Iderra, der erste Marami des Segments Retoldut
»Es ist Zeit.« Schedela nahm die Zügel ihrer Stute auf, tätschelte ihr kurz den Hals und lenkte dann den Blick von der Stadt vor ihr nach hinten, wo ihre treuen Begleiter warteten. »Lasst uns beginnen, den Thron Callingers zu erobern.«
Sie nahm sich die Zeit, jedem einzelnen von ihnen ermutigende Zeichen zu geben, waren sie doch aus Treue zu ihr in ein fremdes Land gereist. Insgesamt waren es sechsundzwanzig Callingeraner sowie der einheimische Führer.
Dieser war es auch, der sich aus der Gruppe löste und vor sie sprang.
Er neigte den Kopf und fragte dann: »Euch in die Stadt hineinbringen? Wohin?«
Über die Tage hatten sie gelernt, sich mithilfe von Zeichen und Brocken des Kerajaanischen zu verständigen.
Schedela warf Jalldred einen Blick zu. Der junge Mann verstand zwar ihre Sprache nicht, doch konnte er sich aufgrund der Ähnlichkeit des Iderranischen und des einiges aus dem Kontext erschließen. Wer wusste schon, an wen er seine Informationen weitergeben würde?
Doch schließlich entschloss sich Schedela dazu, die Wahrheit zu sagen. Früher oder später würde er es sicherlich erfahren, war es doch gerade ihr Ziel, in der Stadt bekannt zu werden.
»Zum Königshof«, antwortete sie also.
Der Mund des Mannes stand offen. »Zu König?«, fragte er und formte mit den Händen eine Krone, von der Schedela wusste, dass sie auf dem Kontinent als Zeichen der Herrschaft galt.
Als sie nickte, schüttelte er heftig den Kopf.
»Dass nicht dürfen«, widersprach er, »nicht zu König.«
Wiederum spürte die Frau, wie sich der Zorn tief in ihr regte. Manchmal erschien ihr dieser wie ein Tier zu sein, welches sie höchstens oberflächlich zu bändigen vermochte.
»Wieso?«, fragte Jalldred den Iderrani. Er kannte sie gut genug, um ihre Stimmungsschwankungen hervorsehen zu können. Sie wusste, dass er ihr die Hand auf die Schulter legen würde, wären sie alleine. Doch das waren sie nicht und so verblieben ihm nur die besorgten Seitenblicke.
»Er euch nicht empfangen. Ihr nicht würdig.«
Schedelas Stute wieherte, weil sie die Zügel ruckartig angezogen hatte.
»Ich bin die rechtmäßige Königin von Callinger. Ich habe alles Recht hier zu sein«, entgegnete sie, darum bemüht, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.
Verwirrt blickte er sie an, vermutlich hatte sie zu schnell gesprochen.
Er zuckte zusammen, sowie Jalldred sich zu ihm herab beugte. »Wir haben Geschenke mitgebracht.«
Schedela nickte. Sie selbst hatte dafür gesorgt, wo sie doch wusste, dass Könige diese erwarteten. Und im Gegensatz würde er ihr Anerkennung zollen.
Der Mann schüttelte wiederum den Kopf. »Man nicht geben Geschenke hier. König nicht bestechlich sein.«
Es hatte nichts mit Bestechlichkeit zu tun, nur mit Ehrerbietung, doch schien dies der … Nein, Schedela musste sich daran erinnern, dass sie sich in einem fremden Land, einer fremden Kultur befand, deren Menschen andere Bräuche haben würden.
»Erzähl uns. Wie wird man zum König vorgelassen?« Dies war einer der Momente, wo Schedela dankbar für Jalldreds Pragmatismus war. Er machte sich wenig daraus, neue Ideen aufzugreifen, wenn die eigenen scheiterten.
Der Iderrani lächelte, wobei seine weißen Zähne aufblitzten. »Man nicht wird vorgelassen, man gerufen wird. Der König muss hören von Euch, er muss Euch wollen, weil ihr beeindruckend seid.«
Schedela nickte. Dies war etwas, was sie kannte und verstand. Zwar war es die Pflicht eines Herrschers, auch die Armen anzuhören, doch hatte man eine bessere Chance, je bekannter man war.
