Kemuliaan, 3. Denia des Segments Keempat, der 10. Tag nach Loteped
Cherews Hand ruhte auf dem Kurzschwert, welches Tentarnet ihm höchstpersönlich mitsamt der Uniform von Pujabaats Hauswache gebracht hatte. Es fühlte sich gut an, dieses Schwert bei sich zu wissen – trotz seiner Fremdheit blieb es eine Waffe. Mit dieser Waffe war er bereit auf das, was ihn am heutigen Abend erwartete.
Der Hof, auf dem er wartete, hatte sich nicht verändert. Er hatte erwartet, die Korbstühle und Blumenkübel wieder vorzufinden, doch die Herrin schien sich nicht durchgesetzt zu haben. Noch immer war sich Cherew nicht sicher, was er von dieser ungleichen Beziehung halten sollte. In seinem Volk gab es so etwas nicht. Aber es ging ihn auch nichts an und so akzeptierte er es stillschweigend als eine der Absonderlichkeiten der Kerajaaner.
Pünktlich zur zweiten Abendglocke betrat Pujabaat den Hof. Zu Cherews Erstaunen hatte er die Toga, die seinen Stand unterstrich, abgelegt. Stattdessen trug er einen dunklen Umhang, unter dem ein schlichtes Obergewand zu sehen war. Bewaffnet war er nur mit einem Dolch.
Ah, Tentarnet hat dich ausgerüstet«, bemerkte er, »bist du damit zufrieden?«
Unglücklich deutete Cherew auf seine Uniform. »Ich begreife nicht«, begann er, »wie ich Euch schützen soll, wo ich doch keine Rüstung trage.« Wie sollte eine Uniform aus Leinen ihm denn helfen, seinen Herrn zu beschützen? Mit der Zeit, die Cherew schon in Kerajaan lebte, hatte er sich an einige Merkwürdigkeiten dieses Volkes gewöhnt. Aber die Tatsache, dass die Kerajaaner ihre Wachen zwar bewaffneten, aber nicht rüsteten, blieb ihm unverständlich.
Pujabaat gluckste. »Es ist ein Zeichen von Respekt in hohen Kreisen. Soldaten im Krieg tragen Rüstungen, doch zeigen wir so, dass wir den Frieden ehren.«
»Doch schützt dies nicht vor Pfeilen«, wandte Cherew ein, »wenigstens Ihr solltet eine Rüstung tragen, Herr.«
Pujabaat hob die Hand. »Genug. Unser Ziel ist es heute, unauffällig zu sein. An eine Rüstung erinnern sich Menschen. Bist du bereit?«
Cherew schluckte eine Erwiderung hinunter. Dann würde er seinen Herrn mit den Möglichkeiten beschützen, die ihm blieben: seinen Verstand, seine Beobachtungsgabe und seine Fähigkeiten mit der Waffe.
Stattdessen blickte er sich um, aber wider Erwarten schlossen sich ihnen keine weiteren Soldaten an. Bis auf die Hauswachen, welche ihre gewohnten Runden abliefen, war der Hof verlassen.
Er nickte und folgte Pujabaat, wobei er darauf achtete, einen Schritt hinter ihm zu bleiben. Die Kerajaaner hatten diesbezüglich strenge Regelungen und Bräuche.
Gemeinsam traten sie vor das Tor und liefen die Straße entlang. Hinter ihnen verklang langsam das Rauschen des Flusses, derweil sie sich weiter ins Innere der Oberstadt, wie Cherew sie getauft hatte, vorwagten. Aufmerksam sah er sich um – seit seiner Ankunft hatte er das Anwesen nicht mehr verlassen und diesen Teil der Stadt kannte er noch nicht.
Die Gebäude waren zumeist ähnlich geschlossen wie Pujabaats Anwesen, von hohen Mauern umgeben und durch auffällig geschmückte Fassaden geprägt. Die Straßen waren breit und wurden von Unrat regelmäßig gereinigt, denn es stank nur wenig.
Im Gegensatz zu der Unterstadt sah Cherew hier keine Kutschen, dafür umso mehr prachtvolle Sänften, welche durch ächzende Sklaven getragen wurden. Viele von ihnen schienen aus Tasiri zu kommen. Dafür erblickte er keinen einzigen Iderraner oder Iderri.
