Iderra, der zweite Gamalin des Segments Retoldut
Und sowie der Leib der Prinzessin Lia Timar sich zu runden begann, hatte der König keine andere Wahl, als dem frevelhaften Fremden die Hand seiner Tochter anzubieten, damit diese nicht vollends der Schande verfiel. Ihre Entscheidung, sich dem Verbannten hinzugeben, bereuend, flehte Lia Timur ihn unter Tränen an, sie nicht an Pirelet zu geben, doch der König stellte das Wohl des Reiches über das seiner Tochter, so wie es sich für einen guten Herrscher nach den Worten Rena Jenpis gehört.
An dieser Stelle endete das Textfragment. Enttäuscht starrte Schedela auf das vor ihr liegende Pergament, als ob sie hoffte, dass dieses noch mehr Geheimnisse enthüllen mochte. Die Chronik des selbst ernannten iderranischen Historikers und Philosophen Mettin Arta war nur noch bruchstückhaft überliefert. Sie hatte den Text hier in der Bibliothek gefunden, als Garek ihr befohlen hatte, historische Quellen für die Zeit zu suchen, in der sich der verbannte callingeranische Prinz Pirelet in Iderra aufgehalten hatte. Freilich hatte sie den Sinn dahinter nicht verstanden, doch seit dem Gespräch mit Garek vor drei Tagen war sie bemüht, seine Aufträge gründlich zu erfüllen.
Morgen, so hatte sie sich vorgenommen, wollte sie das Gespräch mit ihm suchen, um herauszufinden, inwieweit er ihr zu helfen gewillt war. Sicherlich würde er ihr freundlicher begegnen, wenn sie zuvor ihr Studium mit Ernst betrieben hatte. Und so saß sie an einem Tisch zwischen hoch aufragenden Bücherregalen in der Bibliothek der Akademie und forschte zu lange vergessenen Ereignissen.
Bei ihrer Recherche zu Pirelet war sie auch auf dieses Textfragment gestoßen. Die Tatsache, dass ein fremder und mittelloser Verbannter die Tochter des Königs geheiratet hatte, war seinerzeit skandalös genug gewesen, dass mehrere bedeutsame Historiker dieses Geschehnis beiläufig erwähnten, doch war Mettin Arta der Einzige, der eine Schwangerschaft der Prinzessin als Grund für die Heirat nannte. Und er galt als ein unzuverlässiger Berichterstatter, der viel Freude an blutrünstigen und skandalösen Geschehnissen hatte und diese in einen moralphilosophischen Kontext setzte. Aber dennoch war etwas an diesem Text, was sie faszinierte. Es war ein Rätsel. Ihr war nicht bewusst, wieso Garek sie so beharrlich an dem historischen Kontext arbeiten ließ, doch vergrub sie sich zunehmend mit Interesse in den alten Texten.
Auch der junge Pirelet war heimatlos und in seiner Heimat ungewollt in dieser Stadt gestrandet. Und er hatte es vermocht, vom hiesigen König ein Heer zu erhalten, mit dem er nach Callinger übergesetzt war. Letztendlich war er gescheitert, ja, aber er hatte es immerhin versucht. Leider verrieten die Quellen ihr bisher wenig darüber, wie genau er den König von einer Ehe mit seiner Tochter überzeugt hatte.
In der Hoffnung, noch etwas mehr erfahren zu können, legte sie dieses Pergament beiseite und sah den Stapel mit hoch aufgetürmten Büchern durch. Bald schon vergrub sie sich erneut zwischen den Zeilen, da sie hoffte, dass die Vergangenheit Lösungen für die Gegenwart und Zukunft bereithielt.
Es konnte noch nicht viel Zeit vergangen sein, als jemand plötzlich einen Stapel mit Blättern auf das Buch fallen ließ, in dem sie soeben las. Erschrocken zuckte Schedela zusammen und fuhr herum. Hinter ihr hatte Garek sich aufgebaut, die Arme vor der Brust verschränkt. Am heutigen Tag trug er über einer dunklen Hose ein langärmliges knielanges Hemd in einem dunklen Blau. Am Ausschnitt und den Seiten war es mit großzügigen Ornamenten und Schmucksteinen verziert. Für seine Verhältnisse war es schlicht.
