Wenn sie sich neu erfinden wollten, dann kamen sie zu ihm. Um sich vom Grau der Masse abzuheben. Mimten den starken Hengst, wenn sie den aufgepumpten Bizeps schwellend auf seinem Stuhl saßen – flennten dann wie kleine Jungs, sobald die Nadel in ihre Haut eindrang. Oder in Grüppchen, um sich Freundschaftsbeweise unter der Haut verewigen zu lassen. Nur um ihm dann ein halbes Jahr später wieder ihren unteren Rücken zu präsentieren und die Ohren vollzujaulen, wenn er aus einem Unendlichkeitszeichen etwas basteln sollte, dass die zerbrochene Pseudofreundschaft auslöschte.
Wenn sie Trends nachjagten, dann kamen sie zu ihm. Um sich Tribals in allen Variationen um Körperteile tätowieren zu lassen. Obwohl keiner von ihnen auch nur ansatzweise wusste, dass diese Symbole in anderen Kulturen tatsächlich Wert und Bedeutung besaßen. Hauptsache es sah cool aus. Nannten es Körperkunst und ihn Body-Artist.
Aber manchmal kamen sie, wenn die Seele sie quälte. Um etwas zu erbitten, was erinnerte oder vergessen ließ. Dann konnte er helfen.
So wie bei Karo.
Sie hatte einen Autounfall mit ihren besten Freundinnen gehabt. Nein, nein, keiner war gestorben, aber heftig und traumatisch war es gewesen. Sie hatte krasse Verbrennungen am Rücken erlitten. Es hatte ihn und sie viele Sitzungen gekostet, um ein schönes Cover zu entwerfen. Als er es Karo präsentierte, hatte sie stumm gelächelt.
Heute stellte er das Tattoo fertig.
„Willst du es dir ansehen?“, fragte er sie und wischte behutsam die letzten Spuren seiner Arbeit fort. Karo nickte eifrig und er führte sie zum Spiegel. Sie drehte sich herum und Tränen der Freude traten in Karos Augen. Denn anstellte der Narben prangten nun schillernde Libellenflügel auf ihrem Rücken. Beinahe wirkte es, als könnte sie einer Elfe gleich davon fliegen. Die Narben waren noch da, doch verflochten sie sich mit den zarten Adern der Flügel und bildeten eine Einheit. Aus einer grausamen Erinnerung war ein Kunstwerk entstanden.