keine Tasche dabei hatte, verbarg er es unter seinem Mantel.
Er verspürte wenig Lust an einer weiteren höflichen Konservation mit Garek, also nickte er ihm einmal zu, um ihm zu bedeuten, dass das Gespräch beendet war, dann verließ er das Haus.
Draußen waren die Straßen fast vollkommen verlassen. Aus einigen Schänken drang noch immer trunkenes Gelächter, Bordelle beglückten ihre Kunden, Hunde kläfften fliehenden Katzen hinterher, und Wachen liefen Patrouille, welchen Cherew allerdings aus dem Weg ging. Irgendwo fluchte jemand einer Diebesbande hinterher, anderswo gebar eine Frau lautstark schreiend ein Kind in diese hässliche Welt hinein.
Es war nur ein winziger Moment, in dem Cherew unaufmerksam gewesen war, ein Augenblick, in dem er nach einem aus einer Schänke dringendem Lied, das ihm vage bekannt vorkam, gelauscht hatte. Im nächstem lag er auf dem Boden, während zwei Männer lachend weiter die Gasse hinabrannten. Fluchend richtete Cherew sich auf und begann die Papiere, die sich beim Sturz aus dem Bündel gelöst hatten, wieder einzusammeln. Zum Glück verschaffte ihm eine Laterne, die über ihm im Wind flackerte, ein wenig Licht. Und zu seiner Erleichterung hatte Garek die Blätter foliiert, sodass er sie rasch wieder in die richtige Reihenfolge bringen konnte.
Er war schon fast fertig, als er in seiner Arbeit stockte. Denn die Schrift, welche einer der Seiten in eleganten Buchseiten schmückte, war ihm sehr wohl bekannt. Es war lange her, dass er sie zuletzt gesehen hatte und doch konnte er sie sofort wieder zuordnen: Schedela.
Dabei hätte er es fast erwarten können, war es doch nicht ungewöhnlich, dass Schüler ihren Lehrern zuarbeiteten.
Und doch stand er wieder hier, in einer dunklen Gasse, wie erstarrt, während seine Augen Worte lasen, die nicht für ihn bestimmt waren:
Und kaum, dass es geboren war, brachte Pirelet der Heimatlose ihnen das Kind, einen Jungen, stark und kräftig.
„Ein Kind für ein Volk, eine Heimat“, sprach er zu ihnen, „so wie es in den Eiden vor seiner Geburt geschworen ward.“
„Es ist unser“, stimmten sie ihm zu, „noch bevor es gezeugt wurde, war es das, und es wird unser sein auf immer. Wir sahen es davor, denn es verlangte uns nach diesem Kind, damit es uns und unseren Zwecken dient.“
„Diene es euren Zwecken, so wie es den meinen diene“, erwiderte Pirelet, „denn heute ist der Tag, an dem das Königreich meines Vaters neu geschmiedet wurde. Ich werde heimkehren!“
„So sei es“, bestätigten sie und gingen mit dem Kind, dessen Geschrei immer leiser wurde.
Pirelet der Heimatlose kehrte zurück in seine Heimat, aber gewinnen konnte er sie nicht, sondern starb dort den Tod eines Narren.
Denn das ist die Strafe der Götter für jene, die sich mit diesen einlassen und Eide geben, die niemals gegeben werden dürfen.
Von Pirelets Kind aber ward nimmer etwas gehört.
Damit endete Schedelas Handschrift, doch die Worte gruben sich tief in Cherews Gedanken, so wie es jene früheren Worte getan hatten, vor denen er so lange geflohen war.
Wirre Stimmen, die in seinem Kopf schrien.
Du bist Tsavarty. Die Erfüllung jenes Eides, den Jekar uns gab.
Ein Enkel für ein Königreich.
Unser.