Überrascht hob sie eine Augenbraue. Er hatte sie noch nie während ihrer nachmittäglichen Forschungen in der Bibliothek besucht. Zwar hatte sie ihn das ein oder andere Mal ins Gespräch mit anderen Forschern gesehen, doch hatte er sie dabei kaum beachtet.
»Wer bist du, Schedela?«, fragte er, derweil er an ihr vorbei griff und die Blätter wieder an sich nahm. Schedela, die nur noch einen kurzen Blick darauf werfen konnte, erkannte Listen.
Darauf hatte es also hinauslaufen müssen. Schedela hatte seine Fragen bereits viel früher erwartet. Er war ein Forscher und diese waren von Natur aus neugierig. Doch sie war gut vorbereitet und hatte sich ihre Antworten sorgfältig zurechtgelegt.
»Ich bin die, die ich bin, die, mit der du die letzten Tage Seite an Seite gearbeitet hast.«
Er schnaubte. »Ich habe dich nach deinem Verständnis gefragt und nicht nach einer Antwort im Sinne von Lerikaars Identitätstheorie.«
»Ich habe dir eine Antwort gegeben«, antwortete Schedela ruhig, »du interpretierst sie, wie du es für richtig hältst.«
Er lächelte. »Sag, welche poststrukturalistischen Theoretiker hat deine Heimat hervorgebracht, dass du ihre Theorien und Methoden so selbstverständlich wiedergibst?«
Nur eine, schoss es ihr durch den Kopf, und dieser hat die Starrheit unserer Gesellschaft das bereits wieder ausgetrieben. Aber sie sprach es nicht aus. Für den Kontext dieser Debatte war diese Information völlig irrelevant.
»Mein Volk ist in vielen Künsten bewandert«, erwiderte sie stattdessen. Es war keine Lüge. Die Menschen Iderras hätten für die Künste ihres Volkes nur kaum Verständnis gezeigt.
Garek zog sich einen Hocker von einem benachbarten Tisch heran und setzte sich ihr gegenüber.
»Das mag sein.« Er zuckte mit den Schultern. Die Seide seiner Kleidung raschelte sanft. »Aber die hohen Künste der Wissenschaften zählt, wie es scheint, nicht dazu. Weißt du, wie viele Bewerber für die Akademien es in den letzten fünfzig Segmentjahren aus Callinger gab?«
»Ich kann es mir denken«, knurrte Schedela, »und dennoch braucht es immer jemanden, der einen Anfang macht und dadurch eine neue Kultur prägt. Jede Wissenschaft, jede philosophische Theorie begann mit einem Gedanken, den ein Mensch hegte.«
»Aber du bist nicht deswegen hier.« Seine Miene war ausdruckslos, darum bemüht, nichts von seinen Gedanken oder Gefühlen offenbar werden zu lassen. Nur mühsam gelang es Schedela, ein Lächeln zu unterdrücken. Garek war ein hervorragender Rhetoriker, der sicherlich von manchem unaufmerksamen Gesprächspartner Informationen erfahren konnte. Doch Schedela war von der besten Sprachwissenschaftlerin erzogen und unterrichtet worden, die Callinger in letzter Zeit hervorgebracht hatte. Auch sie konnte mit Worten umgehen. Nachdenklich musterte sie Garek. Sie wusste, dass er ihr helfen konnte. Die Frage war allein, was er im Gegenzug von ihr verlangte.
»Es gab nur einen einzigen Bewerber«, informierte er sie und deutete auf die Zettel in seiner Hand. Erst jetzt sah sie, dass es sich bei ihnen um jene Listen handelte, in die auch Schedela sich bei ihrer Anmeldung für die Aufnahmeprüfungen eingetragen hatte. »Und sie wurde an der Sprachwissenschaftlichen Akademie angenommen, vor genau …«
»41 Segmentjahren«, unterbrach Schedela ihn, »ich weiß. Sie war meine Mared.« Sie zögerte. Es gab weder in der kerajaanischen noch in der iderranischen Sprache einen Begriff, der die Bedeutung einer Mared erfassen könnte. »Eine zweite Mutter, eine Mentorin, Erzieherin, Lehrerin.«
»Daher also«, murmelte Garek, der seine Faszination nicht länger verbergen konnte. »Aneh hat mir erzählt, dass sie eine fantastische Wissenschaftlerin im Bereich der Sprachphilosophie war.« Aneh war, wie Schedela sich erinnerte, eine der ältesten Wissenschaftlerinnen an der Akademie. Auch sie hatte bei den Aufnahmeprüfungen gesessen und Schedelas Diskussion zugehört. Im Gegensatz zu Garek hatte sie dieses Segmentjahr niemanden angenommen.
