„Du bist dir sicher, dass kein Gewitter kommen wird?“ Anna schaute ängstlich zum Himmel, an dem sich dicke Wolken aufzutürmen begannen. Ihr Herz schlug vor Angst schneller als gewohnt.
„Ach was“, versuchte Louis sie zu beruhigen.
„Wir hätten wirklich nicht noch spazieren gehen sollen“, sagte Anna. „Das Wetter ist mir nicht geheuer.“ Sie schaute mit misstrauischem Blick erneut zum Himmel.
„Du und deine Furcht vor Gewitter“, meinte Louis lachend. „Was soll schon passieren.“ Er zeigte in Richtung Dorf, das noch in Sichtweite war. „Außerdem sind wir schnell zurück. Bis nach Hause ist es nicht weit.“
Louis Worte beruhigten seine Frau gar nicht. Seit ihrer Kindheit fürchtete sie sich vor Blitz und Donner. Warum das so war, darauf konnte sie keine Antwort geben. Und die, die ihr darauf hätten antworten können, waren längst tot. Ihre Eltern waren ums Leben gekommen. Wann, daran konnte sich Anna nicht erinnern, nur, dass sie noch sehr klein war. Ihre Tante, bei der sie dann groß geworden war, schwieg sich über die Umstände aus. Aber auch sie konnte Anna nicht mehr aufklären.
Erneut grollte es bedrohlich am Himmel. Louis aber ließ sich davon nicht beeindrucken. Er ging weiter und genoss die frische Luft und die Idylle. „Nun komm schon“, forderte er seine Frau auf, die ihm notgedrungen folgte.
Es wurde immer dunkler, das Gewittergrollen kam näher.
„Wollen wir nicht doch…“, versuchte Anna ihren Mann zur Umkehr zu überreden.
„Noch ein kleines Stück“, antwortete er und ging weiter, ohne sich um die Belange seiner Frau zu kümmern. „Was du nur immer hast“, grummelte er leise vor sich hin. Auf keinen Fall wollte er sich seinen Spaziergang von Annas Angst verderben lassen.
„Du bist ein Scheusal“, zeterte Anna, Louis aber verschloss seine Ohren vor ihr.
Plötzlich blitzte es fast direkt über den Spaziergängern, darauf folgte innerhalb von Sekunden ein gewaltiger Donner. Anna schrie erschrocken auf und klammerte sich zitternd an Louis. „Liebling, bitte“, rief sie zitternd, „lass uns schnell nach Hause gehen.“
„Ich glaube, dazu ist es zu spät“, erwiderte Louis, der nun erkannte, welche Ängste seine Frau ausstand. Er schaute sich um und entdeckte inmitten einer kleinen Ansammlung von Bäumen eine Hütte. Verdutzt schüttelte er den Kopf. „Woher kommt nur plötzlich diese Hütte. Sie ist mir noch nie aufgefallen.“ Louis nahm Anna bei der Hand und zog sie den schmalen Weg entlang, der zum Haus inmitten der Ansammlung von Bäumen führte. Schon begann es zu regnen. Es schüttete wie aus Eimern. „Komm, schnell“, mahnte Louis nun zur Eile. Doch schon waren beide bis auf die Haut durchnässt. Nach Atem ringend kamen sie an und stiegen die wenigen Stufen zur Haustür hinauf.
Louis klopfte an die Tür. Aber auch nach mehrmaligem Klopfen, antwortete niemand. So drückte er die Klinke herunter. „Es ist offen“, sagte er erstaunt und trat ein. Anna folgte ihm, die erleichtert war, einen Unterschlupf vor dem Unwetter gefunden zu haben.
Die Hütte war klein und bestand anscheinend nur aus einem Raum. Ein Tisch mit Stühlen stand in der Mitte, in einer Ecke ein großes Bett, auf dem eine sorgfältig zusammen gefaltete Decke lag. Auch ein altertümlicher Herd und Schränke waren vorhanden. Louis sah sich um und rief nach dem Bewohner der Behausung. Doch auch jetzt antwortete niemand. „Es scheint wirklich niemand zu Hause zu sein“, sagte Louis zu seiner Frau. „Bleiben wir hier, der Besitzer wird hoffentlich nichts dagegen haben, wenn wir hier vor dem Unwetter Schutz suchen.“
Draußen vor dem Fenster tobte inzwischen ein gewaltiger Sturm. Die Bäume vor dem Haus wurden durchgeschüttelt, die kleineren von ihnen bogen sich sogar zur Seite.
„Ein Glück, dass wir hier und in Sicherheit sind“, sagte Anna und sah angsterfüllt zum Fenster hinaus. „Wer wohl hier wohnt“, sagte sie wie nebenbei zu Louis, der sich weiter umschaute.
„Das weiß ich nicht, ich wüsste auch nicht, die Hütte hier jemals bemerkt zu haben“, antwortete Louis.
