Iderra, der erste Marami des Segments Retoldut
Der Mann in weinroter Robe, der für Schedela aufgestanden war, trug den Namen Garek Heyum. Viel mehr verriet er nicht über sich selbst, während sie ihm in die gewaltige Pyramide folgte, die nun ihr neues Zuhause sein würde. Es hatte keine abschließende Zeremonie gegeben, nichts, was ihr erklärt hätte, was nun auf sie zukam. Direkt nach dem Abschluss der Prüfung waren die Prüfer aufgestanden, gefolgt von denjenigen, die sie erwählt hatten. Kein Prüfer hatte mehr als einen Bewerber angenommen, manche von ihnen gar keinen. Die überwiegende Mehrzahl der Bewerber blieb zurück. Manch einer blickte Schedela neidisch nach, als sie die Stufen der Pyramide hinaufschritt.
Sie versuchte, diesen Garek Heyum einzuschätzen. Er schien ihr nur wenig älter zu sein, als sie selbst, vielleicht Anfang vierzig. Erkennbar war seine Vorliebe für auffallende Kleidung: Die weinrote Robe war mit prächtigen silbernen Stickereien verziert, die auslaufenden Ärmel und der Kragen mit Edelsteinen besetzt. Doch auch der Turban in derselben Farbe konnte seine Glatze nicht verbergen. Er war gut zwei Köpfe größer als sie, schlank und bewegte sich elegant. Seinen dunklen Bart trug er gekürzt. Sie vermutete, dass er eitel war.
»An deinem Iderranisch müssen wir arbeiten«, bemerkte er plötzlich, »du wirst es lernen müssen.«
Schedela erkannte, dass er kein Mann war, dem man Widerworte entgegenbrachte, also nickte sie.
»Das ist gut«, fuhr er fort, »dann fällt es leichter, deine Sprache in die richtige Richtung zu prägen. An unsere Sprache sind Erwartungen verknüpft darüber, wie man etwas spricht, in welchem Kontext man bestimmte Worte verwendet. Die Sprache ist es, mit der wir Menschen manipulieren, Liebe oder Hass zum Ausdruck bringen. Und jede einzelne Sprache bringt ihre eigenen Konventionen mit sich, die ein Nichtmuttersprachler nur mühsam zu lernen vermag.«
Er blickte auf sie hinab. Es war ein kalter, harter Blick. Ehrgeizig, erkannte Schedela, er war ein ehrgeiziger Mann.
Sie hatte ihm gegenüber nicht erwähnt, wer sie war. Er kannte ihren Namen und wusste, dass sie von der nördlichen Insel Callinger stammte, mehr hatte sie nicht erzählt. Und solange sie ihn und seine Intentionen nicht einschätzen konnte, würde sie daran nichts ändern. Die Jahre des Krieges und der Flucht hatten sie vorsichtig werden lassen.
»Du wirst die Ballade, die du vorgetragen hast, in vollständiger Form niederschreiben. Zunächst in Kerajaanisch, dann in deiner Sprache und zuletzt wirst du es in das Iderranische übersetzen.« Seine Worte waren als ein Befehl formuliert.
Schedela spürte, wie der Stolz an ihr nagte. Dieser Mann hatte weitaus weniger erreicht als sie und erteilte immerhin einer Königin Befehle. Denk an dein Ziel, ermahnte sie sich selbst und schluckte die Widerworte hinunter. Vermutlich war Garek Heyum ein anerkannter Wissenschaftler. Wenn sie seine Aufgaben erfüllte, so würde sie vor den König gebracht werden.
»Kennst du dich mit der Geschichte dieses Prinzen aus?«, fragte er sie plötzlich.
Verwirrt runzelte Schedela die Stirn. Was tat das zur Sache? Sie war an der sprachwissenschaftlichen Akademie angenommen worden, in der historischen Prüfung hatte sie grandios versagt. Und weshalb interessierte ein Iderraner sich für die Geschichte einer Insel, von der er wahrscheinlich noch nie etwas gehört hatte? Es widerstrebte ihr, ihm Informationen zu geben, ohne zu wissen, was er damit tun wollte. Doch sie wusste auch, dass er ihr vertrauen musste, um sie vor den König zu bringen.
