Iderra, das Segment Ulaaruk, der achte Tag nach Relaneet
Schedela mochte nicht behaupten, dass sie jemals etwas Schöneres gehört hatte, als die Gesänge, welche zu Arrajs Beerdigung ertönten. Es gab keine Instrumente, nur die zwölf Vorsänger, die dem Zug vorangingen. Männer und Frauen, die ihre Stimmen miteinander zu einer Geschichte verwoben, die vom Leben des Prinzen erzählten. Und das, ohne einen Text, nur mit Lauten, welche doch genügten, um in ihr das Bild eines Mannes hervorzurufen, der mit Neugierde und Freude gelebt hatte, und was dann so rasch zerschlagen worden war, wie eine Wasseroberfläche, in die ein Stein fällt.
Sie selbst ging weit vorne, direkt hinter Tsagi und Ishkan und neben Nasiyse, die in den Armen ihre kleine Tochter trug. Tod und Leben – so eng beieinander liegend.
Der Zug geleitete Arraj bis zu den beiden Grabtürmen außerhalb der Stadt, in welchem die Toten des Königshauses bis zum Untergang der Welt in steinernen Särgen unter Statuen mit ihren Gesichtern ruhen sollten. Es waren zwei große, monumentale Gebäude mit mehreren Stockwerken. Vor der Eingangstür des linken wachten zwei steinerne Löwen, vor der rechten zwei Löwinnen, denn in Iderra wurden Männer und Frauen getrennt von einander begraben.
Vier Männer trugen den Sarg in das Innere des Turmes hinein, wo Arraj neben seinem Vater und seinem Bruder liegen würde. Es waren Vettern und weitere Verwandte, welchen die ehrenvolle Aufgabe übertragen worden war, für die Toten ihrer Familie zu sorgen. Kein Mann außerhalb der Familie durfte den Grabturm betreten.
Die Sänger blieben zurück und versanken im Schweigen wie der gesamte Zug, bis dieses von dem Brüllen der beiden Löwen unterbrochen wurde. Stolz schüttelten sie die Mähnen, aus denen Blütenblätter regneten. Vögel flogen verschreckt aus den wenigen Bäumen im Umkreis auf und kreisten über der Menge.
Mit Tränen auf den Wangen wandte Tsagi, die nun Ellay hieß, sich um und rief: „Eine Seele wurde angenommen in der Versammlung der Ahnen! Wir wünschen ihr Glück und Segen auf dem weiteren Weg.“
Sie trat zu den Löwen und flocht jedem von ihnen mit geschickten Fingern eine rote Blüte ins Haar. Kurz strich sie ihnen über das goldene Fell, wisperte einige unverständliche Worte, dann trat sie zurück vor den Zug.
Die Sargträger kamen wieder heraus und damit versteinerten auch die Löwen, in deren Mähnen sich nun eine neue steinerne Blüte zeigte.
„Man sagt, dass sie einst As’sandri waren“, wisperte Nasiyse Schedela leise zu.
„As’sandri?“ Sie war sich sicher, diesen Begriff schon einmal gehört zu haben, wusste aber nicht woher.
Überrascht hob Tsnems Witwe die Augenbrauen. „Sie sind Gestaltswandler, die die Gestalt von Löwen und Löwinnen annehmen. Mein Vater lässt sich von ihnen bewachen. Jedenfalls heißt es, dass der erste König Iderras zwei männliche As’sandri für seinen Schutz und zwei weibliche für den seiner Frau in seinen Dienst nahmen. Doch sie scheiterten aufgrund eines grausigen Verrats und der König und seine Frau wurden hingemetzelt. Also schworen sie, ihren Herrn und ihre Herrin im Tod zu beschützen, wenn sie schon im Leben gescheitert waren. Sie legten sich auf ihre Gräber und blieben dort, auch nachdem viele Generationen ihrer Nachkommen ihnen gefolgt waren.“
„Und können sie deinen Vater schützen?“, fragte sie.