Sie bedankte sich nicht bei dem Mann, sondern wandte sich zu ihrem treuen Offizier. »Wir werden also in die Stadt einreiten, ohne direkt zum Königspalast zu gehen. Aber so wird er von uns hören. Ich denke nicht, dass eine fremde Königin allzu oft hierherkommt. Es ist eine Stadt in der Wüste, fernab jeglicher Zivilisation.«
Der Iderrani rang die Hände und schüttelte immer wieder den Kopf. »Nicht. Ihr ihn beeindrucken müsst. Ihr würdig sein müsst, in seine … Gegenwart kommen.«
Schedela konnte nicht verhindern, dass ihre Hände um die Zügel sich zu Fäusten ballten. Sie hatte keine Geduld dafür, darauf zu warten, was ein Sandjunge ihr zu sagen hatte. Sie wollte wieder zurück in die Heimat, wo die Luft am Morgen vor Feuchtigkeit dampfte und die Wiesen von Blumen übersäht waren. Dort, wo die Bergspitzen silbern funkelten und irgendwo immer Wasser plätscherte.
Wiederum war es Jalldred, der das Wort ergriff und verhinderte, dass Schedela den Mann anschrie, der wahrscheinlich doch nur zu helfen versuchte – oder auf eine weitere Belohnung für seine Dienste hoffte.
»Wie beeindruckt man einen iderranischen König?« Wäre Schedela nicht so angespannt gewesen, so wären Jalldreds Versuche einer Zeichensprache, durchaus amüsant zu beobachten.
»Wissen«, antwortete der junge Mann prompt, »Iderra die Stadt der Wissenschaften ist. Die Akademien … des Königs Stolz.«
»Die Akademien«, murmelte Schedela leise, die sich an etwas erinnert fühlte, was ihr jemand von Segmentjahren gegenüber erwähnt hatte. Sie war noch nie auf dem Kontinent gewesen und doch hatten die Akademien Iderras irgendwie ihren Weg in das callingeranische Sagengut gefunden.
»Erzähl von ihnen«, verlangte sie und erfuhr durch ihren Führer, dass es sieben Akademien in Iderra gab, die Wissenschaftler und Forscher vom ganzen Kontinent anzogen. Es gab eine Akademie für die Botanik, eine für die Biologie, eine, die sich dem Trivium der Sprachwissenschaften verschrieben hatte, eine für die Geschichtswissenschaften, eine, der die Forschung des Rechts oblag, und die jüngsten beiden widmete sich der Mathematik und der Philosophie.
»Die Aufnahmeprüfungen sind« berichtete der Mann sichtlich stolz, »die ganze Welt bemüht sich um Plätze an den Akademien! Es sind herrliche Wettkämpfe! Ihr werdet sehen, wenn da seid.«
»Die ganze Welt?« Schedelas Blick wanderte zu der Stadt, die sich vor ihr mit all ihrer Majestät und Pracht ausbreitete.
»Schedela.« Jalldreds leisen Einwand hörte sie selbst über das Geplapper des Iderrani hinweg. Sie hörte den Missfallen an seiner Tonlage.
Sie beachtete ihn nicht, sondern stieß ihrer Stute die Fersen in die Flanke.
»Lasst uns aufbrechen.«
Iderra war eine Stadt, größer als alles, was Schedela zuvor gesehen hatte. Sie hatte sich noch nicht einmal vorstellen können, dass so viele Menschen an einem Ort gemeinsam leben konnten. Die Iderraner bauten in die Höhe und in die Breite. Elegante Säulenreihen umrahmten filigran gemeißelte Wände und in dem Gold der Zwiebeltürme spiegelten sich die Häuserdächer. Die Straßenzüge waren, so schien es Schedela, gewollt und symmetrisch angelegt. Es wirkte wie ein Stern, in dessen Zentrum sieben Pyramiden aufragten.