»Ein wenig«, antwortete sie schließlich wahrheitsgemäß.
»Gut, gut.« Er schien ihren Gesichtsausdruck zu bemerken. »Ich arbeite disziplinübergreifend«, ermahnte er sie, »und ich erwarte, dass du dasselbe tust. Diese Ballade ist ein Kind ihrer Zeit. Es werden literarische und rhetorische Topoi und Vergleiche verwendet, die du nur erkennst, wenn du die Zeit des Textes verstehst. Anhand der Ballade werde ich dich die methodische Arbeit meiner Disziplin lehren. Du wirst dich viel mit dem Text beschäftigen.«
Und das tat sie. Garek Heyum hielt viel von seiner Wissenschaft und wenig von Vergnügungen oder Freizeit. Er zeigte ihr die Unterkunft, die ihr als Heim dienen sollte – zwei kleine Zimmer; eine Küche teilte sie sich mit den vier anderen neu aufgenommenen Novizen –, und dann begann ihre Ausbildung.
Ihr Tag nahm schon bald einen bestimmten Rhythmus an. Morgens stand sie auf, aß gemeinsam mit den anderen Novizen und wurde dann von Garek abgeholt. Die ersten Stunden des Vormittags unterrichtete er sie in Kerajaanisch und Iderranisch. Der Unterricht erfolgte keinesfalls so, wie Schedela es von den Lehrerinnen ihrer Kindheit gewohnt war, wo sie zumeist nur auswendig gelernt hatte. Garek ließ sie klassische kerajaanische Theaterstücke aufführen, wobei sie keinen Text, sondern nur Stichwörter und Szenenbeschreibungen erhielt. Sie las und übte mit ihm iderranische Rhetorik und diskutierte die Unterschiede verschiedener grammatikalischer Phänomene der beiden Sprachen. Er verlangte von ihr, dass sie Sprachen sprach, die sie kaum beherrschte, also tat sie dies. Aber dadurch lernte sie es.
Später wandten sie sich dem eigentlichen Trivium der Sprachwissenschaften zu. Er wies sie in die Feinheiten der Rhetorik und Dialektik ein und lehrte sie, wie sie Argumente richtig verwendete, um von ihrer eigenen Position zu überzeugen.
Damit beendeten sie ihre gemeinsame Arbeit. Während Schedela mit den Novizen zu Mittag aß, kehrte er an seine eigene Forschung zurück. Was genau er dabei tat, wusste sie nicht. Vorsichtig hörte sie sich unter den anderen vier Novizen um, die alle begeistert von den Möglichkeiten der Akademie waren und von einer wissenschaftlichen Zukunft schwärmten. Immerhin erfuhr sie dabei Interessantes über Garek.
»Er ist einer der anerkanntesten Sprachhistoriker ganz Kerajaans!«, berichtete die Novizin Yikari und warf dabei neidische Seitenblicke auf Schedela. »Er hat Segmentjahre damit verbracht, die Sprachgeschichte Lendris zu erforschen. Er hat die These widerlegt, dass die südlichen Dialekte mit dem Erinischen verwandt sind und war maßgeblich daran beteiligt, die Zeichenschrift der Jilu-Hochkultur zu entschlüsseln.« Es war kein Wunder, dass die junge Frau – eine Lendri – von ihm begeistert war. Schedela beeindruckte dies kaum. Die entscheidende Frage war allein, ob er ihr helfen konnte oder nicht. Was interessierten sie irgendwelche fremden Kulturen oder Sprachen, die sie nie würde verstehen können?
»Man sagt, dass er Zugang zu den geheimen Archiven des Königs hat«, steuerte Tefiral bei. »Und dass die Königin sein aktuelles Forschungsprojekt persönlich fördert.« Interessiert horchte Schedela auf. Wenn Garek direkten Zugang zum König besaß, konnte auch sie durch ihn an den Hof gelangen.