Mehrmals glaubte er, hinter sich Bewegungen zu sehen, als ob ihnen jemand folgte. Doch bis auf das eine Mal, wo er einen Schatten hinter einer Ecke zu verschwinden meinte, bemerkte er nichts Ungewöhnliches. Massen von Sklaven begegneten ihnen, die in den letzten Tagesstunden diese oder jene Besorgung zu tätigen schienen, bevor sie nach Hause eilten. Umso auffallender war der vermummte Mann, der ihnen entgegenkam. Eilig machte Cherew einen Satz nach vorne, bis er neben seinem Herrn war. Mit der einen Hand griff er alarmiert nach seinem Schwert, um es zu ziehen, und mit der anderen schob er Pujabaat hinter sich. Der Vermummte erreichte sie. Deutlich zeichnete sich an seiner Seite ein Kurzschwert ab. Aufmerksam beobachtete Cherew den Fremden. Der Mann war deutlich größer als er selbst, was bedeutete, dass er schnell und flink agieren musste. Sein Körper spannte sich an und Pujabaat blieb hinter ihm stehen. Der Fremde wandte ihnen den Kopf zu, legte die Hand auf seine Waffe - und ging an ihnen vorbei. Cherews Anspannung löste sich dennoch erst, als der Fremde fort war.
»Verzeiht«, murmelte er zu Pujabaat.
Dieser schüttelte nur den Kopf, setzte sich in Bewegung und schritt wieder vor Cherew her.
Das Villenviertel am Flussufer mündete in eine Gegend, wo die Stadthäuser enger aneinandergedrängt standen. Dafür wuchsen sie mit ihren Giebeln in die Höhe, prahlten mit verschwenderischen Ornamenten und kleinen Statuen, die in Fenstern und auf Absätzen standen. Es schien, als ob ihre Besitzer den Villen nacheifern wollten, dieses ihnen aber nicht ganz gelingen wollte. Statt elegant wirkten die Häuser überladen und verwirrend in ihrer Vermischung verschiedenster Baustile.
Vor einem dieser Häuser blieb Pujabaat stehen und klopfte mithilfe eines Türklopfers, der wie ein Löwenkopf geformt war, an die Tür. Nur wenige Augenblicke später wurde diese geöffnet, Cherew sah eine kleine Hand, die rasch in den Tiefen eines Umhangs verschwand und eine schmale, fast kindlich wirkende Gestalt.
»Wer ist das?«, fragte eine hohe Stimme mit einem Akzent, den Cherew nicht zuordnen konnte.
»Mein neuer Leibwächter«, entgegnete Pujabaat gelassen.
Die Person blieb auf der Schwelle stehen und musterte Cherew.
»Ist ihm zu trauen?« Cherew fragte sich, ob sie ein Messer unter ihrer weiten Kleidung verbarg. Ihre ganze Haltung drückte Widerwillen und Misstrauen aus.
Pujabaat trat einen Schritt vor. »Traust du mir?«, fragte er leise.
Die Gestalt schnaubte, trat aber zur Seite und ließ sie ein. Hinter ihnen wurde die Tür geschlossen.
Sie standen in einer Diele. Mehrere geschlossene Türen führten in weitere Räume. Von einer Leiste, die einmal um den Raum herumhing, starrten Steinköpfe auf sie hinab. Den Kerajaanern schien es zu gefallen, wenn Abbilder ihrer toten Vorfahren sie bei jedem ihrer Schritte beobachteten. Cherew störte es.
Die Kapuzengestalt reichte Cherew kaum bis zur Brust, was ihr Selbstbewusstsein nicht zu mindern schien. Mit raschen, festen Schritten trat sie zu der Treppe, welche ins obere Geschoss führte, was Cherew von hier nicht einsehen konnte.
»Du wartest hier«, erklärte sie, ohne Cherew auch nur weiter zu beachten. Dann machte sie Anstalten, die Treppe hinaufzusteigen. Pujabaat folgte ihr.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Was war das für ein Haus? Wer war diese Person, die mit seinem Herrn gehen wollte?
»Wie soll ich meinen Herrn beschützen, wenn ich diesen Ort nicht kenne?«, fragte Cherew.
Die Gestalt hielt inne, ebenso wie Pujabaat.