In den Straßen drängten sich Sänften mit goldbehängten Männern und Frauen an Pferdekarren vorbei, Sklaven wichen vor Soldaten zur Seite und korpulente Händlerinnen schubsten rücksichtslos Kinder beiseite, die ihre Waren zu stehlen versuchten. Schon bald musste Schedela erkennen, dass ihr Wüstenführer recht gehabt hatte. Kaum jemand beachtete sie und die Menschen wichen höchstens zur Seite, weil sie nicht unter die Hufe der Pferde geraten wollten, nicht aufgrund der Aufmachung von Schedela und ihrer Gefolgschaft. Diese Tatsache missfiel ihr, musste sie doch erkennen, dass sie sich nun vollends auf fremdem Terrain befand. Sie hatte geglaubt, diesen Ort aufgrund der Geschichten und Legenden ihrer Heimat zu kennen und stellte nun fest, dass dem nicht in Geringsten so war.
Und dennoch bedeutete dies nicht, dass sie es sich leisten konnte, Zeit zu verlieren.
Und so stand Schedela nur Stunden später auf dem großen Platz mit den sieben Pyramiden. Gold schmückte die Eingänge und die Spitze der gewaltigen Gebäude, die aus weißen, gleichförmigen Quadern errichtet worden waren.
Auf dem Platz, der größer war, als die Hauptstadt Tsarem ihrer Heimat, hatte sich eine große Anzahl von Personen versammelt, die aus aller Herren Länder zu stammen schien. So drehte sich niemand verwundert nach ihr um oder beachtete sie weiter. Auch der Mann, der die Anmeldung für die Wettkämpfe verwaltet hatte, war nicht weiter auf ihre Herkunft eingegangen. Er hatte nur ihren Namen erfahren wollen, sowie ihre Sprachkenntnisse. Dass Schedela Bruchstücke des Kerajaanischen sprach, schien ihm zu genügen.
Jetzt, wo Schedela hier war, verstand sie auch warum: Iderranisch war noch nicht einmal die häufigste Sprache, die ihre Ohren vernahmen. Die Vielzahl konnte sie nicht zuordnen, auch wenn sie sich sicher war, dass niemand aus ihrem eigenen Volk hier war.
Dafür gab es so viel zu sehen!
Jalldred, der ihr Vorhaben für Wahnsinn erklärt hatte – was sie nicht weiter störte, da er dies in der Regel bei allem tat, was sie vorschlug – war nicht hier. In der Mitte des Platzes befanden sich nur diejenigen, die auch für die Wettbewerbe zugelassen wurden, mit denen man sich für eine Aufnahme bei den Akademien qualifizieren konnte. Schedela, der es weniger darum ging, als vielmehr um das Erregen von Aufmerksamkeit, sah sich neugierig um.
Rasch bemerkte sie, dass Personen in weiten Roben herumgingen, welche die Versammlungen auflösten und Gruppen bildeten. Auch Schedela fand sich in einer solchen Gruppe wieder. Ihre Gemeinsamkeit bestand darin, dass sie alle Kerajaanisch sprachen.
Bald fiel ihr auch auf, dass vor jeder einzelnen Pyramide eine große Tafel aufgebaut war, an der jeweils sieben Personen saßen. Ein Mann in einer Robe trat zu ihnen, machte sich Notizen auf seiner Wachstafel und erläuterte, dass sie zunächst warten müssten und dann als dritte Gruppe zu der Pyramide direkt vor ihnen gehen sollten.
Es gab keinen Schatten auf dem Platz und so blieb ihnen nicht viel übrig, als an Ort und Stelle zu verbleiben. Findige Händlerinnen gingen herum und verkauften aus Eimern oder kleinen Bauchkästen Getränke und Speisen. Schedela, die es nicht für nötig befand, sich am Gespräch der anderen zu beteiligen, beobachte stumm, was weiter geschah und überlegte sich, was die Prüfungen von ihr verlangen könnten. Man hatte ihr gesagt, dass sie keine Waffen brauchen würde, was sie zuerst enttäuscht hatte, denn Schedela war eine geschickte Bogenschützin und als Kind zudem in Speer und Schleuder ausgebildet worden. Jedoch hoffte sie, dass Kriegsstrategien ein Themengebiet wären und begann, verschiedenste Theorien zu wiederholen. Trinkwettbewerbe waren bei ihrem Volk beliebt, doch erschienen sie ihr als nicht passend für die eleganten Pyramiden zu sein.
