Iderra, das Segment Ulaaruk, der achte Tag nach Traapur
Schedela hatte Jalldred seit drei Tagen nicht wieder zu sich gerufen. Stattdessen ließ sie seine Botschaften und Aufträge über andere ihrer Männer übermitteln und vergrub sich in der Arbeit, die für sie einfacher zu ertragen war. Garek hatte ihre häufigen Abwesenheiten nie beklagt, doch wie immer, wenn sie sich in der Akademie aufhielt, vergalt er ihr das, indem er sie mit Arbeit überhäufte. Sie hatte langwierige Übersetzungen angefertigt, seine Notizen in Texte übertragen und Informationen für seine Forschung zusammengetragen. Es war eine anstrengende Arbeit, nach der sie stets erschöpft war, doch sie war auch zutiefst befriedigend. Es blieb sogar ein wenig Zeit, die sie ihrer eigenen Forschung widmen konnte.
Sie hatte immer geglaubt, dass das ganze Unglück ihres Volkes mit dem Tod ihres Vaters begonnen hatte. Jekar war ein Visionär gewesen, der von einer starken Einheit ihres Volkes geträumt hatte. Zwar war er an diesem Ziel immer wieder gescheitert, doch hatte er nie aufgehört, es zu versuchen und in kleinen Schritten voranzugehen.
Manchmal fragte sie sich, wie er wohl über seine beiden Kinder dachte, die sich gegenseitig bekriegten. Selten wurde sie traurig darüber, dass sie und Schedmasal es nie vermocht hatten, seinem Wunsch gemäß, gemeinsam zu regieren. Alles hätte anders ausgehen können.
Ihr Vater war der Held ihrer Kindheit gewesen. Erst als Erwachsene hatte sie verstanden, wie wenig sie ihn eigentlich gekannt hatte. Ihr Bruder dagegen hatte sein eigenes Selbstbild auf der Erinnerung an ihren Vater aufgebaut. Selbst seinen Herrschernamen hatte er ihm gemäß gewählt. Jekarbaq. Ich werde der Ehre folgen.
Ja, der Name ihres Vaters hatte Ehre bedeutet, doch zuletzt war Schedela sich nicht sicher gewesen, ob Jekar wirklich immer ehrenhaft gehandelt hatte.
Nach seinem Tod hatte sie in seinen Unterlagen ein Gedicht gefunden, das sie nie hatte einordnen können. Soweit sie wusste, war ihr Vater nie ein großer Liebhaber von Lyrik gewesen. Aber das Gedicht war da und aus einem Grund, den sie nicht benennen konnte, hatte sie es damals an sich genommen.
Auch jetzt lag das Gedicht auf ihrem Schreibtisch, zwischen Büchern und Akten, die ihr als thematisch passend erschienen waren.
Müde rieb sie sich die Stirn, dann blickte sie wieder auf die Verse, die ihr immer wieder einen Schauer über den Rücken laufen ließen:
Mit dem Blut deiner Feinde hast du es geschrieben.
Den Tod hast du deinem Haus auferlegt
und kein Leben wird ihm mehr entspringen.
Wir besiegeln die Tränen deines Untergangs
und lauschen auf dein Flehen in der Nacht
Wir sind dein Ruf auf dem Sterbebett,
das Stöhnen auf den Lippen deiner Tochter,
der Schrei deiner ungeborenen Enkel.
Wir fordern von dir, was du uns nahmst
Und geben es nicht wieder her.
Dein Haus ist das unsere,
denn wir sind dein Schicksal.
Dein Flehen um Gnade ist unser Gebet.
Wir werden es hören.
Wir werden sie nehmen.
Wir werden siegen.
Im Laufe der Jahre hatte sie verschiedenste Dichter befragt, ob ihnen diese Verse bekannt vorkamen, doch niemand hatte ihr weiterhelfen können. Auch in der Akademie hatte sie viele Lyriksammlungen durchforstet und Wissenschaftler befragt, aber weitergekommen war sie nicht. Das Einzige, was sie hatte finden können, waren gewisse Ähnlichkeiten. Ausgerechnet Garek forschte zu Legenden und Geschichten, in denen sich Motive wiederholten.