Zögernd hob Schedela die Hand und deutete auf die Listen in seiner Hand. »Darf ich es sehen?«
Verwundernd musterte er sie. Dann zuckte er mit den Schultern und reichte ihr ein einzelnes Blatt. Ihre Augen huschten über die Zeilen, verirrten sich in der fremdartigen Schrift und erstarrten schließlich über ein paar dürren Buchstaben, in der sie nur mühsam eine einst vertraute Handschrift wiedererkannte. Sehnsucht stieg in ihr gemeinsam mit Erinnerungen auf, die sie lange zurückgehalten hatte. Es war keine unbeschwerte, aber eine glückliche Zeit gewesen, deren Verlust sie früher mehr geschmerzt hatte. Mittlerweile hatte sie akzeptiert, dass jene Momente endgültig der Vergangenheit angehörten. Meistens.
Ihre Gefühle hatte sie vor Garek nicht verbergen können. »Du vermisst sie. Was ist mit deiner Mutter? Ist es in deiner Kultur kein Brauch, dass sie ihre Kinder in den Weisheiten des Lebens unterrichten?« Ihr war bewusst, dass diese Frage Teil einer größeren Strategie war, mit der er versuchte, Informationen zu erhalten. Schedela ließ es zu.
»Meine Mutter war kaum in der Lage, sich um mein Wohlergehen zu kümmern«, entgegnete sie trocken, »Sie starb bei der Geburt meines Zwillingsbruders.« Ihre Mutter war allein in den Erzählungen ihres Vaters lebendig geworden, der seine Ehefrau sehr geliebt haben sollte. Zurückgebracht hatte sie das nicht.
Ihr Gegenüber gluckste. »Nicht ebenso bei deiner? Oder trägt er die alleinige Schuld?«
»Vielleicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich denke, ich war schon damals klug genug, den Unschuldsbekundungen meines Bruders nicht zu glauben.«
»Du hältst nicht viel von deinem Bruder.« Er nahm ihr die Listen aus der Hand, legte sie ordentlich übereinander und drapierte sie in seinem Schoß. »Nun, der meine dient im kerajaanischen Heer, deshalb kann ich mir wohl kaum ein Urteil erlauben.« Garek machte aus seinen nationalistischen und anti-kerajaanischen Sichtweisen keinen Hehl. Ein Bruder, der im Heer eines Landes diente, das er als Besatzernation verabscheute, bedeutete für ihn sicherlich eine große Schande.
»Ich denke, ein Bruder, der seiner Schwester Thron und Erbe vorenthält, hat deutlich Schlimmeres verbrochen.«
Sie bemerkte ein kurzes Zucken in seinem Gesicht. Es war rasch verschwunden. »Nun, wenn wir das Leid, das wir durch unsere Brüder erlitten haben, gegeneinander aufwiegen, wo enden wir dann?«
»Sag du es mir.«
Kurz herrschte Schweigen, während er sie musterte. »Weißt du, dass Aneh mich gewarnt hat, dich als Novizin anzunehmen? Sie meinte, dass du nicht der Wissenschaft wegen nach Iderra und an die Akademie gekommen bist.«
Schedela zuckte mit den Schultern. Was erhoffte er sich davon? Aneh hatte recht. »Und so ist es. Ich bin in Iderra, um den Thron meines Vaters für mich zurückerobern. Und dafür muss ich an den Königshof.« Sie hatte ihre Karten offenbart. Nun musste er den nächsten Zug machen.