Als sie die Gruppen beobachtete, die direkt vor den Tischen befanden und von denen sich wohl einzelne Personen ihrer Prüfung unterziehen musste, stellte sie fest, dass es wirklich nicht um Kampfwettbewerbe ging. Niemand rang, niemand warf Messer. Überhaupt konnte Schedela die Gruppen nur reden sehen, auch wenn sie die Worte freilich nicht verstand.
Endlich war auch ihre Gruppe an der Reihe und sie wurden vor den Tisch gerufen, an dem sieben Personen unterschiedlichen Alters saßen. Sie alle trugen ähnliche Roben in unterschiedlichen Farben und mit unterschiedlichen Wappen. Schedela vermutete, dass jeder von ihnen zu einer anderen Akademie gehörte. Eine Frau mit einer Wachstafel, die seitlich des Tisches stand, erfragte ihre Namen und protokollierte sie.
Dann stellte sie eine Kiste mit geöffnetem Deckel auf den Tisch und deutete auf Schedela. Sie bemühte sich, stark und mutig zu wirken, um sie zu beeindrucken, doch zerfiel ihre Selbstbeherrschung, sobald sie den Inhalt der Kiste erkannte und die Aufgabe verstand. Spinnen. Dutzende von ihnen krabbelten durch die Kiste, eine grausiger als die andere. Einer gläsernen Abdeckung war es zu verdanken, dass sie nicht entkamen.
»Bestimme sie«, forderte der Mann in der Mitte, vor dem die Kiste stand, sie zu ihrer Erleichterung in Kerajaanisch auf. Schedelas Herz raste. Das sollte eine Prüfung sein? Seit ihrer frühsten Kindheit war sie Wettstreite gewöhnt, doch sicherlich nicht diese Art. Sie musste dies schaffen! Sie musste erreichen, dass der König sie empfing und wenn dies der Preis dafür war, dann sollte sie ihn wohl erbringen, oder?
Sie starrte auf die haarigen Beine, die wippenden Körper mit kleinen Greifzangen und die Fäden, die sich durch die Kiste zogen. Das Einzige, was sie erkannte, war, dass die Spinnen sehr unterschiedlich waren. Ihre Finger zitterten, als sie sich zwang, sie auf die Abdeckung zu legen. Es waren entsetzliche Tiere. Sie wünschte sich, sie alle mit ihrem Dolch aufspießen zu können, nur damit sich ihre ekeligen Beine nicht mehr rührten.
»Ich kann es sich«, gestand sie sich ihre Schwäche ein und trat zurück, um dem nach ihr folgendem Dunkelhäutigem das Feld zu überlassen. Hinter ihr lachte jemand und der Dunkelhäutige bestimmte die Spinnen mit großer Selbstverständlichkeit. Selbst das junge Mädchen, das ihm folgte, zögerte nicht, die Skorpione, die in einer neuen Box vor sie gestellt wurden, zu benennen.
Nun empfand sie keinen Zorn, nur Ekel. Dies waren keine Wettkämpfe, in denen sie glänzen konnte. Das machte ihr zu schaffen, fiel es ihr doch stets schwer, Schwäche einzugestehen.
Doch bestätigte sich dieser Eindruck auch in den folgenden Aufgaben, die ihrer Gruppe an den anderen Tischen gestellt wurden. Diese waren sehr unterschiedlich. Bei der Botanik sollten sie zunächst einen Trank aus verschiedensten Kräutern herstellen, ohne deren Wirkung zu kennen, und danach über verschiedenste Themen referieren.