»Ich kenne Euch nicht und weiß nicht, ob ich Euch trauen kann.« Cherew neigte den Kopf. »Verzeiht, wenn ich Euch beleidigt haben sollte, doch meine Aufgabe ist es, den edlen Pujabaat zu schützen.«
Ein leises Schnauben ertönte. Die Gestalt schob sich die Kapuze vom Kopf. Ein rundes Gesicht mit hohen Wangenknochen, leicht geschlitzten Augen in der Farbe von hellgrünem Glas und einer sehr hellen Haut. Der sorgfältig gestutzte Bart verriet Cherew, dass es sich hierbei um einen Mann handeln musste. Oder? Ganz sicher war er sich nicht. Das hellblonde Haar des Mannes war bis auf einen Kamm in der Mitte des Kopfes, der steil aufragte, geschoren. Ein Lendri.
»Ich werde deinem Herrn nichts tun. Meine Aufgabe ist es, ihn sicher nach oben zu geleiten. Dort wird er erwartet.« Immerhin antwortete er. Cherew war sich nicht sicher, ob dies seinem Herrn gefiel. Vielleicht störte er soeben irgendwelche wichtigen Verhandlungen. Aber das war egal. Wenn hätte er ihn doch darauf hinweisen müssen, oder?
»Gibt es weitere Ein- und Ausgänge?«, gab Cherew nicht auf.
»Sie werden bewacht«, entgegnete der Lendri mit einer sanften, fast melodischen Stimme.
»Von wem?« Er hatte niemanden gesehen, der diesen Eingang bewacht hätte. Er hatte überhaupt niemanden gesehen außer diesen seltsamen Lendri.
»Von guten Männern.« Als Cherew zu einer Entgegnung ansetzen wollte, fuhr er fort. »Auch diese werden deinem Herrn nichts tun.«
Cherew blickte zu seinem Herrn, der immer noch auf halber Höhe der Treppe stand. Den Kopf hatte er halb zu ihm gewendet, als lausche er mit einem Ohr immer noch auf das, was oben vor sich ging. Ein schmales Lächeln lag um seine Mundwinkel.
»Ihr wusstet davon«, entfuhr es Cherew und er konnte die Worte nicht mehr zurücknehmen.
Nun blickte Pujabaat ihn an. »Selbstverständlich«, entgegnete er, »warte hier.«
Ohne ihn weiter zu beachten, stieg er die Treppe hinauf. Der Lendri schloss sich ihm an.
Kurz darauf stand Cherew alleine in einer Diele, wo die Köpfe lange Schatten warfen.
Ungeduldig schritt Cherew durch den engen Raum, wobei er versuchte, nicht zu oft auf die verdammten Köpfe zu starren. Bestimmt hatten die Kerajaaner dafür auch irgendeinen Begriff. Das hatten sie für alles. Auch die geschlossenen Türen störten ihn. Mehrfach war er versucht, diese zu öffnen. Er hatte das Gefühl, Schritte oder leises Atmen zu hören. Und eine Klinge, die gezogen wurde. Jemand beobachtete ihn. Aber er wusste, dass er nicht nachsehen konnte, wollte er das Vertrauen seines Herrn nicht enttäuschen. Immerhin hatte er die Möglichkeit, das Schwert die ganze Zeit in der rechten Hand zu halten. Das ermöglichte ihm einen Rest von Kontrolle, sollte etwas geschehen.
Er konnte nicht sagen, wie viel Zeit verging. Es gab nur Fackeln, jene Fenster, die er von außen gesehen hatte, schienen nichts als leere Zierde zu sein. Und so wartete er.
Seine Gedanken flogen fort nach Iderra, auch wenn seine Augen weiterhin aufmerksam den Raum beobachteten. Er hatte viele Geschichten über jenen Ort gehört, von seinem Vater, selbst von dessen Vater und all den Alten, die abends an den Feuern ihre Geschichten erzählt hatten. Bei ihnen war Iderra eine Stadt des Schreckens gewesen, eine Ruine der Vergangenheit, die von dem kündete, was einst geschehen war und nur Schmerz gebracht hatte. Jetzt war es Cherews Ziel. Schon seine Heimat hatte nur Schmerz und Unglück für Cherew bereitgehalten. Wie konnte Iderra also schlimmer sein?
Etwas rührte sich über ihm. Cherew horchte auf. Schritte und leise Stimmen waren zu vernehmen. Sein Herr trat wieder die Treppe hinab, gefolgt von dem Lendri, der, wie Cherew erst jetzt bemerkte, unbewaffnet war. Ohne ein Wort schritt er an Cherew vorbei und öffnete ihnen die Tür.