Sie schob einige Bücher beiseite, bis sie das Stück zu Pirelets Legende fand, das sie an dieses Gedicht erinnerte.
Ein Kind für ein Volk, eine Heimat, so wie es in den Eiden vor seiner Geburt geschworen ward, las sie.
Sie hatte schon überlegt, ob es sich bei dem Gedicht um eine Prophezeiung handelte, doch sprachen die Götter in Zeichen, nicht in Worten. Die Panti waren es, welche die Zeichen zu Worten umformten, doch sprachen sie nicht in Gedichten. Überhaupt gab es wenig Lyrik in Schedelas Volk.
„Ihr solltet achtgeben, Schedela.“
Erschrocken blickte sie sich um und sah Aneh, die hinter ihr stand. Aneh, jene alte Sprachwissenschaftlerin, die sie bei der Prüfung abgelehnt und Garek vor ihr gewarnt hatte.
Die alte Frau zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Schedela.
„Warum? Wovor?“, fragte sie und überlegte, weshalb die Wissenschaftlerin ausgerechnet jetzt ihre Gegenwart suchen sollte. Bis auf ein paar flüchtige Grüße auf den Fluren hatten sie nicht miteinander gesprochen.
„Ihr begebt Euch in ein Schlangennest, Kind, und Garek wird nicht zögern, Euch fallen zu lassen, sobald Ihr Euch seinen Zwecken als nicht länger dienlich erweist“, antwortete die alte Frau mit ruhiger Stimme.
„Wir profitieren beide von dieser Zusammenarbeit“, erwiderte Schedela, immer noch unsicher, was sie von dieser Begegnung halten sollte.
„Gewiss. Garek ist ein hervorragender Wissenschaftler und der Austausch mit ihm ist stets fruchtbar. Aber es ist skrupellos bei der Erreichung seiner Ziele.“
So wie ich, dachte Schedela und fragte sich, was die Frau wohl sagen würde, wenn sie von Schedelas Plan wüsste, den Thronerben zu entführen.
„Und Ihr habt Garek vor mir gewarnt“, erinnerte sie sich an etwas, was Garek ihr einst erzählt hatte.
„In der Tat. Und ich würde es wieder tun, denn Ihr seid nicht als Wissenschaftlerin gekommen. Zugegeben, dass Ihr Euch mit dem Prinzen verlobt, lag damals jenseits meiner Vorstellungskraft.“ Ihr Blick ruhte, wie Schedela bemerkte, auf ihrem Schreibtisch.
Schedela war überrascht, dass die Spekulationen darüber bereits die Stadt erreicht hatten. Aber sie nahm an, dass eine so renommierte Wissenschaftlerin wie Aneh hervorragende Beziehungen zum Palast besaß.
„Woran arbeitet Ihr?“
Schedela zögerte kurz, dann reichte sie der alten Frau eine Übersetzung des Gedichts ihres Vaters. Seltsamerweise traute sie ihr mehr als Garek, dem sie das nie gezeigt hätte.
Aufmerksam las Aneh das Gedicht, wobei sie die Silben mit den Lippen formte.
„Es ist in Eurer Sprache geschrieben?“, fragte sie und als Schedela nickte, bat sie: „Tragt es mir vor.“
Schedela zuckte mit den Schultern, dann rezitierte sie das Gedicht aus dem Gedächtnis in pohiret.