Nasiyse lächelte traurig und wiegte den Säugling, der in ihren Armen zu wimmern begann, sanft hin und her. „Mein Vater lebt trotz Attentatsversuchen noch, mein Mann nicht mehr.“
Schedela blickte auf das Kind, das inmitten von Tod ins Leben gefunden hatte.
„Willst du sie einmal halten?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, legte Nasiyse ihr ihre Tochter in die Arme. Fasziniert starrte sie auf das kleine Wesen, dessen Faust sich, als sie es berührte, um ihren Finger schloss. So klein ...
„Du wirst einen anderen finden, Schedela“, meinte die Prinzessin sanft und legte ihr die Hand auf die Schulter, „und ihm wirst du auch Kinder schenken können.“
„Danke“, antwortete sie nur. Sie wollte nicht erklären müssen, dass sie Arraj nie geliebt hatte und auch keinen anderen heiraten würde. Nie würde sie ihr eigenes Kind in den Armen halten.
Das Mädchen fing zu weinen an. Spürte sie Schedelas Angst, die sie in ihrem Inneren seit jeher begleitete? Diese Angst, dass auch dieses Kind in ihren Armen verschwinden würde, wie es Joresch getan hatte. Wie konnte es eigentlich sein, dass sie jedes Kind an ihn erinnerte? Musste die Vergangenheit ihr denn immer die Momente der Gegenwart stehlen?
Überfordert und überwältigt zugleich reichte sie Nasiyse ihr Kind zurück, wandte sich von ihr ab und entfernte sich von den anderen. Die Trauergesänge wurden leiser und es verblieb allein das Schreien der Geier. Die Luft vor ihren Augen flimmerte, als sie bis zu den fernen, braunen Bergen blickte, hinter der das Meer und ihre Heimat lagen.
Heimat ...
Sie wusste nicht, was sie dort erwartete. Aber sie fürchtete sich davor. Vor der Stammesversammlung, vor die sie treten musste, vor ihrem Bruder und seinem Hass.
Sie wollte wieder ein Säugling in Sinamets Armen sein, der nichts verstand von Schmerz, Hass und Tod, nicht im Vergangenen, sondern nur im Gegenwärtigen lebte.
Einfacher. So viel einfacher.
Hinter sich hörte sie Schritte.
„Ich möchte allein sein, Cherew“, meinte sie, den Blick weiterhin nach vorne gerichtet. Vielleicht war es auch Jalldred. Beide würden nur Antworten von ihr verlangen – Antworten über ihre Pläne, ihre Taten und Entscheidungen. Aber sie konnte sie ihnen nicht geben. Ratlos. Verirrt im Labyrinth der Möglichkeiten und Eventualitäten.
Doch die Person näherte sich weiter und als sie sich doch umdrehte, erkannte sie Königin Tsagi, die mit gerefftem Kleid durch den Sand schritt. Noch immer trug sie Purpur, keine Trauerkleider. Eine Eidechse huschte vor ihren Schritten davon.
„Hoheit“, begrüßte Schedela sie überrascht, „Ihr ...“
„Ich sollte um meinen Sohn trauern?“, fragte Tsagi sanft und stellte sich neben sie „Ich wünschte, dass ich das könnte. Doch ich muss Königinregentin sein. Sie wollen die Tränen der Mutter nicht sehen.“
Nachdenklich nickte Schedela. „Vielleicht ist es mein Segen, dass meine Mutter nie die Zeit hatte, um mich zu weinen. Meinen Vater habe ich oft genug zur Verzweiflung gebracht.“ Dennoch hatte das nichts daran geändert, dass sie ihre Mutter allzu oft vermisst hatte – trotz Sinamet.
Tsagi seufzte. „Meine Söhne auch. Man mag es nicht glauben, doch Arraj war als Kind mit seinen Scherzen der Schreck der Kinderstuben.“
Schedela lächelte bei der Vorstellung. „Ich möchte Euch danken, Tsagi Ellay, für alles, was Ihr für mich tatet.“ Sie meinte es ernst. Ihr Vater hatte immer gesagt, dass sie zu großen Träumen neigte, doch dass sie als Geehrte neben der Königinregentin stehen würde, hatte auch sie nicht vorhergesehen.