Das mathematische Rätsel, dass ihr daraufhin gestellt wurde, lautete:
» Rechner, gebet eine Zahl,
Wann man sie ein achtel Mal
Zu einhundertfünfzig legt,
Dass es fünfzig mehr beträgt,
Als wann man sie ohne Wahl
Richtig setzt dreiviertel mal.
Mein, zeigt an, in schneller Frist:
Was für eine Zahl es ist? «
Und auch als Schedela es vom Vokabular verstanden hatte, begriff sie den Inhalt dennoch nicht, was ihr schwer zu schaffen machte, war sie doch auch in Logik unterrichtet worden. Mehrere Minuten stand sie da, erkannte immerhin, dass es sich um eine Gleichung handelte, die es aufzulösen galt. Doch selbst als ihr die Lösung hundertsechzig genannt wurde, wusste sie nicht wirklich etwas anzufangen, derweil die Frau vor und der Mann nach ihr die ihnen gestellten Rätsel scheinbar spielend lösten. Bei beiden stand jeweils eine Person am Tisch auf, um sie zu beanspruchen und damit in die Akademie aufzunehmen. Wenn sie wollten, konnten sie die verbleibenden Prüfungen noch durchlaufen, ansonsten wurden sie direkt übernommen. Der Mann entschied sich für ersteres, die Frau für letzteres.
»Weshalb bist du überhaupt hier? «, fragte sie einer aus ihrer Gruppe während einer Wartepause, doch wartete er ihre Antwort nicht einmal ab, sondern wandte sich direkt wieder der neben ihm stehenden Frau zu, um ihr zu sagen, als wie einfach er doch die Aufnahmeprüfungen empfand.
Schedela, die Frau, die doch eine Königin war, fand sich unbeachtet an der Seite stehend vor. Es war ein Gefühl, das sie gut kannte und dennoch verletzte es. Sie ballte die Hände zu Fäusten und nahm sich vor, in der nächsten Prüfung alles zu geben. Doch wurden sie als nächstes an den Tisch der philosophischen Akademie geführt und die Diskussion über verschiedenste Begriffe der Freiheit überforderte sie. Zwar hatte sie das Gefühl, zuerst gut mitreden zu können, als es um die Verwirklichung persönlicher Freiheiten ging, doch als ein junger Dunkelhäutiger aus ihrer Gruppe fragte, wie man denn dann die Monarchie, die doch so sehr einschränkte, legitimieren sollte, wusste sie keine Antwort. Ihre Argumente über die Wichtigkeit einer Ordnung wurden von ihm fortgewischt und als sie den Fehler machte, von gottgewollter Herrschaft zu sprechen, lachte er sie aus. Den Rest der Debatte machten hauptsächlich er und das junge Mädchen, das sich an die Skorpione gewagt hatte, unter sich aus, während Schedela im Schweigen versank. Die von ihnen verwendeten Begriffe sagten ihr kaum noch etwas und ihrem Gefühl nach drehte sich die Diskussion nur noch im Kreis. Sowohl der Mann als auch das Mädchen wurden aufgenommen.
Erst jetzt war Schedela bereit, zu akzeptieren, dass der Versuch, dadurch an den Königshof zu gelangen, scheitern würde. Jalldred würde sie auslachen.
Als sie vor die letzte Tafel trat, hatte schon mit dem Versuch, durch diese Prüfungen, ihr Ziel zu erreichen, aufgegeben. In den Gedanken schmiedete sie bereits weitere Pläne, wie sie vom Iderranischen König empfangen werden konnten, als sie aufgerufen wurde.
»Nenne deinen Namen«, begann der in der Mitte sitzende Mann. Er war vielleicht in Schedelas Alter und trank immer wieder aus einem Tongefäß. Dabei runzelte er die Stirn, als ob ihm etwas nicht gefallen würde.
»Schedela«, meinte sie, nachdem sie den intensiven Blick des Mannes erkannte.
Der Mann nickte, dann blickte er zu einer alten Frau an seiner rechten Seite, die ihre Augen nur schwerlich offenhalten konnte. Ihre Finger zitterten, als sie sich aufrichtete und den Blick auf die vor ihr stehende Gruppe richtete.