Aneh trommelte mit den Fingern auf ihrer Stuhllehne. In ihrer Hand hielt sie noch immer die Übersetzung. „Pedech im zweiten Vers und Pedoch im vierten?“
„Pedech heißt Tod, Pedoch Untergang. Unseren Worten liegen Konsonantenwurzeln zu Grunde, zumeist drei.“
„Und die Kombination der Vokale verändert die Bedeutung.“
„Ja.“ Schedela nickte. „Zudem können Prä- und Suffixe hinzugefügt werden oder Konsonanten werden verdoppelt.“
„Trag es mir erneut vor“, meinte sie und schloss die Augen.
Schedela erfüllte ihr diesen Wunsch, während sie sich fragte, worauf die Wissenschaftlerin aus war. Was erhoffte sie aus diesem Gedicht zu erfahren? War sie wie Garek schlichtweg neugierig auf eine isolierte Sprache?
„Hm“, machte Aneh, als Schedela fertig war. „Und du bist sicher, dass es auch in dieser Sprache entstanden ist?“
Schedela zögerte. Sicher war sie sich nicht. „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dem nicht so wäre. Pohiret ist die verbreitete Sprache meiner Heimat und wie Garek bereits feststellte, gibt es nur wenig Austausch zum Festland.“
„Dennoch stört mich das Metrum. Diesen Bruch zwischen Vers sieben und Vers acht empfinde ich als zutiefst irritierend.“
„Ich wüsste wirklich nicht, weshalb ...“ Sie brach ab, als sie die Wahrheit in Anehs Worten erkannte. Was wäre, wenn die Sprecher, deren Drohungen sie von Beginn an als untypisch für ihr Volk empfunden hatte, tatsächlich einem anderen Volk angehörten?
Sie wurde blass.
„Iderri“, wisperte sie.
Aneh musterte sie schweigend, dann erhob sie sich. Scheinbar hatte sie beschlossen, dass eine aufstrebende Wissenschaftlerin ihre Gedanken alleine ausarbeiten musste.
Dabei hatte Schedela Angst.
Wenn dieses Gedicht tatsächlich ursprünglich in Iderri geschrieben worden war, was bedeutete das für sie, für ihr Volk? Und was sagte es über ihren Vater aus?
Warum sollten die Iderri ihrem Vater gedroht und den Untergang über seine Familie beschworen haben?
Was war damals nur geschehen?
Allerdings hatte Schedela nicht endlos Zeit, sich diesen Fragen zu widmen, so gerne sie es auch getan hätte: Am heutigen Tag stand ihre Verlobung an, deren Vorbereitung wider jenen Erwartens rasch vorangetrieben worden waren. Schedela kannte den Grund dafür nicht, doch der König hatte den Prozess so sehr beschleunigt, dass der Zeremonienmeister sich über die „unschickliche Eile“ beschwert hatte. Aber sie war dankbar dafür. Die Zeit lief ihr davon und je länger sie sich in Iderra aufhielt, desto ungeduldiger wurde sie. Sie musste bei ihren Männern in Callinger sein, ihr Heer führen und einen Namen zurückgewinnen.
So viel zu tun, so wenig Zeit.
Es war früher Nachmittag, als sie zum Palast aufbrach. Sie hatte nur wenige Stunden geschlafen und war vollkommen übermüdet, hatte jedoch dennoch ihr Bestes gegeben, die Anzeichen dafür mit Schminke zu kaschieren.
Auch wenn der Weg nicht weit war, hatte Arraj ihr eine Sänfte schicken lassen, die dem Anlass angemessen war. Da es unterwegs zu regnen begann, war sie für diesen Luxus dankbar, auch wenn es sich immer noch merkwürdig anfühlte, sich tragen zu lassen.
Im Palasthof wurde sie vom Zeremonienmeister und dessen Lakaien erwartet. Zwei junge Dienerinnen in weißen Kleidern hielten Schirme über sie, wie sie die Sänfte verließ.
„Das ist ein gutes Zeichen“, bemerkte der Zeremonienmeister zu ihr, nachdem er sich leicht verneigt hatte.
„Der Regen?“, fragte sie, derweil sie vorwärtsgingen.