Tsagi legte ihr die Hand auf den Arm. „Ich muss Euch danken, Schedela. Ihr habt meinen Sohn glücklicher gemacht, als er es selbst auszudrücken vermochte. Glaubt mir, ich als seine Mutter weiß das.“
Sie senkte den Blick, starrte auf Sand und Steine, um die Tränen zu verbergen, die sich plötzlich in ihren Augenwinken sammelten. „Ich muss zurück in die Heimat, Hoheit. Mein Volk braucht mich.“ Ihr Volk und ihre Soldaten. In Callinger neigte sich der Winter dem Ende zu, womit der Lumarik, der den von ihr kontrollierten Norden vom Rest des Landes trennte, wieder überquerbar wurde. Noch mochte die Schneeschmelze den Fluss anschwellen lassen und ihre Soldaten schützen, doch auch das ging vorbei ... Und dann würde ihr Bruder gen Norden vorstoßen. Sie musste die Initiative ergreifen. Einen weiteren Sommer der verlorenen Schlachten konnte sie sich nicht leisten, wenn sie die Treue ihrer Anhänger behalten wollte.
„Natürlich“, erwiderte Tsagi, „doch wisst, Schedela. Wir sind nicht durch die Hand meines Sohnes verbunden, aber durch das nicht vergossene Blut des anderen. Iderra wird in Eurem Kampf an Eurer Seite stehen.“
Das war mehr als Schedela je zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte nie mit Iderras Unterstützung gerechnet.
Ich hatte geplant, Euren Sohn zu entführen ... Der falsche Gedanke. Dieser Plan durfte Tsagi niemals zu Ohren kommen.
„Und Callinger wird an der Euren stehen, sobald die Kämpfe gewonnen sind.“ Es war ein Versprechen, von dem sie nicht wusste, ob sie es halten konnte. Aber sie wollte es. Wenn es stimmte, was Cherew ihr berichtet hatte, entwickelten Pujabaat und sein Kaiser sich auch zunehmend zu einer Gefahr für sie und ihr Volk. Es wäre gut, wenn Iderra Kerajaan in die Knie zwingen könnte. Und sie hatte Iderra gern gewonnen. So viel von den hiesigen Errungenschaften könnten auch ihrer Heimat nutzen ...
„Ich denke, ich kann Euch fünfhundert Mann zur Verfügung stellen“, meinte Tsagi, nachdem sie einen Moment überlegt hatte.
Fünfhundert! Schedela überschlug ihre Truppenzahl im Norden. Sie hatte sich auf eine defensive Fortsetzung des Feldzuges eingerichtet und ihre Männer auf die verschiedenen Befestigungen, die sie errichtet hatte, aufgeteilt. Der Übergang über den Lumarik war gut befestigt. Ihr Bruder würde lange brauchen, die dortigen Befestigungen einzunehmen. Zeit, die sie nutzen musste, um ihren Namen zurückzugewinnen und politische Unterstützung in der Volksversammlung zu gewinnen.
Und wie willst du das schaffen? Arraj ist tot. Du kommst mit leeren Händen.
Zweifel. So laut.
Aber sollte sie scheitern, würde sie die Iderraner sicherlich gut gebrauchen können. Ihre Generäle würden murren, gewiss, ihre politischen Gegner ihr das Nutzen fremder Truppen sicherlich ankreiden, aber dennoch ... Ein Anfang. Immerhin ein wenig Hoffnung.
„Und ich werde dir zudem Nasiyse mitgeben.“
„Nasiyse?“ Ein Lachen konnte sich Schedela nur im letzten Moment verkneifen. Der Sohn war gestorben und jetzt sollte sie die Schwiegertochter ohne jede Mühe erhalten?
