Iderra, das Segment Ulaaruk, der fünfte Tag nach Traapur
Der Thronfolger Iderras wäre, so er denn den Thron besteigen würde, ein Segen für sein Volk. Zwar mangelte ihm noch an der Erfahrung und Größe seines Vaters, doch das war etwas, was die Zeit ihm lehren konnte. Seine Wissbegierde, Gelehrsamkeit, sein Ehrgeiz, seine gute Menschenkenntnis und seine aufmerksame Beobachtungsgabe dagegen konnte ihm niemand beibringen. Das waren Gaben, die ihm die Götter geschenkt hatten.
Schedela gegenüber verhielt er sich stets zuvorkommend und höflich, während sie durch die Gärten Iderras flanierten. Er erzählte ihr von seinen Lieblingspferden, unterhielt sie mit Geschichten über die Kultur und Entwicklung seiner Heimat und fragte sie, ob diese oder jene Pflanze, die in den Palastgärten blühte, auch in Callinger wuchs. Manchmal überraschte er sie mit Spielleuten, die sie mit ihren Kunststücken unterhielten oder ließ ihr hiesige Spezialitäten servieren. Einmal brachte er ihr sogar eine Mahlzeit, die angeblich nach einem Rezept aus einem Buch über Callinger gekocht worden war. Ihr war das Essen völlig unbekannt, dennoch wusste sie seine Mühe zu schätzen. Vom Bibliothekar ließ sie später das Buch über Callinger suchen: Es war voller Mythen und Legenden, über die sie nur schmunzeln konnte.
Arraj selbst erzählte sie auch zumeist nur allgemeine und ungefährliche Informationen zu Callinger, etwa über Biologie und Botanik. Er drängte sie nicht, mehr zu sagen. Seiner Mutter, das wusste sie, würde sie nicht so viel verheimlichen können.
Eines Tages fragte er sie, warum sie hier war. Es war eine unübliche Frage, tiefergehend als alle, die er zuvor gestellt hatte.
„Weil ich mein Volk liebe“, antwortete sie nach einer Weile, die Hände um die Blume geschlossen, die er ihr zuvor überreicht hatte. „Ich glaube, dass es die reinste Liebe ist, die man empfinden kann.“
„Und doch seid Ihr bereit, es für immer zu verlassen.“ Mittlerweile hatte sie begonnen, mit seiner Mutter den Verlobungsvertrag, der hier in Iderra üblich war, auszuhandeln. Zwar legte er fest, dass Arraj einen Feldzug nach Callinger führen würde, um den Bürgerkrieg zu beenden, sie aber langfristig mit ihm nach Iderra ziehen und ihre Heimat endgültig verlassen würde.
„Um mein Volk zu retten, bin ich dazu mehr als bereit.“
Es war ein waghalsiger Tanz, den sie gegenüber ihm und seiner Mutter aufführte. Gefüllt mit Halbwahrheiten und Lügen lenkte er hoffentlich lange genug von ihren eigentlichen Intentionen ab. Zu ihrem Glück galt eine Verlobung im Gegensatz zu Callinger, wo dieser bindend war, hier nur als Absichtserklärung, die beiderseits ohne Nachteile jederzeit gelöst werden konnte. Sie nahm an mit einer Entführung Arrajs, wie sie es plante, würde dieser ebenso obsolet werden.
„Dann will ich Euch dabei helfen, Dame“, versprach er und küsste die Innenseite ihrer Hand, wie es hier üblich war. Es lag keine Leidenschaft, kein Begehren darin, nur das Pflichtbewusstsein eines Prinzen, der wusste, was von ihm erwartet wurde.
Schedela wusste, dass sie nicht die Frau war, von der junge Männer träumten. Ihr fremdländisches Aussehen war ein Vorteil, weil sie sich als jünger ausgab, als sie eigentlich war. Doch für ihn war es nicht einmal unabdingbar, dass sie ihm und den Iderranern Söhne schenkte. Er würde wie sein Vater weitere Frauen heiraten, die ihm die Nachkommen schenkten, für die sie in wenigen Jahren zu alt wäre. Was er von ihr wollte, war die Unterstützung ihres Volkes gegen das übermächtige Kerajaan, eine Heirat, die Iderra einen Ausweg aus dem Klammergriff des Nachtbarreiches bot.
Was sie brauchte, war eine Möglichkeit, ihn zu entführen. Was schwierig genug werden würde, denn Arraj wurde beständig von Wachen begleitet und von Spionen beobachtet. Noch nie hatten sie gemeinsam den Palast verlassen und so hoffte Schedela darauf, dass sich eine Gelegenheit bei der Jagd bieten würde, die er ihr versprochen hatte.
In der Zwischenzeit begab sie sich daran, mit Jalldred den Ablauf zu planen und nach Lösungen zu suchen, wo zurzeit nur Problematiken warten zu schienen.