„Er setzt früher ein als von den Meteorologen vorhergesagt. Es wird eine gute Ernte geben.“
In Iderra, nur von einem kleinen Streifen fruchtbaren Landes umgeben, wurde Regen als großer Segen betrachtet. Das Gebirge im Nordosten, welches das Land vor den harten Wüstenwinden schützte, und ein Fluss, der ebenjenem entsprang, ermöglichte etwas Landwirtschaft. Ansonsten war die Stadt vom Handel abhängig.
„Mögen die Winde vom Osten kommen und der Fluss überfließen“, antwortete sie mit dem traditionellen Erntewunsch, den sie hier bereits gelernt hatte.
Das entlockte sogar dem sonst so gestrengen Zeremonienmeister, der seine Missbilligung über ihre Verbindung zu Arraj beständig zum Ausdruck brachte, ein kleines Lächeln
Der Zeremonienmeister geleitete sie bis zu einem repräsentativen Saal, der mit Gold, Gemälden und Vasen verschwenderisch ausgestaltet war. In der Mitte stand ein gewaltiger, ovaler Tisch aus dunklem Holz, der bis auf ein einzelnes Dokument und eine Schreibfeder leer war. Auf der einen Längsseite standen der König Martik Arra, die Königin Tsagi Anat und ihr ältester Sohn Arraj Nek. Der Zeremonienmeister geleitete Schedela bis zur anderen Längsseite, bevor er seinen Platz an der Stirnseite einnahm.
Hinter Schedela standen zwischen den Säulen des Raumes sechs adelige Damen, hinter Arraj sechs adelige Männer. Sie alle waren Iderraner.
Der Zeremonienmeister räusperte sich: „Wir sind heute zusammengekommen, um die Einheit zweier Personen, zweier Familien und zweier Völker voranzutreiben. Gibt es jemanden, der sich dagegen aussprechen möchte?“
Nacheinander traten die sechs Männer und Frauen vor und erklärten ihre Zustimmung zu der Verlobung.
Es folgten traditionelle Gebete, Gesänge und Reden, die Schedela schweigend ertrug.
Bald schweiften ihre Gedanken ab und sie fragte sich, was Jalldred jetzt tat. Vermutlich übte er zurzeit seine Pflichten als Palastwache aus. Ob er wohl von ihrer Verlobung wusste? Noch war diese nicht offen kommuniziert worden, auch wenn aufmerksamen Augen und Ohren die Verbindung von ihr und Arraj natürlich nicht entgangen waren.
Sie blickte zu Arraj, dessen Miene ausdruckslos war. Als er ihren Blick bemerkte, lächelte er leicht und es war dieses Lächeln, an dem sie sich für den Rest der Zeremonie festhielt. Immer wieder bedeutete Arraj ihr mit den Augen, wenn sie etwas zu tun oder zu sagen hatte.
Aber schließlich war es geschafft und der Zeremonienmeister reichte die Feder, nachdem er sie gesegnet hatte, an den König und seine Frau weiter, die beide unterschrieben. Dann folgte Arraj, der ihr den Vertrag anschließend zuschob.
Langsam nahm auch Schedela die Feder in die Hand und zog den Vertrag zu sich heran. Links, unter dem Wappen Iderras hatte bereits Arraj unterschrieben. In Callinger gab es keine Wappen. Schedela hatte ihres für diesen Anlass hatte entwerfen lassen, um dem Zeremoniell zu genügen. Es sah ungewohnt aus.
Darunter schrieb sie ihren Namen: Schedela Nawellon Miselisach Tikwalas.
