Tsarem, die Hauptstadt Callingers, der erste Brabirt des Segments Retoldut
Schedmasal, der König von Callinger, war müde. Er war die Diskussionen und Bitten leid, die ihm wieder und wieder dieselben zu sein schienen, ohne dass ein Ergebnis in Sicht wäre. Er hasste die Tatsache, dass mit großer Macht nicht alles leichter, sondern nur alles komplizierter wurde. All die Menschen, die etwas von ihm wollten und verlangten, dass er sich ihrer Probleme annahm, obwohl ihm seine eigenen Probleme bereits als unlösbar erschienen ... Waren sie, oder diejenigen, denen er nichts recht machen konnte, schlimmer?
Er wünschte sich nur einen Moment der Ruhe gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter. Es war das Versprechen, das ihn hielt. Als er den Thron Callinger bestiegen hatte, da war es an ihm gewesen, sich einen Thronnamen zu wählen, ein Motto, unter das er seine Regentschaft stellte. Schedmasals Wahl war auf »Jekarnet« gefallen, was »Der Ehre folgen«, bedeutete. Das war sein Schwur und sein Wunsch. Aus diesem Grund saß Schedmasal auf einem alten Stuhl, für den irgendeiner seiner Vorfahren das Blut von Hunderten vergossen hatte, und fokussierte sich auf das Gespräch, welches vor ihm entbrannt war. Männer diskutierten, gestikulierten wild, hämmerten auf den Tisch und betranken sich. Es war eine gewöhnliche Beratung, die sich wie stets durch ihre Außergewöhnlichkeit auszeichnete.
An der hölzernen Tafel in der Halle des Königs saß ein gutes Dutzend Männer. Die flackernden Lichter der an den Wänden befestigten Fackeln erhellten ihre Gesichter nur teilweise. Auch das natürliche Licht, welches durch Spalte in den Wänden oder an der Tür drang, genügte nicht, um die Halle vollständig zu erhellen. Sie saßen im Halbdunkel, doch dies störte Schedmasal nur wenig. Auf der Tafel standen Krüge mit Bier und Met, aus denen sich die Männer selbstständig in ihre Trinkhörner eingossen, weil Schedmasal alle Sklavinnen bereits zuvor weggeschickt hatte, damit sie ungestört beraten konnten.
Schedmasal saß an der Stirnseite der Tafel und nun beugte er sich vor, um besser zu verstehen, wohin sich die Diskussion entwickelte. Es war nicht schwer, das Thema zu erkennen.
»Wir brauchen mehr Truppen«, sprach einer seiner Berater das leidige Thema an. »Wir alle wissen, wie schwer es wird, die Usurpatorin aus ihrem Versteck zu treiben.«
»Die Stammesversammlung …«
»Auch die Stammesversammlung will diesen Krieg gewinnen. Wir brauchen ihre Männer. Nach neun Segmentjahren muss dieser Krieg ein Ende finden.«
»Richtig, und dafür brauchen wir …«
Der König räusperte sich. Seine Ratgeber und Offiziere verstummten, ausgenommen die, welche schon unter den Tisch gesunken waren und lautstark schnarchten.
»Gibt es schon Nachricht von den Kundschaftern, die ich nach Terisat geschickt habe?«, fragte er.
Lejass, ein getreuer Ratgeber, welcher bereits unter Schedmasals Vater gedient hatte, meldete sich zu Wort.
»Leider nein, Majestät. Doch meldete keiner unserer Grenzposten verdächtige Truppenbewegungen, weshalb wir davon ausgehen können, dass die Verräterin Schedela sich immer noch nördlich des Lumariks aufhält.« Nachdenklich strich sich Lejass über den gekräuselten grauen Bart, der ihm über die Kleidung floss. Eingeflochtene Perlen und Knochenstücke klackerten bei jeder Bewegung gegeneinander. Schedmasal schätzte seinen Rat.