Mittlerweile hatte sie ihm und weiteren ihrer Männer Positionen im Palast verschafft, die sich zwar nicht in ihrer unmittelbaren Nähe befanden, aber ihnen als einfache Wachen doch gute Einblicke in die Organisation und die Abläufe des Palastes verschaffte. Sie vermied es, mit Jalldred oder ihren anderen Männern gesehen zu werden, weshalb sie sich an seinen freien Abenden weiterhin in der Stadt trafen.
Wo sie Arraj gegenüber die Etikette wahren musste, konnte sie sich ihm gegenüber entspannen. Im Zimmer des Gasthofes, das sie gemietet hatten, saßen sie sich gegenüber, knabberten an getrockneten Feigen und Oliven, beugten sich über Landkarten, brüteten über Verkehrsrouten und Wachwechseln.
„Ich bin immer noch für die Jagd“, meinte sie erschöpft, „mir wird sich sicherlich eine Gelegenheit bieten, ihn von der Gruppe zu trennen.“
„Wir brauchen einen Treffpunkt, wo wir warten und du ihn hinlockst. Wir müssen wissen, wo das Jagdgebiet ist, denn du kannst ihn unmöglich alleine überwältigen. Die Pferde für den Ritt zum Hafen müssen bereit sein, ebenso das Schiff. Wir können uns nicht leisten, lange zu warten. Wir werden halb Iderra gegen uns haben.“
„Nicht nur halb“, widersprach Schedela ihm. „Er ist sehr beliebt unter seinem Volk.“
Jalldred musterte sie und hob die Augenbrauen. „Du magst ihn“, stellte er fest.
Sie zuckte mit den Schultern. „Er wäre ein geeigneter Herrscher.“
„Und wenn die Stammesversammlung ihn als Opfer für die Götter fordert?“ Das war, wie sie sehr wohl wusste, mehr als eine Überlegung, sondern durchaus eine nicht unwahrscheinliche Möglichkeit.
„Dann wird sein Leben ein Opfer für die Götter sein“, erwiderte sie. Die Wahrheit war, dass Arrajs Überleben, so sehr sie ihn auch zu schätzen gelernt hatte, keine Voraussetzung dieses Planes war.
„Ist es nicht mühsam, die ganze Zeit zu kämpfen und alles diesem Ziel unterzuordnen?“ Er starrte sie an, aus dunklen Augen, in denen sich die Kerzen Lichtblitzen gleich spiegelten.
Schedela stand auf, trat zum Fenster, wo die Nachtluft hereindrang und der Wind durch ihr offenes Haar fuhr. Der Rahmen war alt und verzogen, sie spürte das raue Holz unter ihren Händen, als sie sich abstützte.
„Es ist mein Recht, mein Erbe“, wisperte sie, mehr in den Wind hinaus denn zu ihm.
Sie war die Tochter eines Königs und dessen war sie sich stetig bewusst. Es war nicht leicht, das zu vergessen, wenn ihr Umfeld sie ständig daran erinnerte. Sie war mit der Erwartung und dem Wissen aufgewachsen, eines Tages zu herrschen.
Und ihr Stolz verhinderte, über etwas anderes nachzudenken.
Sie drehte sich zu ihm um, in seine dunklen Augen, die sie mit so viel Liebe anblickten. Liebe! Sie hatte es schon lange vermutet, nein gewusst und war doch davor zurückgeschreckt, weil es Grenzen zwischen ihnen gab, die sie nie hatte überqueren wollen. Die Wahrheit war, dass Schedela Liebe fürchtete. Sie bedeutete einen Verlust von Kontrolle, ein Fallenlassen, das sie sich nicht leisten konnte.
Er ergriff ihre Hand. Sanft fuhr er über ihre Finger, zeichnete die Narben auf ihrer Handinnenfläche nach und hauchte mit den Lippen einen leichten Kuss auf die Außenfläche. Das war der Brauch Iderras. Es war eine Verhöhnung der Ehrerbietung, die ihr als seine Königin zukam.
Dennoch schlug sie seine Hand nicht weg.
Ihre Brust hob und senkte sich ruckartig, ihr Atem kam nur noch stoßartig, sodass es in der Tiefe ihres Körpers schmerzte.
Sie starrte ihn nur an. Ihn, der ihr seit Jahren so treu diente, ihr folgte, ihr sein Leben, sein ganzes Sein unterstellt hatte. Wahrscheinlich war er es, der sie nun am besten kannte. In ihren Freuden, ihrem Schmerz.
„Schedela.“ Ihren Namen nur. Ein Schauer rieselte wie eine Verheißung dessen, was möglich war, über ihren Rücken.