Ihr Vorname, verliehen mit dem sechsten Lebensjahr, der Name ihres Stammes, ihr Kriegername, den sie sich mit 24 erworben hatte, und ihr Herrschername. Ihr Göttername, der bei einem solch bedeutendem Anlass ebenfalls aufgeführt werden würde, war ihr aberkannt worden. Ironischerweise hatte ihr Bruder zwar einen Götternamen aber keinen Kriegernamen. Schedela war immer die bessere Kämpferin von ihnen gewesen. Noch gut erinnerte sie sich an jenen Tag, als ihr Vater sie zum ersten Mal nach Meschvaj vor die Volksversammlung gebracht hatte. Während Schedela als Geschenk einen seltenen weißen Hasen dargebracht hatte, den sie mit ihrer Schleuder erlegt hatte, war ihr Bruder auf die Idee gekommen, eine Hand voll Getreide aus einem der Vorratssäcke zu stehlen, um die Körner der Volksversammlung zu schenken. Wie hatte er es nur geschafft, damit die Panti zu beeindrucken?
„In einer kommenden Zeit der Finsternis wird man dich machtlose Stärke des Volkes und eine ungehörte Stimme, die das Volk wachrüttelt, nennen. Du wirst einem Licht folgen, das niemand sehen kann, aber nicht von deinem Pfad abweichen.“ Das waren die Worte, welche die Panti damals zu ihr gesprochen hatten. Schedela hatte nie verstanden, was sie bedeuteten.
Ihrem Bruder dagegen hatten die Panti zugesprochen, dass er in die Fußstapfen von Saritka Farasain treten würde, dessen Thronname Hawerefua gelautet hatte und den man allgemein als den größten König Callingers betrachtete. Ihr dagegen waren nur unklare Worte geblieben.
Manchmal war das Leben ungerecht, was Schedela jedoch nie daran hindern würde, für ihr Recht einzustehen.
Zuletzt unterschrieben die zwölf Adeligen, um den Vertrag bezeugen zu können.
Damit war der wichtigste Teil der Verlobungszeremonie vollendet.
An die Zeremonie schloss sich ein kleines Gastmahl an, zu dem die zwölf Zeugen, sie und die königliche Familie geladen waren.
Schedela saß zwischen Arraj und seinem jüngerem Bruder Tsnem Yerk, der wesentlich entspannter mit dem höfischen Zeremoniell umging und seinen ersten Kelch ganz ungeniert während der kleinen Ansprache seines Vaters leerte. Seine hochschwangere Frau Nasiye, die neben ihm saß, verdrehte die Augen und stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen.
Nach der Ansprache spielten Musikanten auf und Arraj erläuterte ihr die Bedeutung der einzelnen Lieder: „Es werden genau elf gespielt, ein traditioneller Liederzyklus, der bei jeder Verlobung gespielt wird. Unsere heilige Zahl ist zwölf, und dass wir nur elf Lieder spielen, deutet daraufhin, dass die Vollkommenheit der Beziehung erst mit der Eheschließung erreicht wird. Es ist also ein Ausdruck der Sehnsucht nach dieser Vollkommenheit und zugleich eine Ermutigung und Warnung nach eben jener zu streben.“
„Letztendlich“, überlegte Schedela, „sind unsere Völker gar nicht so verschieden.“
„Inwiefern?“, erkundigte sich Arraj, während er ihr etwas Fisch auftat.
„Auch wir haben einen Haufen Vorzeichen, Omen und Glücksbringer, welche das Zeremoniell bei einer Eheschließung bestimmen.“
Nachdenklich nickte Arraj, dann fragte er: „Ich las darüber, dass in Eurem Volk nur einmal geheiratet wird. Entspricht das den Tatsachen?“
Überrascht nickte Schedela. Sie hatte nicht erwartet, dass sich in der hiesigen Bibliothek viel mehr als Legenden und grob verzerrte Fakten über ihr Heimatland finden lassen würden.