»In der Kälte wird die Treue ihrer Männer gefroren sein«, warf der weitaus jüngere Gimmos kauend ein. Brotkrümel fielen aus seinem geöffneten Mund. Er war der Sohn eines Stammesfürsten und der König hatte gehofft, als Dank für seine Berufung in den königlichen Rat die Truppen seines Vaters zu erhalten. Bisher jedoch hielt sich der Stammesfürst bedeckt.
Auf diese Worte entbrannte leises Gelächter an dem Tisch. Einer der Betrunkenen hob verschlafen den Kopf.
»Was‹n?«
»Ruhe.« Gimmos gab dem Mann eine Kopfnuss und drückte ihn zurück auf den Tisch.
»Wir sollten den Tatsachen ins Auge sehen«, sprach Lejass, der nicht in das Gelächter miteingestimmt war und Gimmos ignorierte, weiter. »Die Feindin hält eine einzige Stadt, die wohlgemerkt schon zuvor eine Ruine war, und ein mit Eis überzogenes Gebiet, in dem sich keine großen Heere ernähren lassen, wie uns andere Personen immer weismachen wollen.« Er schaute niemanden bestimmten an, auch wenn jeder wusste, wer gemeint war.
Nabich, einer von Schedmasals erfahrensten Heerführern, räusperte sich. Selbst jetzt noch trug er gehärtetes Leder über seiner Kleidung. »Letzten Winter hielt Schedela auch keine größeren Gebiete«, gab er zu bedenken, »und dennoch stand sie im Frühsommer am Tirok, was nur wenige Tagesritte von hier entfernt ist.« Sein von Furchen und Narben überzogenes Gesicht verzog sich grimmig.
»Mindestens einen Ritt von einer Woche«, verbesserte Lejass ihn, »für einen Boten.«
Nabich beugte sich über den Tisch hinweg, bis er dem Gelehrten in die Augen sehen konnte. »Was dennoch nicht bedeutet, dass es keine Gefahr gegeben hätte.«
»Richtig«, gab der alte Mann mit dem langen Bart zu, »und doch frage ich mich, wie sinnvoll ein Festhalten an den bisherigen Strategien ist, wenn wir jedes Segmentjahr erneut an denselben Grenzen stehen.«
»Was schlägst du vor?«, fragte der König.
»Einen massiven Vormarsch unserer Truppen auf ihre Stellungen.« Die Augen des alten Generals begannen zu leuchten. »Möglichst bald, bevor sie neue Verbündete gewinnen kann.«
»Das würde unsere Truppen auf den Norden konzentrieren«, fasste Schedmasal zusammen, »und große Teile des Landes schutzlos preisgeben.« Dies war etwas, was Schedmasal um jeden Preis vermeiden wollte. Er konnte sich keinen langwierigen Feldzug in die Ferne leisten, denn in seinem Volk musste ein König präsent sein, wollte er sich der Treue seiner Untertanen und Gefolgsleute vergewissern. Er musste durchs Land reisen, Geschenke machen und Drohungen aussprechen, um das Land zusammenzuhalten. Dies war der vernünftige Anteil seines Selbst. Der unvernünftige verlangte nur nach Rache, welche ihm auch ein langwieriger Feldzug in den Norden geben würde.
»Und die Truppen Schedelas vernichten«, entgegnete Lejass ungerührt.
»Falls sie im Norden ist und falls wir sie besiegen können. Ich bin sicherlich nicht der Einzige dieser Runde, der weiß, wie unzugänglich der Norden des Hedöraneg-Gebirges ist. Jemanden, der sich dort verbirgt, zu einer Schlacht zu zwingen, ist … schwierig.« Nabich blickte auffordernd in die Runde und der ein oder andere nickte, während andere noch nicht einmal aus ihren Bierpfützen aufblickten.
Und falls wir diese großen Truppen überhaupt rekrutieren können, dachte der König, der auf seinem Stuhl am Kopf des Tisches das Geschehen nun aufmerksam beobachtete.