Wieder warf Yikari ihr einen Seitenblick zu. Schließlich stellte sie die Frage, die sie anscheinend schon für eine längere Zeitspanne beschäftigte, geradewegs. »Weshalb hat er ausgerechnet dich gewählt? Du wirkst nicht wie eine Wissenschaftlerin nach den Maßstäben Iderras.« Die Worte »und weshalb mich nicht«, die unsichtbar zwischen ihnen schwebten, sprach die junge und ehrgeizige Lendri nicht aus.
»Da musst du ihn schon selbst fragen«, wich Schedela aus, obwohl auch sie diese Frage beschäftigte. Es hatten Dutzende hervorragende und ehrgeizige Wissenschaftler vor ihm gesprochen, die so viel besser als Schedela waren. Yikari beispielsweise hatte bereits an einer uralten lendrischen Universität Linguistik studiert, bevor sie nach Iderra gekommen war, und Tefiral sprach fünf Sprachen des Kontinents fließend. Und dennoch hatte Garek ausgerechnet sie erwählt. Immer wieder hatte sie in den letzten Tagen die Prüfung gedanklich wiederholt, um jenen Punkt zu finden, an dem sie Garek für sich gewonnen hatte. Zuerst hatte sie geglaubt, dass sie in der Debatte geglänzt hatte, doch wenn sie ehrlich war, hatte es danach eine weitaus bessere Debatte zweier junger Männer gegeben, von denen keiner erwählt worden war. Lag es an ihrem Vortrag der Ballade? Immerhin schien Garek sich sehr für sie zu interessieren.
»An welchem Projekt arbeitet er denn?«, fragte sie, um die anderen von der vorigen Frage abzulenken und zu verhindern, dass sie Schedela über ihre Ausbildung und damit ihre Vergangenheit befragten.
Doch dieses Mal enttäuschten die redseligen Novizen sie. Tefiral zuckte nur mit den Schultern und Yikari murmelte etwas von iderranischer Dialektgeschichte und davon, dass es gewiss herausragend sein würde.
»Du kannst dich glücklich schätzen«, meinte sie und schnitt eine Grimasse. »Sein Stern ist noch am Steigen und in dreißig Segmentjahren wird jeder Linguist dich beneiden, weil du einst bei ihm lerntest.«
Schedela nickte nur, dann stand sie vom Tisch auf. »Ich muss los.«
»Bestimmt machst du spannende Untersuchungen«, schwärmte Yikari und winkte ihr zum Abschied. Schedela war bereits jetzt von ihr genervt und hatte nicht vor, ihr über die langweiligen Aufgaben zu berichten, die Garek ihr aufgetragen hatte.
Sie suchte die Bibliothek auf und machte sich an die Arbeit. Den Nachmittag sollte sie sich der Niederschrift der Ballade widmen, wobei Garek am nächsten Tag ihre Fortschritte kontrollierte. Es war eine mühsame Arbeit, die Schedela zunächst sinnlos erschien. Zwar mochte sie die dahinterstehende Geschichte, doch hieß das nicht, dass sie sich Wochen mit dem Text auseinandersetzen wollte. Sie aß wieder mit den anderen Novizen zu Abend, dann hatte sie entweder etwas zu lesen, oder den übersetzten Abschnitt auf bestimmte rhetorische Topoi und sprachwissenschaftliche Phänomene zu untersuchen. Wenn sie ins Bett fiel, war es längst dunkel.
Verlassen konnte sie die Pyramide kaum. Zwar wurde sie nicht bewacht, doch war sie nie wirklich alleine und die Ein- und Ausgänge waren nie unbeobachtet.