»Kind«, bat sie, »erkläre mir den Bedeutungshintergrund deines Namens.«
Ein Schauer lief Schedela über den Rücken. Nicht wegen der Respektlosigkeit der Frau. Nein, es war lange her, dass sie jemand als Kind bezeichnet hatte und mit der Person war sie damals nicht im Reinen auseinander gegangen.
»Kind«, wiederholte die Frau, »wenn du nicht antworten magst, dann bist du hier nicht richtig.« Sie klang nicht böse, sondern so, als ob ihr diese Tatsache völlig gleichgültig wäre und sie noch viel bessere Dinge zu tun hätte.
Die Königin, die keine war, biss sich auf die Unterlippe. Es war doch eh alles gleichgültig, oder? Sie konnte auch gehen. Es war ihr Stolz, der ihr befahl, zu bleiben und auszuharren, obgleich der Kampf bereits verloren war.
»Mein Name bedeutet »Freude ist mein Fels«, erläuterte sie also wahrheitsgemäß.
»Morphologische Zusammensetzung?« Die Frau blickte sie noch nicht einmal an. Sie hatte die Augen geschlossen, derweil ihr eine lange weiße Strähne mitten im Gesicht hing.
Wiederum empfand Schedela sich als völlig verloren. Nein, das entsprach nicht der Wahrheit. Da war etwas in ihr, das sich erinnerte an Worte, die einst gesprochen worden waren, Worte, die ihr jemand versucht hatte, beizubringen. Und nun, wo sie sich dies ins Gedächtnis gerufen hatte, verstand sie, was von ihr erwartet wurde.
»Es ist ein Determinativkompositum. Sched ist eine Abwandlung des Wortes »schedil» für Freude und »ela« ist die Wurzel von »melar«, was Fels bedeutet«, antwortete sie also, dankbar darüber, dass sie nicht alles vergessen hatte, was ihre Lehrerin vor langer Zeit versucht hatte, ihr zu vermitteln. »Der Name trägt also die Bedeutung Freudenfels oder auch »Freude ist mein Fels«
Federn kratzten, als sich gleich mehrere der Personen Notizen machten. Die Frau rührte sich nicht.
Plötzlich hob sie den Finger und deutete auf einen älteren Mann, der hinter Schedela stand.
»Dein Name?«
Auch er wurde nach der Bedeutung seines Namens gefragt. Erstaunlicherweise bedeutete seiner »Glücksgeborener«
»Nun, Schedela und Tehed Amim würdet ihr sagen, dass euer Name eurem Leben entspricht?«
Der Mann schien dies als eine Ankündigung einer Diskussion zu verstehen, denn trat er an Schedela vorbei, bis er ihr gegenüber stand. Er sah sie an, neigte den Kopf und schenkte ihr die Andeutung eines Lächelns. Weil sie dies für eine Art Ritual hielt, tat sie ihm das nach.
»Natürlich Verehrte«, berichtete er, »meine Mutter glaubte bei meiner Geburt, dass ich im Glück geboren bin. Ich war ihr erster Sohn nach mehreren Fehlgeburten und sie sagte, dass ich ein Geschenk des Gottes Aperikos sei, weshalb sie mich so nannte. Und nun, was soll ich sagen, ich bin gesegnet in meinem Leben, was davon zeugt, dass sie mir genau den richtigen Namen gegeben hat.«
Schedela, die Mühe hatte, seinen schnellen Ausführungen zu folgen, wusste immer noch nicht, worauf er hinaus wollte.