Es war nun das neunte Segmentjahr, das sie diesen Krieg führten, und ein Ende war nicht in Sicht. Für Schedmasal konnte dieses nur in einem Sieg bestehen. Etwas anderes kam nach der Schande, welche ihm die Verräterin Schedela zugefügt hatte, nicht in Frage. Warum der Krieg allerdings noch nicht zu Ende war, verstand er nicht wirklich. Er war derjenige mit den größeren Truppen, dem meisten Geld, den besseren und zahlreicheren Ressourcen und dennoch war es ihnen bisher nicht möglich gewesen, diese verfluchte Rebellin aus ihrem Nest im Norden zu holen.
»Und was machen wir, wenn sie in unsere Kernlande einfällt?«, fragte Grimmas. »Wenn sie gar nicht mehr im Norden ist? Wir würden das Land entblößen.«
»Dann soll sie das«, knurrte Lejass, »an den Befestigungen wird sie sich die Zähne ausbeißen.«
»Sie hat keine Schiffe«, warf Nabich ein, »Sie muss über den Tirok und den Lumarik überqueren, wo wir in den letzten Segmentjahren sehr gute Befestigungen errichtet haben. Und wir leben auf einer Insel. Sie kann nirgendwo anders hin. Wir werden sie besiegen.« Überzeugt sah er in die Runde und stieß dabei den Betrunkenen neben sich mit dem Ellenbogen an, als erhoffe er sich dessen Zustimmung.
»Genug.« Schedmasal hob die Hand.
Sogleich verstummte die Diskussion und die Ratgeber wandten sich ihrem König zu. Dieser sah zur Tür, die sich soeben öffnete. Helles Tageslicht ergoss sich in die Halle und ließ die Staubpartikel sichtbar werden, die im Licht tanzten. Im Eingang stand ein junger Mann in der Uniform der Soldaten des Königs.
Keuchend blickte er zu Schedmasal, der ihm mit einem Nicken die Erlaubnis zum Sprechen gab.
»Die Jägerin ist zurückgekehrt.«
Endlich, dachte er und sprang auf. Das Klatschen in die Hände ließ den ein oder anderen Ratgeber aufblicken.
»Meine Herren. Die Versammlung ist aufgelöst. Ich muss jemanden begrüßen.«
Ohne auf ihre Reaktion zu warten, lief Schedmasal die Tafel hinab. Das breite Grinsen auf seinem Gesicht konnte er nicht verhindern, auch wenn die Sorge ihn immer noch quälte. Doch sicherlich hätte der Soldat erwähnt, wäre der Jägerin etwas zugestoßen, oder?
Männer schlossen sich ihm an und folgten ihm bis zu der großen Tür, wo der Bote noch immer wartete. Nur ein sturzbetrunkener Ratgeber blieb zurück, den Kopf in einer Pfütze aus Erbrochenem und vergossenen Bier liegend. Die Vorbeigehenden strichen ihm über den Kopf, bevor sie leise Worte murmelten. Angeblich brachte dies dem nächsten, der sich betrank, eine Erleuchtung, einen Traum der Götter, die sein Leben radikal verändern würde. Schedmasal hatte das nicht getan. Er war darum bemüht, sich mit den Panti gut zu stellen, doch dass die Götter ihm noch helfen konnten, glaubte er nicht. Nicht nach dem, was mit seinem Sohn geschehen war.
Er erreichte den Soldaten, der die Nachricht überbracht hatte. »Wo hat man sie gesehen?« Ihm war bewusst, dass sich hinter ihm die Männer stauten, die nicht hinauskonnten, solange er inmitten der Tür stand. Und ihm war es so gleichgültig.
»Auf den Wiesen«, berichtete der junge Mann und neigte respektvoll den Kopf. »Sie kann jeden Moment eintreffen.«
Schedmasal verschwendete keine weitere Zeit. Er schritt aus der Halle, blinzelte, als er aus der schattigen Halle vollends in das helle Licht der Nachmittagssonne trat und eilte dann über den Bohlenweg, der Tsarem senkrecht durchschnitt, zum Haupttor.