Dieser Zustand dauerte mittlerweile acht Tage an und die ganze Zeit machte Garek keinerlei Andeutungen darauf, wann sie dem König vorgestellt werden sollte. Langsam wurde Schedela ungeduldig. Sie wusste, dass Garek an einem Abend die Pyramide verlassen hatte und Yikari flüsterte ihr im Flur zu, dass er zur Königin gerufen worden war. Ihr gegenüber erwähnte er das Ereignis am folgenden Morgen nicht. Den ganzen Tag über war Schedela schlecht gelaunt und am Nachmittag durchstöberte sie die Bibliothek nach Werken von und über Militärstrategen, anstatt die Ballade weiter zu übersetzen. Sie wurde fündig und vergrub sich in den folgenden Stunden in für ihren Geschmack viel zu theoretischen Texten zu militärischen Strategien. Aber immerhin erfuhr sie einige hilfreiche Informationen und als sie zumindest einen der Autoren aus ihrem eigenen Unterricht wiedererkannte, war sie fast ein wenig stolz auf sich. Sie beschloss, das häufiger zu tun, um die Zeit wenigstens zu ihrer eigenen Ausbildung nutzen zu können.
Am Abend kehrte sie in ihre Gemächer zurück, ohne eine Zeile des Textes übersetzt zu haben. Garek gegenüber würde sie sich mit Unwohlsein erklären. Beim Essen tratschte Yikari über ein Bankett, dass es zur Feier der Neuzugänge im Palast geben sollte, was Schedelas Laune wiederum hob. Nun fieberte sie auf das Fest hin.
Am nächsten Morgen wagte sie es, ihren Lehrer darauf anzusprechen. Auf ihre Frage hin blickte er sie grimmig an, dann erläuterte er, dass von jeder Akademie nur ein Novize als Vertretung entsandt werden würde. Es oblag der Entscheidung der Lehrer, welchem Novizen diese Ehre zuteil kam und so bemühte Schedela sich in den folgenden Tagen, ihre Arbeit möglichst sorgfältig zu erledigen.
Doch als zum Bankett geladen wurde, war eine andere Novizin die Erwählte. Schedela, die soviel Hoffnung in diese Möglichkeit gelegt hatte, war enttäuscht, zornig und frustriert. Wozu saß sie stundenlang über Büchern und alten Texten, wenn sie dadurch ihrem Ziel nicht näher kam? In der Heimat kämpften und starben ihre Männer und sie vergeudete sinnlos Zeit. Was sollte die Zusammenarbeit mit einem eitlen und perfektionistischen Sprachwissenschaftler bewirken? Ihr Bruder würde sich kaum von geschickter Rhetorik beeindrucken lassen, sondern nur von der Anzahl der Schwerter, die sie ihm entgegenwerfen konnte. Sie entschloss, sich und Garek noch eine Denia zu geben. Sollte sich innerhalb der folgenden zehn Tage keine Perspektive auftun, wie sie vor den König gelangte, würde sie eine andere Möglichkeit suchen.
In dieser Nacht schlich Schedela sich das erste Mal hinaus. Bereits Tage zuvor hatte sie eine Novizin der älteren Klassen belauscht, die einen Geliebten in der Stadt hatte, den sie heimlich besuchte. Nun lauerte Schedela ihr auf und folgte ihr durch einen kleinen Nebenausgang, den sie alleine nie gefunden hätte, hinaus. Falls die andere sie bemerkte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie verschwand in dem Gewirr aus Gassen, das sich an den Platz der Akademien anschloss. Schedela hatte mit Jalldred einen Treffpunkt vereinbart, bevor sie zu den Aufnahmeprüfungen aufgebrochen war. Sie hatte sich den Weg dorthin gemerkt, doch wirkte die Stadt bei Nacht anders als bei Tag und so zögerte sie.
Im Tageslicht hatte die Umgebung der Pyramiden wie ein ordentliches Viertel gewirkt, in dem vor allem wohlhabende Händler oder Adelige lebten. Im Dunkel tanzten Fackeln, aus einer Taverne schallte Gelächter und Betrunkene stolperten an ihr vorbei.
Nun wünschte Schedela sich mehr als den Dolch, den sie bei sich trug. Ihr war bewusst, dass sie Aufmerksamkeit erregte, also setzte sie sich in Bewegung. Sie passte sich den anderen nächtlichen Gestalten an, die durch die Nacht huschten, möglichst unaufällig, um ihren Geschäften nachzukommen.