„Die Ehe wird bei uns als etwas zutiefst Heiliges betrachtet, als eine Verknüpfung der Seelen, welche für die Ewigkeit gilt“, erläutert sie, „sie ist einmalig, unverrückbar und untrennbar.“
„Ihr habt keine Zweitfrauen?“, mischte Tsnem Yerk sich überrascht ein, „und könnt euch nicht trennen?“
„Nein. Eine Trennung ist möglich, wenn der Bund unter Zwang geschlossen wurde. Das geschieht aber nur sehr selten. Politische Ehen, wie sie hier üblich sind, gibt es bei uns nicht, weshalb es sehr viel weniger unglückliche Ehen gibt.“
„Hoffen wir das Beste für Eure Ehe“, grinste Tsnem Yerk und feixte seinem Bruder zu, bevor er wieder seinem Bierkrug zusprach.
Arraj wirkte nachdenklich.
„Es gibt keine politischen Ehen?“, hakte er in einem Tonfall nach, der sie sich fragen ließ, ob es eine Andere in seinem Leben gab, die er an ihrer Statt hätte heiraten wollen.
Plötzlich empfand Schedela Mitleid für ihn und den Weg, den sie ihm zugedacht hatte – und war selbst darüber erstaunt.
Langsam legte sie die Hand auf seine und drückte sie leicht.
„Wir haben ein sehr starkes Stammessystem. Bei der Hochzeit wird die Frau ein Teil der Familie und des Stammes ihres Mannes. Ihre alte Familie hat keinen Anspruch auf politische Bündnisse nur aufgrund einer Heirat.“ Sie überlegte kurz, dann fuhr sie fort: „Mein Vater hat mehrere Schwestern, die alle geheiratet haben, in dem sie ihre Partner selbst gewählt haben. Ihre Kinder werden nie einen Anspruch auf den Thron aufgrund der Herkunft ihrer Mütter erheben können.“
Er räusperte sich. „Das klingt schön.“ In seiner Fassade war etwas gebrochen und Schedela bemerkte erst jetzt, wie schwer ihm diese Verlobung trotz seines Pflichtbewusstseins fiel.
„Nicht nur. Es besteht kaum Kontakt zu den Herkunftsfamilien. Ich habe meine Tanten vielleicht ein, zweimal gesehen.“
Kurz darauf bemerkte sie, dass sie fast zu viel gesagt hätte. Hoffentlich dachte Arraj nicht weiter und fragte sich, was es für ihre eigene Zukunft bedeutete, wenn sie mit ihm die Ehe schloss. Hoffentlich erkannte er nicht, dass auch sie bei einer Eheschließung jeglichen Anspruch auf den Thron verlor.
Aber er fragte nicht weiter, sondern wandte sich stumm seinem Essen zu. Schedela unterhielt sich stattdessen weiter mit seinem Bruder und dessen Frau, die sie mit lebenslustigen und sicherlich übertriebenen Anekdoten zu unterhalten vermochte.
Fünf Tage lang durfte sie nun keinen Kontakt zu Arraj oder seiner Familie suchen. Früher, so hatte der Zeremonienmeister ihr erklärt, waren die beiden Verlobten noch unabhängig voneinander in die Wüste geritten, um in der Einsamkeit die zukünftige Verbindung zu prüfen. Mittlerweile war das unüblich geworden und die Familien hatten sich zur Prüfung der Verbindung nur noch voneinander fernhalten.
Erst wenn diese Zeit überbrückt war und keine Argumente gegen die Verlobung bekannt wurden, wurde sie auch öffentlich bekanntgegeben und damit für gültig erklärt. Die Verkündigung von Schedelas und Arrajs Verlobung war für jenes Gastmahl angedacht, bei dem der kerajaanische Botschafter verabschiedet werden würde. Schedela war sich durchaus bewusst, dass Martik Arra diesen damit bewusst zu provozieren gedachte. Doch Botschafter Pujabaat würde die Verbindung, die dazu gedacht war, die Abhängigkeit Iderrras von Kerajaan zu schwächen, so oder so missbilligen.
Zwei Tage nach dem Gastmahl würde eine traditionelle dreitägige Jagd stattfinden. Dann würde Schedela ihren Plan endlich umsetzen können.
Immerhin galt es, einen Götternamen zurückzuerlangen.