Es gab nur zwei Tore inmitten der hölzernen Palisade und das nördliche öffnete sich zu den Klippen, sodass das südliche größere Tor das weitaus bedeutendere war, durch das der Großteil der Reisenden in die Hauptstadt Callingers einzog. Einwohner kamen ihm entgegen. Respektvoll grüßten sie, ohne dabei unterwürfig zu wirken. Sie waren freie Männer und Frauen, die sich in Tsarem niedergelassen hatten, weil sie hier gut leben konnten und viele Freiheiten besaßen. Natürlich entstammte der Großteil aus Schedmasals eigenem Stamm, dem die Verwaltung Tsarems oblag, doch es gab Personen aus allen Richtungen und Ecken des Inselkönigreichs Callinger.
Die Nachricht, dass eine Jägerin zurückkehrte, hatte sich rasch verbreitet. Vor dem Tor hatte sich eine kleine Menge angesammelt, die gespannt auf die einen Sohlgraben überspannende Brücke vor dem Tor starrte.
»Eine Jägerin!«, wisperten sie, »als Kind ist sie gegangen, als Erwachsene kehrt sie nun zurück.«
Schedmasal war es, der die erste Reihe für sich beanspruchte und die Menge teilte sich auf seinem Weg dahin bereitwillig für ihn. Es war sein Vorrecht, hier zu stehen, war es doch seine Tochter, die an diesem sonnigen Frühjahrstag zurückkehrte.
Der König spürte Freude in sich aufsteigen, die für den Moment die Traurigkeit vertrieb, welche ihn in den letzten Segmenten so sehr geprägt hatte. Seine Tochter war ein Grund, um stolz zu sein, sich lebendig zu fühlen. Gespannt wie so viele andere starrte er durch das Tor, jenen Gast erwartend, den die Wächter auf den beiden Türmen, die das Tor flankierten, nun ankündigten.
Und dann sah er sie. Eine schmale, zierliche Gestalt, die über die Wiesen vor Tsarems Palisaden lief. Es erleichterte Schedmasal, dass ihr Gang sicher und fest war. Sie konnte also nicht schwer verletzt sein. Über der Schulter trug sie einen Bogen, in der Hand einen Speer. Und schließlich erkannte er auch, dass sie über der Stirn ein neues Zeichen trug: Ein ledernes Band, an dem mehrere weiße Zähne befestigt waren.
Stolz lächelte Schedmasal, während sich der höchste Panti Tsarems an seine Seite drängte. Er war einer der besseren Panti, mit dem Schedmasal mittlerweile auskam, weil sie festgestellt hatten, dass sie gemeinsame Interessen teilten und beide die Bewohner Tsarems schützen wollten.
»Sie trägt das Band.« Auch der Panti mit seinen schlechteren Augen erkannte das Zeichen, auf das sie alle gewartet hatten. Es bedeutete, dass Schedmasals einziges Kind die Probe zur Erwachsenen bestanden hatte und nun kurz davor stand, ein vollwertiges Mitglied der Stammesgemeinschaft zu werden. Zwar hatte er nicht daran gezweifelt, dass sie fähig war, die Jagd zu überstehen, doch wusste man nie, was alles geschehen konnte. Wäre sie nicht zurückgekehrt … Schedmasal wusste nicht, was dann geschehen wäre.
Die Jägerin erreichte die Zugbrücke. Ihre Stiefel klapperten über die Holzbohlen, als sie den Sohlgraben überquerte. Nun sah Schedmasal auch das breite Lächeln auf ihrem Gesicht. Ohne jeden Zweifel hatte sie sich zuvor gewaschen und so gut hergerichtet, wie man es nach einem Segment in der Wildnis tun konnte, denn sie sah gut und gesund aus. Sicherlich, sie war etwas abgemagert und Kratzer und Abschürfungen zeigten sich im Gesicht und an den Händen, aber sie lebte.
»Schirewel«, begrüßte er sie lächelnd.