»Würdest du also sagen, dass es dir vorherbestimmt war, glücklich zu sein?«
»Gewiss, Verehrte«, antwortete der Mann rasch, »mein Name hat dies vorhergesagt.«
»Dann entspricht dein Name deinem Leben«, stellte sie fest und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ihre Augen dagegen wanderten zu Schedela. »Wie ist es mit dir, Schedela?«
Schedela brauchte nicht lange überlegen. »Nein, mein Name entspricht meinem Leben nicht. Freude ist nicht mein Fels. Freude ist vergänglich und deshalb nichts, auf das man sein Leben erbauen sollte. Mein Name entspricht nicht dem Bild meiner Identität.«
»Ah.« Die alte Frau klatschte in die Hände und für den Moment waren ihre Augen hellwach. »Wir haben hier also eine Diskrepanz verschiedener Meinungen und Verständnisse von Sprache. Warum?«
Sie sprach niemanden von beiden direkt an, doch Schedela, die die Worte einer anderen im Ohr hatte, jemanden, der sich begeistert über solche Themen ausgelassen hatte, kannte die Antwort.
Sie räuspert sich. »Es geht um die Frage, ob es eine Bestimmtheit von Worten gibt, bevor man diese benennt. Ob Worte einen tieferen Sinn haben, ein Ausdruck, der zu ihnen gehört.«
Ein Lächeln strich über das Gesicht der Alten. »Und was sagst du, Mädchen?« Mädchen. Seltsamerweise fühlte Schedela sich nicht beleidigt, nicht von einer alten Frau, die ihr trotz ihrer vermeintlichen Ignoranz einen Respekt entgegenbrachte, den sie nicht benennen konnte.
»Ich sage, dass dem nicht so ist. Wir benennen Dinge, weil wir uns verständigen müssen. In meiner Sprache heißt Freude »melar«, in Kerajaanisch dagegen »Enelee« Die beiden Worte haben morphologisch nichts miteinander zu tun, obgleich hinter ihnen dieselbe Bedeutung steht. Es ist eine Konvention darüber, dass Freude in meinem Volk so, und in dem der Kerajaaner so heißt. Mehr nicht.«
Ihr Gesprächspartner sah ihr empört entgegen. »Und wieso sollte dem so sein? Ich bin ein Glückskind, das bin ich immer gewesen.«
Die Königin, der dieses Gespräch zunehmend Freude bereitete, schüttelte den Kopf. »Nein. Weil du glaubst, dass du ein Glückskind bist, siehst du ganz alltägliche Dinge als übernatürliche Segnungen an, obwohl es die Götter, die du anbetest, vielleicht gar nicht gibt. Genauso wenig gibt es einen Hintergrund für deinen Namen.«
Zunächst wirkte er nur überrumpelt, dann verneigte er sich abrupt vor den Prüfern. »Diese Frau hat den Göttern gelästert«, beschwerte er sich beleidigt. »Ich verlange Wiedergutmachung.«
»Abgelehnt«, erklärte ein Mann in einer weinroten Robe, der das Gespräch bisher kaum beachtet hatte, »dieser Platz ist frei für jede Art von Meinung. Dies hast auch du akzeptiert, als du ihn betreten und dich für eine Aufnahme in einer Akademie beworben hast.«
Grummelnd akzeptierte ihr der Mann mit Namen Tehed Amim die Antwort.
Der Mann in weinroter Robe bedeutete ihnen, dass das Gespräch beendet war. Schedela, für die dieses soeben erst begonnen hatte, spürte, wie sie dies bedauerte. Es überraschte sie selbst. Lange war es her, dass sie sich zuletzt, so etwas wie intellektuellen Diskussionen, die über militärische Strategien hinausgingen, hingegeben hatte. Sicherlich war das letzte Mal vor dem Tod ihres Vaters gewesen, als die Welt noch heile gewirkt hatte. Die Ungeduld war es, die sie daran erinnerte, was ihr Ziel war. Und in ihr flüsterte eine Stimme, dass ihr für solche Vergnügen die Zeit davonrannte.
