Liebes Rotkäppchen,
ich muss unbedingt einmal meinen Senf zu dem Märchen, in dem Du und ein angeblich böser Wolf die Hauptrolle spielen, dazugeben. Mir kommt das recht makaber vor. Die Gebrüder Grimm hatten ganz bestimmt eine zu eigenartige Fantasie, solche Dinge zu schreiben. Ich frage mich, wie sie auf diese absurde Idee gekommen sind, den Leuten mit ihrer Schreiberei solch eine Angst einzujagen. Das ist doch reinster Humbug.
Ganz ehrlich, Du glaubst doch wohl nicht, dass das, was die beiden Brüder uns weismachen wollen, alles der Wahrheit entspricht. Oder bist Du Dir sicher, der Wolf hat Deine Großmutter verspeist? Wo gibt es denn so etwas? Noch nie habe ich irgendwo gehört, Wölfe würden alte Damen fressen. Diese Tiere mögen vielleicht grimmig und gefährlich sein, aber so böse sind sie garantiert nicht und verleiben sich Großmütter ein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese sehr munden könnten. Ein wenig zäh sind sie garantiert auch. Aber vielleicht hatte der arme Wolf auch nur Hunger und konnte nirgendwo anders Beute machen. Ich hoffe, er hat sich nicht die Zähne ausgebissen.
Dem Anschein nach hatte Deine Großmutter auch nur die Nase voll, so allein mitten im Wald leben zu müssen. Daher hat sie wohl das Weite gesucht und lebt nun unerkannt an einem Euch unbekannten Ort. Mich wundert es, dass sie nicht schon eher dem öden Wald entflohen ist. Dort mag wahrscheinlich gute Luft sein, so ganz ohne Smog, CO2, Autoabgase und Lärm. Doch immer nur allein sein und zur allgemeinen Belustigung Vogelgezwitscher? Das ist ja nicht zum Aushalten und auf die Dauer stinklangweilig.
Denk nur nicht, Großmütter wären aufgrund ihres Alters aufs Abstellgleis abzuschieben. Sie wollen, genau wie junge Leute, mal Party machen, oder die Sau rauslassen. Dem Isegrimm das Verschwinden der alten Frau in die Schuhe zu schieben, ist meines Erachtens zu sehr an den Haaren herbeigezogen. Wahrscheinlich sucht Ihr nur einen Sündenbock, um Eure Nachlässigkeit unter den Teppich zu kehren. Da möchte ich Euch nur raten, darauf zu achten, das der Teppich nicht irgendwann einmal zu einer Stolperfalle wird.
So wie mir bekannt ist, bist Du dem Wolf auf dem Weg zu Deiner Großmutter mitten im Wald persönlich begegnet. Sag, kam Dir der dunkle Geselle eigenartig, oder sogar böse vor?
Liebes Rotkäppchen, sei doch mal ehrlich! Der Wolf war weder eigenartig noch böse. Hast Du Dich womöglich vor ihm gefürchtet? Nein, das hast Du nicht! Verleugne es nicht. So steht es geschrieben im Märchen vom Rotkäppchen und dem Wolf. Die Gebrüder Grimm haben es schwarz auf weiß der Nachwelt hinterlassen. Jeder, der des Lesens mächtig ist, kann dies in unzähligen Märchenbüchern lesen. Die, die es selbst noch nicht können oder nie gelernt haben, denen erzählen es die Eltern, andere Verwandte oder auch Freunde. Meiner Meinung nach sind das allerdings nur Ammenmärchen, an die keiner glauben sollte.
Ich muss aber zugeben, ein wenig hinterhältig war der Wolf schon, Dich so auszuhorchen. Mit Engelszungen redete er auf Dich ein, entlockte Dir das Geheimnis Deines Weges und den Grund des Besuchs. Du bist auf seine liebliche Säuselei hereingefallen und dahingeschmolzen wie Schokoeis in der Sonne. Mit offenen Augen bist Du in die Falle getappt und hast es nicht einmal bemerkt.
Dazu muss ich Dich aber auch noch tadeln! Deine Mutter hat Dir doch bestimmt beigebracht, dass kleine Mädchen nicht mit Fremden reden sollen, auch wenn diese sie ansprechen? Du hättest sofort flinken Fußes das Weite suchen müssen – am besten gleich zurück zu Deiner Mutter, oder auch zur Großmutter. Dem Wolf so frei heraus alles zu erzählen, war sehr blauäugig von Dir.
Mädchen, Du hast wohl ein vorlautes Mundwerk und eine nicht zu bremsende Zunge. Die solltest Du in der nächsten Zeit besser zügeln, damit nicht wieder solch ein Unglück geschieht. Außerdem wäre es angebracht, dass Dir Deine Mutter deshalb noch einmal ganz genaue Instruktionen gibt, um solch Zwischenfälle in der Zukunft zu vermeiden. Du hast mit eigenen Augen gesehen, was dabei herauskommen kann. Das sollte Dir eine Warnung sein.
Überdies solltest Du immer ein braves Mädchen sein und auf Mutter und Vater hören. Eine Woche Hausarrest wären als Strafe für Dein Ungehorsam wohl angebracht. Doch Letzteres liegt nicht in meinem Ermessen, sondern unterliegt der Befehlsgewalt Deiner Eltern.
Ich hoffe, Du hast das Vorkommnis bereits gebeichtet und nicht einfach unter den Teppich gekehrt. Denk an die Stolperfallen, die daraus entstehen können. Ich schrieb bereits davon. Falls Du das Geheimnis immer noch hütest wie Deinen Augapfel, würde ich Dir raten, es in Bälde zu lüften. Deine Eltern sollten unbedingt wissen, dass Du nicht gehorcht hast. Denk mal drüber nach.
Liebe Grüße von Milly, die nicht mehr an Märchen glaubt und auch nicht an den bösen Wolf
© Milly B. / 15.04.2020