Cherew versuchte, irgendeine Veränderung in der Atmosphäre oder dem Auftreten seines Herrn wahrzunehmen. Doch alles schien gleich zu sein. Sein Herr ließ sich nichts von dem, was soeben geschehen war, anmerken. Nun, vermutlich sollte sein neuer Leibwächter auch dies stillschweigend akzeptieren. Doch zum ersten Mal verspürte Cherew etwas, was in Pujabaat mehr sah, als ein Mittel zum Zweck: Neugierde.
Die Tür schloss sich hinter ihnen. Mittlerweile hatte die Dunkelheit die Stadt endgültig erobert.
Cherew war es egal, ob er seinen Herrn brüskierte, dass er ihn ansprach. Schon zuvor schien es ihn nicht sonderlich gestört zu haben, dass er ungefragt das Wort ergriffen hatte.
»Weshalb wolltet Ihr, dass ich mitkomme? Ihr braucht mich nicht.«
Pujabaat, der vorangeschritten war, blieb stehen und blickte zu ihm hinüber. »Nicht in dem Gebäude, aber in den Straßen benötige ich Schutz. Deshalb bist du hier.«
»Nein«, beharrte Cherew, der mittlerweile glaubte zu wissen, dass sein Herr Ehrlichkeit schätzte. »Wieso lasst Ihr Euch dann von weiteren Soldaten bewachen? Ich weiß, dass sie hier sind.«
Anerkennend nickte sein Herr. »Gut.« Er hob die Hand zu einem Cherew unbekannten Zeichen. Kurz darauf offenbarten sich die vier Soldaten seiner Hauswache aus ihren Verstecken. Sie mussten ihnen gefolgt sein. Cherew war nicht enttäuscht, dass sein Herr ihm nicht vertraut hatte. Vorsicht bedeutete auch, dass er das Leben seiner Untergebenen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen würde.
Ohne ihren Herrn weiter zu beachten, wandten die Soldaten sich ab und gingen vor ihnen die Straße entlang, bis sie in eine Seitengasse abbogen. Das Zeichen musste bedeutet haben, dass sie ihre Posten verlassen und umkehren sollten. Dies, verstand Cherew, war nun wirklich ein Vertrauensbeweis.
»Wieso hast du deine Heimat verlassen?«, fragte er unvermittelt.
Cherew zögerte. Er log nicht, nicht wirklich. »Ich musste mein Volk verlassen«, antwortete er vorsichtig. »Ich wurde verbannt.«
»Haben sie dich in die Sklaverei verkauft?« Pujabaat setzte sich wieder in Bewegung. Dass ihnen hier auf offener Straße jemand zuhören konnte, schien ihn nicht zu stören.
»Nein«, entgegnete er rasch. Sein Volk kannte das Prinzip der Sklaverei, wie die Kerajaaner es hielten, nicht.
»Ich habe mir deine Besitzerhistorie geben lassen. Sie begann vor sechs Segmentjahren bei einem Labiilu. Stimmt das?«
Cherew versuchte, sich zu erinnern. Es war schon so lange her und damals, als er geglaubt hatte, sterben zu wollen, hatte er sich kaum näher mit seinen rasch wechselnden Besitzern beschäftigt. Ihre Namen wusste er nicht mehr. Sicher war er sich nur bei der Zeitspanne.
»Acht Segmentjahre, Herr«, berichtigte er ihn.
Pujabaat ging nicht darauf ein. »Du warst Arenakämpfer, Söldner, Wache und Kampfsklave, richtig?«
»Ja.« All das war er gewesen – und zuvor noch so viel mehr. An all das dachte er ungern zurück. Zukunft. Iderra. Das war es, was zählte.
Wieder sah Pujabaat zu ihm zurück, derweil er vorwärtsging. Eine absolut untypische Haltung – und doch glaubte Cherew, diesen Blick wiederzuerkennen. Es war genau dieselbe Mischung aus leichter Herablassung, Stolz und Verständnis, wie auch Pelayan sie hatte. Und vielleicht, dachte Cherew, ergab dessen kerajaanischer Name und seine hohe Stellung im Haus nun einen Sinn.
»Begleite mich«, forderte Pujabaat, »nach Iderra. In deine Heimat.«
Konnte es wirklich so einfach sein? Nach all der Zeit? Cherew hatte von Fluchten und einer strapaziösen Reise geträumt, nicht von einem Herrn, der freiwillig in die Ferne reiste. Nun gut. Dies würde ihn seinem Ziel nur näher bringen. Was also sollte es schaden?
»Das werde ich«, entgegnete Cherew mit rauer Stimme.
Endlich.