Garek grinste sie mit seinem charakteristischen Lächeln an. »Ich weiß, dass Aneh mich für einen verschwenderischen und eitlen Dummkopf hält, doch sie unterschätzt mich, wenn sie glaubt, dass ich das nicht gemerkt habe.«
Das? Wie viel hatte er erkannt, wie viel erraten? Schedela hatte das Gefühl, eine Gratwanderung zu begehen, bei der sie jeden Moment hinabstürzen konnte. Aus jedem Wort, das sie sprach, konnte er ihr später einen Strick drehen.
Manchmal war der Angriff die beste Verteidigung. »Weshalb bist du dann für mich aufgestanden?«, forderte sie ihn heraus.
»Weil du etwas hast, was ich besitzen möchte.« Nun sah sie die Gier in seinem Blick, den leichten Anflug von Wahnsinn, die ihn seinen Forschungen nachgehen ließ.
»Wissen, Schedela. Ich stieß vor neun Segmentjahren zum erstem Mal in dem Archiv der Akademie auf eine kerajaanische Ballade, der eine bruchstückhafte Übersetzung in einer mir unbekannten Sprache beilag. Diese zeichnete sich durch keinerlei Verwandtschaft zu anderen Sprachen aus und schien mir eine isolierte Sprache zu sein. Nirgends stieß ich erneut auf Zeugnisse dieser Sprache. Bis du jene Ballade vortrugst und ich wusste, dass ich eine Sprecherin dieser isolierten Sprache gefunden hatte.« Er sah ihr in die Augen. »Ich will dein Wissen. Für mich ist es ein Schatz.«
Schedela las den Wissensdurst in jede seiner Bewegungen, jedem Wort. Und sie glaubte ihm kein Wort. Es war nicht die Sprache, die ihn so faszinierte, davon war sie überzeugt. Nur was war es dann? Was erhoffte er sich von ihr?
»Gut.« Garek klatschte in die Hände. »Jetzt, wo wir einander besser kennen, wollen wir mit der Arbeit beginnen.«
Sie hob eine Augenbraue. »Welche Arbeit?«
Er grinste. »Ich denke, du willst an den Königshof. Ob du es glaubst oder nicht, das ist gar nicht so einfach.«
»Ach was.«
Schlagartig wurde sein Gesichtsausdruck ernst. »Versprich mir, dass du meinem König nicht schaden willst.«
Schedela zögerte nicht. »Ich verspreche es.«
Die Anspannung verschwand aus seinem Gesicht und Garek zwinkerte ihr zu. »Ich bin Iderraner und musste mich vergewissern.«
Ob er wirklich glaubte, dass sie ihr Wort einhielt? Schedela war sich nicht sicher, wie seine Kultur zu Versprechen und der Verpflichtung, sie zu halten, stand. Es war ihr auch egal. Für sie zählte allein das Erreichen des Zieles.
Sie räusperte sich. »Wie willst du das anstellen?«
»Die Königin legt sehr großen Wert auf eine umfassende Bildung ihrer Kinder und arbeitet dabei eng mit den Akademien zusammen. Sie hat nach einer Vorleserin iderranischer Lyrik gefragt«, berichtete er.
»Und wir werden ihr diesen Wunsch erfüllen.« Schedela konnte nicht anders, als sein Lächeln zu entgegnen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, sich ihm zu öffnen.
»Richtig, sobald deine iderranische Aussprache gut genug ist. Die Königin hasst den kerajaanischen Akzent, weshalb du dir diesen unbedingt abgewöhnen musst.«
Schedela hatte das Gefühl, wieder in einer gemeinsamen Verschwörung mit ihrem Bruder zu stecken, die das Ziel gehabt hatte, ihren Vater zu überlisten. Es war nicht immer einfach gewesen und hatte einer akribischen Vorbereitung bedurft, doch der Lohn war die gemeinsame Freude bei so manch geheimen Ausflug im Wald gewesen.
Bei dieser Verschwörung ging es um so viel mehr, doch das Gefühl war ihr ein vertrauter Freund, den sie nun willkommen hieß. Sie traute Garek noch lange nicht, aber er würde ihr helfen, ihre Ziele zu erreichen.
Für den Moment genügte ihr das.