Der vereinbarte Treffpunkt war nicht weit entfernt. Es handelte sich um eine Taverne, in der sich ihre Begleiter einquartiert hatten. Dennoch verlief sich Schedela zweimal und musste umkehren. Schließlich trat sie auf den kleinen Platz. Ein Brunnen plätscherte leise, trotz der Hitze schien in der Stadt keine Wasserknappheit zu herrschen.
Hinter den Fenstern der Taverne flackerten Lichter. Die Tür war geschlossen. Misstrauisch blickte Schedela sich um, doch war niemand zu sehen, der sie beobachtete. Sie drückte die Klinke hinunter und trat ein. Eine Welle von Geräuschen schwappte über sie. In einer Ecke wurden Musik gespielt und aus irgendeinem Grund standen zwei Männer davor auf zwei Kisten und diskutierten lautstark miteinander. Die Umstehenden mischten sich mit Kommentaren immer wieder ein. In dem Raum gab es keinerlei Sitzgelegenheiten, doch erhaschte Schedela einen Blick auf einen zweiten Raum, in dem mehrere Menschen im Liegen aßen. Der Raum, in dem sie sich befand, wurde vor allem von der großen Theke geprägt. Ein Wirt und mehrere Helfer reichten Speisen und Getränke an die Gäste. Schedela, die wusste, dass sie umso mehr auffiel, desto starrer sie dastand, trat an die Theke. Sie tat es der vor ihr stehenden Frau nach, bestellte ein alkoholisches Getränk und eine Schale mit ihr unbekannten Beeren. Da die Frau ihr Essen im Stehen verzehrte, ging auch Schedela zu den beiden schreienden Männern. Sie nippte an dem Trank. Es war ein würziger Wein, der erstaunlich gut schmeckte.
»Schedela?« Als sie sich umdrehte, erkannte sie Jalldred. Er schien erst jetzt angekommen zu sein.
»Jalldred«, begrüßte sie ihn. Nach all den Wochen, in denen sie sich in ihr fremden Sprachen unterhalten hatte, tat es so gut, die eigene zu hören.
»Komm.« Sie bemerkte, wie er sich misstrauisch umblickte. Sogar jetzt, wo sie sich in einem fremden Land aufhielt, fürchtete er die Attentäter ihres Bruders. Er hatte nie verstanden, dass ihr Bruder das niemals tun würde.
Sie folgte ihm eine Treppe hinauf, die sie zuvor nicht bemerkt hatte. Von dort gingen mehrere Räume ab. Jalldred betrat einen von ihnen. Er entpuppte sich als ein großer Raum, in dem Decken und Gepäck ausgebreitet war. Drei ihrer Männer befanden sich dort. Sowie sie ihre Herrin erblickten, ließen sie das Würfelspiel fallen, sprangen auf und verneigten sich. »Herrin.« Schedela war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie die vertrauten Gesichter in der letzten Zeit vermisst hatte.
»Lasst mich mit Jalldred alleine«, bat sie. Die drei nickten, kurz darauf fiel die Tür ins Schloss.
Sie standen sich gegenüber. Er sah müde und angespannt aus, bemerkte sie.
»Schedela.« Er zögerte. »Ihr solltet Euch nicht alleine hinaus begeben. Diese Stadt ist gefährlich.«
»Ach«, spottete sie lächelnd, »sag bloß, dass auch du mittlerweile gemerkt hast, dass die Geschichten der Panti maßlos übertreiben.«
Im Schneidersitz setzte sie sich auf eine Decke. Jalldred blieb stehen. Er lehnte sich gegen die Wand, verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn.
»Nur Narren lachen über die Gefahr«, wiederholte er eine alte Weisheit. Wieder wagte er es, sie zu ermahnen. In letzter Zeit wagte er sich häufiger über jene unsichtbare Grenze hinaus, die ihre jahrelange Zusammenarbeit geprägt hatte. Das ärgerte sie. Gerade jetzt brauchte sie seine Treue mehr denn je.
»Ein Feigling wird die Möglichkeit, sein Leben nachhaltig zu transformieren, immer wieder verpassen«, entgegnete sie.