Den restlichen Diskussionen, die nun zwischen weiteren Zweierpärchen ihrer Gruppe entstand, hörte sie nicht zu. Erst als ihnen ihre zweite Aufgabe gestellt wurde, konzentrierte sie sich erneut auf die Geschehnisse. Nun galt es, ein Stück oder einen Text vorzutragen. Diesen durften sie sich frei auswählen. Weil die Reihenfolge dieses Mal eine andere war, hatte Schedela Zeit, sich ihre Rezitation gedanklich zu überlegen. Eigentlich fiel ihre Entscheidung rasch, denn gab es nur einen einzigen Text, den sie in Kerajaanisch auswendig konnte: Eine Ballade, die von einem unglücklichen Königssohn sprach, der aus der Verbannung heraus ein Heer zusammenstellte, um den Thron seines Vaters zurückzuerobern. Auch wenn die Geschichte traurig endete, fühlte Schedela sich diesem jungen Mann, der einen aussichtslosen Kampf geführt und dennoch nicht aufgegeben hatte, verbunden.
Es war eine lange Legende über dreiunddreißig Strophen, doch in ihrer Kindheit hatte Schedela sie alle auswendig lernen müssen. Schwer war ihr dies nicht gefallen. Schon damals hatte sie die Ballade gemocht.
Die alte Frau nickte ihr aufmunternd zu, als sie an der Reihe war, und so begann Schedela ihren Vortrag. Sie entschloss sich, den Prolog zu überspringen, und stieg direkt mit der ersten Strophe ein:
Beginnen muss ich in jenen Tagen,
als laut erschallten des Volkes Klagen,
als ein Schrei sich in den Städten erhob
und in den Himmeln der Götterzorn tob,
die ihre Gnade erzürnt entsagten
König Pirelem, dem Unverzagten,
der der Götter Ehre mit Füßen trat
und fortschlug des ehrwürd’gen Volkes Rat.
Diese und jene ergriffen Waffen,
um sich gewaltsam das zu erringen
was Worte nicht vermochten zu bringen,
Gerechtigkeit für jenes Volkes Kind,
dessen Licht in des Königs Hand zerrinnt.
Es waren die Stimmen des Volkes Alten,
die der Vernunft mutig ließen walten
und die Götter suchten zu erfragen,
um den Frieden für das Volk zu wahren.
Ein Götterspruch ward es im Volk genannt,
und Pirelem die Krone aberkannt.
Der König forderte der Götter Wort,
und ergriff sein Schwert am heiligen Ort,
rief einen Richtspruch auf Leben und Tod,
schwang das Schwert der Väter in seiner Not,
nicht bereit das lassen zu verkommen,
dessen Recht die Götter schon genommen.
Stahl zerbarst, ein altes Geschlecht verging.
Hinab fiel und rollte des Königs Ring
Zu einem erwählten und edlem Mann.
Von den Göttern auserkoren, Surahn.
Der am Ort des Todes die Krone nahm,
zu des armen Volkes Licht und Balsam.
Der gefall’ne Pirelem verbrannte
Und sein dunkles Andenken man bannte.
Die Stadt der Ahnen, sein Name zerstört,
einzig allein des Königs Sohn beschwört
des Vaters Erbe, der Geschichtensang,
dort in der Ferne hallt der Rache Klang,
der Gesang des verbannten Pirelet.
Sie war selbst überrascht davon, wie leicht ihr dies fiel. Es war so einfach, sich in der Geschichte eines anderen zu verlieren, um die eigene zu vergessen. Und doch erinnerte sie diese Ballade an all das, was sie verloren hatte, erging es doch dem armen Pirelet, der zuletzt auch sein Leben im Kampf gegen den Usurpator Surahn verlor, einst genauso. Sie selbst würde verhindern, dass ihr dasselbe geschah. Ihr Kampf würde nicht in Tod, Verderben und Untergang enden, das schwor sie sich jeden Tag erneut.
Als das letzte Wort in ihrem Mund versiegte, fühlte sie sich seltsam leer. Der Vortrag vor Menschen, die sie nicht kannte, hatte ihr das Gefühl einer Richtigkeit gegeben, die sie nicht genauer definieren konnte. Es war etwas Einfaches gewesen, ein Sinn, über den sie nicht lange nachdenken musste.
Es herrschte Schweigen. Dann stand der Mann in der weinroten Robe auf.
»Ich beanspruche sie«, verkündete er und schenkte ihr ein kaltes, berechnendes Lächeln.