Sie ging nicht auf seine Begrüßung ein, sondern wandte sich zunächst dem Panti an seiner Seite zu. Der Tradition folgend löste sie das Stirnband mit den daran befestigten Zähnen und reichte es ihm.
»Ich bringe meinem Stamm ein Geschenk dar«, sprach sie, »um auch in Zukunft Ehre zu erbringen und meinen Stamm Größe erleben zu lassen, so wie die Götter es wollen.«
Der Panti nahm das Stirnband an. Das Leder war bunt bemalt und mit Zeichen geschmückt, die Glück und eine gute Jagd wünschten, aber auch mehr als alles andere von einer alten Identität sprachen, der eines Kindes, das ausgezogen war. Nun jedoch war sie zurückgekommen mit der Gabe einer Erwachsenen. Für den Moment waren das alte Leder und die neuen Zähne eines Raubtieres, das sie erjagt hatte, verbunden.
»Oh ihr Götter, sehet, eine Tochter ist zurückgekehrt«, sprach er, derweil er mit der Hand immer wieder über das Leder des Bandes fuhr. Rund um den Panti herum raunten die Zuschauer. »Seht ihre Gabe und betrachtet sie mit gütigen Augen, auf dass sie den Namen erhalte, der ihr gebührt.«
Dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort um. Schedmasal und Schirewel, die wussten, was nun folgte, schlossen sich ihm ebenso an wie der Großteil der Menge. Gemeinsam schritten sie über den Bohlenweg, an dem sich links und rechts die Häuser Tsarems ausbreiteten. Sie waren ausnahmslos aus Holz gebaut, jedoch teilweise mit Lehm bestrichen und besaßen Walm- oder Satteldächer. Gänse schnatterten auf den freien Flächen dazwischen und schnappten nach den Kindern, die sich nahe genug an diese aggressiven Wächter heranwagten. Es war ein immer währendes Spiel der Kinder, sich zunächst zu nähern und dann gerade rechtzeitig zurückzuweichen, um nicht gebissen zu werden. Die Mütter verschwendeten wenig Zeit darauf, ihren Nachwuchs zu hüten. Wäsche hing in der Frühlingssonne und Rauch stieg aus den Gemeinschaftsofen auf, wo sich bereits mehrere Kinder in der Hoffnung versammelt hatten, dort den ein oder anderen Leckerbissen zu erhaschen. Es waren von Schmutz und Dreck starrende Geschöpfe, die in zerrissener Kleidung versuchten, den Großen nachzuahmen. Ziegen und Schafe meckerten, Frauen lachten. Die Stadt Tsarem war aus dem Winterschlaf erwacht und bereitete alles auf das noch Kommende vor. Die Panti wollten aus den Zeichen gelesen haben, dass es ein gutes Jahr werden würde und die Bewohner waren gewillt, dies auch zu glauben.
Für Schedmasal galt dies kaum. Das Segmentjahr hatte schlecht begonnen und besser würde es kaum werden.
Seine Tochter sprach ihn an. »Wie geht es Mutter?«, fragte sie nach dem Hintergrund seiner Sorge. Auch das war ein Grund gewesen, weshalb es ihm so widerstrebt hatte, Schirewel ziehen zu lassen. Er wollte, dass sie bei ihrer Mutter war, wenn diese starb.
»Ihr Zustand hat sich verschlechtert«, schonte er sie nicht mit der Wahrheit. »Sie vegetiert in einem fiebergeprägten Dämmerzustand vor sich hin und jede scheinbare Besserung bedeutet nur einen noch so schlimmeren Rückfall. Sie wird bald sterben.«
Schirewel, die trotz seiner gefassten Stimme sein Leid zu spüren schien, griff nach seiner Hand und drückte sie leicht. Täuschte er sich, oder fühlte sie sich schwieliger an als zuvor? Er war dankbar dafür, dass sie wieder daheim war.