»Ist das eine iderranische Weisheit?«, fragte er.
Schedela nickte. Sie hatte die Worte mit Garek diskutiert.
Sie konnte sehen, wie er den Mund öffnete, zu einer Bemerkung ansetzte, die ihr gegenüber sicherlich kritisch wäre.
»Was hast du über die Königsfamilie herausgefunden?«, kam sie ihm also zuvor. Sie wollte nicht mit ihm streiten, nicht jetzt.
Er räusperte sich und war wieder jener seriöse Helfer und Unterstützer, den sie kannte.
»Der König Martik Arra ist seit achtzehn Segmentjahren an der Macht. In den Straßen ist man sich einig, dass er ein starker Herrscher ist. Er hat mehrere militärische Siege erreicht und sichert sehr erfolgreich die Grenzen Kerajaans gegen die kriegerischen Wüstenvölker des Ostens. Unter ihm hat Iderra ihren Status als Wirtschaftsmetropole des Ostens zurückerlangt und wächst seitdem rasant.« Das war gut. Der iderranische König war also ein mächtiger Verbündeter, der große militärische Kräfte ins Feld führen konnte. Andererseits mochte dies auch den Nachteil bieten, dass der König aufgrund seiner großen Macht kein Interesse daran hatte, ein Bündnis mit ihr einzugehen.
»Ein mächtiger König macht sich viele Feinde«, überlegte sie, »wie sieht es mit politischen Gegnern aus?«
»Das ist richtig«, stimmte er ihr zu, »in den Straßen spricht man schon davon, dass Martik Arra dem Kaiser Kerajaans auf den Thron folgen sollte, der militärisch weitaus weniger erfahren ist. Andere fordern, dass Iderra sich von Kerajaan unabhängig machen sollte.
»Es besteht also die Gefahr eines Krieges mit Kerajaan?« Sie wusste nicht so wirklich, was sie von dieser Neuigkeit halten sollte. Kerajaan war eine Großmacht, die den gesamten Westen des Kontinents beherrschte. Iderra, ein einstig unabhängiges Königreich, war nur eine Provinz von vielen in dem gewaltigen Reich. Sie hatte wenig Interesse daran, ihr Land in einen Bürgerkrieg des Kontinents hineinzuziehen.
»Die bisherige Politik Martiks deutet nicht darauf hin«, widersprach Jalldred, »gegenüber Kerajaan wird er als gemäßigt beschrieben. Er zahlt die Steuern, führt kerajaanische Kriege und heimst von ihnen dafür Titel und Ehren ein.«
»Doch kommt es letztendlich nicht darauf an«, bemerkte Schedela, »sondern darauf, was der kerajaanische Kaiser denkt.«
»Richtig«, stimmte er ihr zu, »und es gibt Spannungen, so viel steht fest. Es heißt, dass der kerajaanische Kaiser einen Botschafter entsandt hat, um dem König auf die Finger zu schauen. Den Menschen, die ich gehört habe, gefällt das wenig.«
Also doch. Nun, wenn eine vorherrschende Macht sich in die innenpolitischen Angelegenheiten der Handelsstadt einmischte, so mochte dies eine gute Zeit sein, um dem König andere Bündnisse aufzuzeigen.
»Wie sieht es mit seinem Privatleben aus? Hat er Laster? Bricht er Tabus?«
Jalldred wiegte den Kopf. »Darüber ist nichts bekannt. Seine Ehefrau entstammt einer alteingesessenen Familie aus Iderra und sie sollen eine harmonische Ehe führen. Seine Frau begleitet und berät ihn. Mit drei Söhnen gilt die Nachfolge als gesichert.«
Schedela wusste viel zu wenig über das politische System dieser Gesellschaft. Aber ihr fehlte die Zeit, um länger zu warten. Sie konnte es sich nicht leisten, ihren Brückenkopf im Norden Callingers zu verlieren. Allein dieser Ort ermöglichte ihr den Kampf um den Thron.