„Ich muss sie aus Iderra herausbringen, um sie zu schützen. Sie ist der Garant für unser Bündnis mit Erin und wenn sie tatsächlich Pujabaats größtes Ziel war, wird er neue Versuche unternehmen, um sie zu töten.“
„Auch in Callinger wird es nicht sicher sein“, gab Schedela zu bedenken, „mein Volk ist misstrauisch gegenüber allem Fremden.“ Und in Wahrheit war sie selbst die allergrößte Gefahr für Nasiyse. Schon jetzt fragte sie sich, ob die Stammesversammlung auch eine Frau als Ehrengabe akzeptieren würde.
Oh Tsagi.
Nicht Garek war die Natter gewesen, sondern sie selbst. Und nun legte die Königin die Natter um den Hals ihrer Schwiegertochter ...
„Was ist mit ihrer Tochter?“, fragte sie und fühlte für einen kurzen Augenblick wieder die Wärme des kleinen Körpers in ihren Armen.
„Was soll mit ihr sein?“ Verblüfft starrte Tsagi sie an. „Sie wird hier gut versorgt werden.“
Natürlich. Wie hatte sie nur die andere Gesellschaft vergessen können? Hier war es für Mütter allzu selbstverständlich, ihre Kinder von Fremden aufziehen zu lassen. Nur, ob Nasiyse das auch so sah? Allein die Tatsache, dass sie ihre Tochter selbst im Arm getragen hatte, war ungewöhnlich. Doch Tsagi konnte sie sich wahrlich nicht mit einem Säugling an der Brust vorstellen. Als sie Arraj einmal gefragt hatte, wie seine Mutter zu ihm gewesen war, lautete seine Antwort nur: „Sie war schon immer eine Königin. An ihr Muttersein erinnerte sie sich nur in jenen Momenten, wenn sie etwas von uns wollte und es nicht durch königliche Befehle erreichen konnte.“ Nein, Tsagi war sicherlich keine fürsorgliche Mutter gewesen.
„Sie hat kein Gebaumel zwischen den Beinen, also kann ich sie nicht zur offiziellen Botschafterin von Iderra machen“, spann Tsagi ihre Gedanken weiter, ohne Schedelas Missbehagen zu bemerken, „und weil Ihr und ich das ebenso nicht haben, müssen wir unser bestes in dieser von Männern beherrschten Welt machen.“ Sie musterte Schedela neugierig. „Oder ist die Konstitution von Frauen in Callinger anders?“
Schedela lachte, dann schüttelte sie den Kopf über diesen absurden Gedanken. „Nein.“ Sie konnte sich nicht helfen, aber sie mochte Tsagi.
„Wird man Nasiyse also als Botschafterin in Callinger akzeptieren?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob man irgendeinen Botschafter aus Iderra in Callinger akzeptieren wird“, gab Schedela unumwunden zu, die den Gedanken gar nicht so dumm fand, „doch in meinem Volk gibt es weibliche Gesandte. Das am meisten gefürchtete Mitglied der Volksversammlung ist eine Abgesandte namens Ritaschet, die seit Jahrzehnten dort sitzt und deren spitze Zunge gefürchtet wird.“ Noch gut erinnerte sie sich an die Flüche ihres Vaters über ihre – wie er sie nannte – unverschämten Forderungen. Doch als er sie und ihren Bruder zum ersten Mal zur Volksversammlung genommen hatte, war es Ritaschet gewesen, die ihnen Honig und Gebäck zugesteckt hatte. Selten hatte etwas besser geschmeckt.
„Erfrischend“, entgegnete Tsagi trocken.
„Allerdings sind sie immer unverheiratet. So oder so eine iderranische Botschafterin bleibt ein Novum.“
Tsagi umfasste Schedelas Hände und sah ihr in die Augen. „Dann müssen Ihr und ich einen neuen Weg einschlagen, Schedela. Einen Weg, der neue Anfänge wagt.“
„Ja“, antwortete Schedela, „das müssen wir.“
Und für den Moment glaubte sie sogar, dass ihnen das möglich war.