»Es ist gut, dass du da bist«, meinte der König, »deine Mutter braucht dich.«
Und ich dich auch, dachte er, sprach es jedoch nicht aus, weil ein König keine Schwäche zeigen durfte, wollte er, dass sich ihm Männer anschlossen.
Später würden sie genug Zeit haben, um sich über das auszutauschen, was ihr geschehen war. Er wusste, dass sie ihm nicht ohne Stolz von ihrer Jagd erzählen würde. Das hatte sie sich verdient. Sechszehn Segmentjahre zählte sie nun. Eine Frau, die sich bald zu den Erwachsenen würde zählen dürfen.
Sie erreichten die äußere Palisade und schritten durch das südliche Tor. Wiederum führte eine Brücke über einen Sohlgraben. Der Wind war aufgefrischt und die Geräusche der Stadt verblassten hinter ihnen. Tief unter ihnen rauschte das Meer. Die Wellen warfen sich schäumend gegen die Felsen und Möwen stiegen krächzend über ihnen auf. Leise quietschten die Scharniere der Seilwinden, gewaltige Konstruktionen am Rande der Klippen, mit denen Waren zwischen Hafen und Stadt transportiert wurden. Zugleich raschelten die Blätter der gewaltigen Kastanie, die auf der höchsten Erhebung wuchs. Hoch ragte das Wappen der Nawellon – Schedmasals Familie – als Zeichen der Königsherrschaft über dem Baum hervor. Der Wind brachte den schweren Stoff zum Knattern. Ein einzelner Mann, ein Panti, saß unter der Kastanie. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er das Nahen der Gruppe bemerkte.
»So ist die Jägerin zurückgekehrt«, verkündete er mit krächzender Stimme. Er fragte nicht, ob sie auch erfolgreich gewesen war. Denn dann wäre Schirewel nicht hier.
Blind starrte der Panti zu der jungen Frau. »Komm.«
Schedmasal blieb abseits stehen und beobachtete wie so viele hinter ihm, wie seine Tochter zu dem Panti trat und sich zu ihm hinabbeugte. Der Panti umfasste ihr Gesicht, rieb sich einzelne rotbraune Strähnen zwischen den Fingern und fuhr die markanten Wangenknochen nach.
Die Menge hinter Schedmasal war verstummt. Niemand wagte es, diesen Moment zu stören, wusste doch jeder, wie heilig er war. Und mehr denn je wünschte er sich, dass seine Frau hier wäre, um dies mitzuerleben. Sie wäre so stolz! Doch es galt, schnell zu sein. Man durfte nicht lange warten, nachdem eine Jägerin zurückgekehrt war, denn sonst, so hieß es, wurden die Götter zornig, weil man das Geschenk ihres Sieges nicht genug wertgeschätzt hatte.
»Majestät.« Schedmasal, der völlig auf das Geschehen konzentriert gewesen war, zuckte zusammen. Er hoffte, dass es nicht zu auffällig gewesen war.
Fragend blickte er zu dem Soldaten der Stadtwache auf. Es war ein anderer als der vorige und doch konnte der König sich des Gefühles nicht erwehren, dass er weitaus schlechtere Nachrichten brachte. Ansonsten würde er es nie wagen, diese Zeremonie zu stören.
Leise flüsterte der Mann ihm seine Botschaft ins Ohr. Schedmasals Hände ballten sich zu Fäusten.
»Jetzt?«, vergewisserte er sich grimmig.
»Sofort«, erwiderte der Soldat und fügte ein hastiges »Majestät« hinzu.
Den Fluch, der ihm auf der Zunge lag, schluckte er gerade noch rechtzeitig hinunter. Er blickte zu seiner Tochter. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, derweil der Mann ihr die Hand auf den Kopf gelegt hatte und laute Worte in dem merkwürdigen Singsang sprach, mit dem die Panti mit den Göttern Zwiesprache zu halten pflegten. Der König zögerte nur kurz. Dann wandte er sich um und folgte dem Soldaten durch die Menge.
Manchmal war die Pflicht wichtiger, so schwer ihm dies auch fallen mochte.