»Sammle weitere Informationen«, befahl sie dem getreuen Offizier, »misch dich unter die Bittsteller vor dem König und finde heraus, wie man von ihm empfangen wird und in seine Gegenwart gelangt.«
»Und dann? Wollt Ihr Euch in den Palast schleichen?« Sie las den Missfallen auf seinem Gesicht. Auch wenn er ihr gefolgt war, so hatte Jalldred sich von Beginn an gegen diese Reise ausgesprochen. Er hielt nichts von einem ausländischen Heer in seinem Heimatland. Schedela noch weniger. Aber manchmal stand man an einer Wegkreuzung und es war völlig gleich, welchen man einschlug, denn sie alle führten mit unabsehbaren Konsequenzen ins Dunkle.
»Nur wenn es keine andere Möglichkeit gibt«, entgegnete sie, »vorerst werde ich die Position, die meine Ausbildung mir verschafft, nutzen.«
»Wie lange?« Er überwand die Distanz zwischen ihnen mit wenigen Schritten und ragte auf einmal über ihr auf. »Der Kapitän hat gesagt, dass Nordostwinde im Sommer selten sind. Wir müssen zurück, bevor der Wind dreht. Euer Bruder wird nicht zögern, den Krieg wieder aufflammen zu lassen, nur weil Ihr nicht da seid. Unsere Truppen, wir …«
»Jalldred.« Sie hob die Hände. »Ich glaube, ich kann in den Bibliotheken und Archiven etwas herausfinden.«
Er erstarrte. Sie beide wussten von ihrer verzweifelten Suche nach der Wahrheit. Es gab zu viel, was sie von den damaligen Geschehnissen nicht verstand, obwohl sie ein Teil davon gewesen war. An dem Ausbrechen des Zwistes, des Krieges, zwischen ihr und ihrem Bruder war vieles unverständlich, mysteriös und verwirrend.
»Wieso sollten iderranische Bibliotheken etwas über die Vergangenheit unseres Volkes wissen?«
»Du weißt, welchen Text ich vorgetragen habe?« Als er nickte, fuhr sie fort: »Ich habe viel nachgedacht und mittlerweile glaube ich, dass mein Ausbilder mich wegen diesem Text erwählt hat. Er forscht über etwas, was irgendwie mit der Ballade zusammenhängt.«
»Pirelet ist seit zweihundert Segmentjahren tot«, warf Jalldred ungläubig ein, »weshalb sollte uns das weiterhelfen?«
»Er war hier, Jalldred.« Sie machte einen kleinen Schritt nach vorne, sodass sie nur noch eine Handspanne an Abstand trennte. »In Iderra. Vertraue mir, ja?«
Er trat einen Schritt zurück, doch senkte er den Blick nicht. »Vertraut Ihr denn in Euch selbst?«
Wieder einmal wagte er sich über ihre persönliche Grenze der Nähe hinaus. Und dennoch stellte er erneut die richtige Frage. Es war eine Frage, auf die es nur eine richtige Antwort gab.
»Ja«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Ich bin von mir und meinem Anspruch überzeugt.«
»Gut«, entgegnete er, bewegte sich zurück an seine alte Position und lehnte sich wieder an die Wand. Ohne dass Schedela den Auslöser dafür erkennen konnte, war die Distanz zwischen ihnen wiederhergestellt. Den kleinen Teil in ihr, der sich danach sehnte, dass es anders wäre, schob sie fort. Sie musste einen Thron gewinnen.
Bevor der Morgen graute, kehrte Schedela in die Akademie zurück. Noch lange hatten sie und Jalldred gesprochen. Sie hatten Pläne geschmiedet, Schedela hatte ihm von ihrer Ausbildung berichtet und er von seinen Forschungen erzählt. Später waren auch ihre anderen Berater und Offiziere dazugekommen und sie hatten einen Rat abgehalten. In der Akademie hatte sie es fast vergessen, doch jetzt bemerkte Schedela wie die Zeit verrann. Sie durfte sich nicht in den Forschungen, die etwas in ihr so sehr genoss, verlieren.