Und ja, da war ein Teil in ihr, der auf sein Angebot eingehen und mit ihm fortgehen wollte. Irgendwo in die Ferne dieses weiten Kontinents, wo niemand sie und ihren Anspruch kannte. Aber sie kannte sich. Irgendwann würden die Fragen kommen, um wie Gift dieses Glück zu zerstören. Und diese eine Frage, was geschehen wäre, wenn sie auf ihrem Thron beharrt hätte, würde sie auf die Dauer unglücklich machen.
„Jalldred.“ Sie hatte seinen Namen energisch sagen wollen, doch alles, was ihren Lippen entkam, war Schwäche.
Seine andere Hand legte sich auf ihre Wange, berührte sie zärtlich.
In diesem Moment wäre es leicht, alles zu vergessen und hinter sich zu lassen. Er und das Verlangen, das in ihr aufstieg, machten es ihr leicht.
Den Kuss, den er ihr kurz darauf schenkte, hatte sie sich erträumt und ersehnt. Sie schmeckte die Würze seines Atems, sah, wie sich sein Brustkorb schnell hob und senkte. Sie könnte zerschmelzen, sich ihm hingeben, ihm verschenken …
„Nein.“ Ihre Hände pressten sich gegen seinen muskulösen Brustkorb. Immer noch war da ein Teil in ihr, der sich wünschte, er würde dort stehen bleiben, sie weiter küssen, aber er ließ sich von ihr fortstoßen.
Jetzt war er es, der sie anstarrte. Verletzt, weil sie ihn zurückwies.
„Schedela.“ Sie las den Schmerz und das Verlangen in seinem Blick. Er liebte sie wirklich und wahrhaftig. Und instinktiv wusste Schedela, dass sie nun, wo sie ihn zurückwies, eine solche Liebe nie wieder erleben würde.
„Geh“, wisperte sie, während ein Teil in ihr das Gegenteil schrie.
Aber er ging.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und Schedela blieb allein zurück. Allein mit ihren Ängsten, Sehnsüchten, ihrem Schmerz.
Sie sank zu Boden, schlang die Arme um ihren Körper und ließ den Kopf auf ihre Knie fallen, derweil ihr Tränen über das Gesicht rannen. Warum nur weinte sie? Weil sie die Möglichkeit auf dieses simple Glück, das ihr Jalldred verhieß, verschmäht hatte? Weil sie sich stattdessen für einen Weg voller Schmerz entschieden hatte?
Freiwillig war sie in ihr Gefängnis zurückgekehrt und hatte den Schlüssel im hohen Bogen davongeworfen. Jalldred hatte ihr für einen Moment Rettung verheißen, einen Weg außerhalb dessen, was sie ihr Schicksal nannte. Was war das für eine Krone, dass sie sie sosehr gefangen nahm? Aber Schedela konnte nicht einfach mit ihm gehen.
Sie war eben die Tochter eines Königs.
Vielleicht war es falsch gewesen, aber sie würde ihr Thronrecht nicht aufgeben. Nicht für ihn. Sie konnte es nicht. Es war ihr Vermächtnis, ihr Erbe. Es war alles, was ihr blieb, nachdem sie ihre Familie und ihre Heimat verloren hatte. Sie würde es seiner Liebe nicht als ein Opfer darbringen. Und wäre sie mit ihm gegangen, hätte sie sich eben das ein Leben lang vorgeworfen. Der Schmerz in ihr blieb und für einen Augenblick gestattete sie es sich, zu trauern. Um Jalldred und seine unbedarfte Liebe, die sie nun für immer verloren hatte.
Denn sie wusste, dass sie ihm nicht noch einmal nachgeben würde. Nicht jetzt, wo sie die endgültige Entscheidung für ihre Krone getroffen hatte. Sie würde nicht mehr von dem Weg, der ihr bestimmt war, abweichen.
Sie fragte sich, wie sich ihre Beziehung verändern würde, nun, wo sie ihn zurückgewiesen hatte. Schedela war erfahren genug. Sie hatte oft genug beobachtet, was gekränkter Stolz mit Männern machen konnte. Zwar glaubte sie nicht, dass das auch in einem extremen Maße auf Jalldred zutraf. Allerdings hatte sie auch nicht geglaubt, dass er sich so sehr über ihre Prinzipien und Grenzen hinwegwagen würde. Vielleicht hatte sie ihn eben doch nie so gut gekannt, wie sie es sich immer eingeredet hatte. Und das machte ihr durchaus Angst. Sie wollte ihn und seinen getreuen Rat nicht missen.
Mit einem Herzen, das schwer war vor Angst und Trauer, lehnte sie sich an die Wand zurück.
Wohin würde dieser Weg sie nur führen? Sie brauchte Trost und wusste doch, dass sie nicht nach ihm rufen lassen durfte.
Nicht jetzt.
Die Krone einer Königin verpflichtete auch zu Einsamkeit.
Es wurde eine lange Nacht.