Auch als sie unbemerkt angekommen und wieder in ihr Bett geschlüpft war, konnte sie noch lange nicht schlafen. Zu sehr beschäftigten die Gedanken über die Notwendigkeit der Dinge sie. Zuvor hatte sie manchmal gezweifelt, auch wenn sie dies Jalldred nicht gesagt hatte, jetzt jedoch war sie entschlossen. Es gab nur diesen einen Weg. Sie war nach Iderra aufgebrochen, um ihren Plan auszuführen. Jetzt musste sie ihn zu Ende bringen.
Die neue Aufgabe, die Garek ihr am Morgen gab, erschien ihr noch sinnloser als die vorigen. Sie sollte das Vorlesen von iderranischen Sagen und Märchen üben. Frustriert schlug sie die Seiten auf und begann. Ihre Zunge stolperte über die schweren Vokabeln und komplexe grammatikalische Formulierungen. Mehrfach verlor sie den Faden und musste einen Absatz wiederholen.
»Genug«, meinte er nach einer Weile und hob die Hand.
Schedela ließ das Buch sinken und sah ihn an. Heute trug er eine verschwenderische dunkelblaue Robe.
»Weißt du, weshalb ich mich dagegen ausgesprochen habe, dich zum Bankett zu lassen?«
Instinktiv ballte sie die Hände zu Fäusten. Manche Gewohnheiten ließen sich nicht leicht vergessen.
Weil sie befürchtete, ihren Frust und ihre Enttäuschung beim Sprechen zu zeigen, schüttelte sie nur den Kopf.
»Martik Arra spricht ein hervorragendes Iderranisch. Beim Bankett hast du einen kurzen Wortbeitrag, in dem du dem König für die Einladung dankst und vielleicht einen Segen sprichst. Es sind zwei, drei Minuten, in denen du einen bleibenden Eindruck hinterlässt, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Eine schlechte Aussprache fällt sofort ins Gewicht. Lerne zuerst Iderranisch.« Er hatte recht. Bei einem so kurzen Wortbeitrag hätte sie sich nur blamiert. Aber wäre es nicht immerhin besser gewesen, als dass momentan vorherrschende Nichts? Sie hatte keine Zeit, die Sprache perfekt zu beherrschen! Sie hatte diese Prüfung angenommen, weil sie gehofft hatte, dadurch einen Fuß in diese Gesellschaft und damit in die Tür des Königs schieben zu können. Vielleicht gab es diese öffentlichen Dispute, von der ihr die anderen Novizen berichtet hatten, auch in den Hallen des Königs? Sie überlegte, Garek zu fragen, unterließ es jedoch. Vielleicht würde ihn das misstrauisch machen.
»Ich dachte, jeder solle die gleichen Chancen haben«, verwies sie auf einen Leitsatz der Akademien.
Ein merkwürdiges, fast spöttisches Lächeln lag um seine Mundwinkel. »Dies, meine Liebe, gilt eindeutig nicht für die schwierigste und herausforderndste aller Wissenschaften: die der Politik.« In diesem Moment empfand Schedela sich als ein Kind, das einer Lektion eines Panti lauschte. War sie nicht die Königin?
»Zeig es mir.«
Garek lachte. »Du bist ehrgeizig, das ist gut.« Er musterte sie, dann nickte er. »Ich werde dich die Macht der Worte lehren. Denn ich glaube, dass du dich kaum auf diese Akademie beschränken solltest.«
Schedela schwieg, wartete darauf, dass er noch etwas sagen würde, was seine letzte Bemerkung erklären könnte. Doch Garek deutete auf das Märchenbuch.
»Lerne zunächst, mit den Worten anderer zu überzeugen, bevor du es mit deinen eigenen versuchst.«
Und als Schedela nun das Buch aufschlug, wurden Missmut und Frustration von einem anderen, neuen Gefühl überlagert. Es dauerte ein wenig, bis sie verstand, dass es Neugierde war. Neugierde auf Gareks Pläne. Sie wusste, dass er welche hatte und glaubte, dass ihr dies bei ihrer Suche weiterhelfen konnte.