„Mir ist sie auch nie aufgefallen. Aber sie scheint schon länger hier zu stehen. Es sieht alles so alt aus, gar nicht so wie aus unserer Zeit“, meinte Anna, die sich nun an den Tisch gesetzt hatte. Sie wirkte angespannt und besorgt. Gedanken über die Hütte schwirrten ihr im Kopf herum. Auch, wie lange das von ihr so verhasste Gewitter andauern würde, machte ihr Sorgen. Kämen sie heute noch nach Hause. Sollte das Gewitter nicht weiterziehen, würde sie sich weigern, auch nur einen einzigen Schritt nach draußen zu tun.
„Mach dir keine Gedanken darüber, Liebling“, beruhigte Louis seine Frau erneut und nahm sie in den Arm.
Auf einmal ging die Tür auf und ein Fremder trat ein. Erschrocken fuhren Anna und Louis hoch. Doch ehe einer von ihnen etwas sagen konnte, lächelte der Mann. „Oh, ich habe Besuch“, sagte er freundlich zu den Eindringlingen.
„Entschuldigen sie“, erwiderte Louis. „Wir sind vor dem Gewitter geflüchtet und da die Tür offen stand, dachten wir…“
„Machen sie sich keine Sorgen, meine Tür steht für jeden offen, der Zuflucht sucht“, wehrte der Mann ab. „Mein Name ist Alfred und ich wohne hier“, stellte er sich dann noch vor. Auch Anna und Louis nannten ihre Namen.
Alfred bat sie, sich doch wieder an den Tisch zu setzen, während er am Herd hantierte und Tee zubereitete. Als der fertig war, stellte Alfred die Tassen mit ihrem dampfenden Inhalt auf den Tisch, dazu Zucker und Löffel. Es roch angenehm nach Minze.
Wortlos tranken sie die ersten Schlucke Tee. Die Wärme des heißen Getränks zog in die Glieder und beruhigte. Obwohl Anna und Louis vorhin nass bis auf die Haut geworden waren, froren sie nicht. Wie durch Geisterhand war ihre durchnässte Kleidung getrocknet.
„Was ich fragen wollte“, durchbrach Louis die Stille. „Mir ist dieses Haus hier vorher nie aufgefallen.“
„Ja“, warf Anna ein. „Wir gehen oft in dieser Gegend spazieren, wohnen sogar im nahen Dorf. Aber diese Hütte hier, ich erinnere mich nicht, sie jemals gesehen zu haben. Wurde sie erst neu erbaut?“
Alfred lächelte geheimnisvoll. „Oh nein, das Haus ist uralt, einige Jahrhunderte alt sogar“, antwortete er. „Auch ich bin älter, als sie es sich vorstellen können."
„Aber wie kann das sein?“, fragte Anna neugierig, „warum nur fiel sie uns vorher nie auf, wenn sie schon Jahrhunderte an dieser Stelle steht.“ Sie blickte sich um. „Obwohl, das Mobiliar entspricht nicht gerade der heutigen Zeit.“
„Nun ja, da gebe ich ihnen Recht“, erwiderte Alfred.
Neugierig schauten Anna und Louis ihn an. Sie spürten, ihr Gastgeber wollte ihnen etwas sagen, konnten sich aber nicht vorstellen, was das sein könnte. „Sie spannen uns aber arg auf die Folter“, sagte Louis nach einer Weile.
„Ich muss es ihnen wohl sagen“, erklärte Alfred, „wenn sie das nächste Mal hier in der Gegend sind und kein Gewitter aufzieht, werden sie dieses Haus nicht sehen. Und ich werde mit ihr verschwunden sein, denn ich bin auf ewig an sie gebunden.“
Anna und Louis rissen erstaunt die Augen auf. „Aber wieso? Wir haben es vorhin doch auch entdeckt, also muss es doch da sein!“, fragten beide wie aus einem Mund.
„Es gibt eine Legende über dieses Haus“, erklärte Alfred. „Immer bei Gewitter, und wenn Menschen in der Nähe sind, die große Furcht davor haben, erscheint das Haus und bietet ihnen Zuflucht.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte Anna. Sie blickte Alfred an.
„Weshalb können sie nicht einfach woanders hingehen?", wollte sie von ihm wissen.
„Das verstehst du nicht, Liebling?“, sprach Louis seine Frau an. „Du hast doch sehr große Angst vor Blitz und Donner.“
„Das, das soll ich glauben?“, stotterte Anna beinahe. „Ein Haus, das Leuten Zuflucht bietet, die Angst vor Gewitter haben, das gibt es doch gar nicht. Mummenschanz.“
„Oh doch“, antwortete Alfred. „Denken sie daran, sie haben es an dieser Stelle auf ihren Spaziergängen nie gesehen und plötzlich ist es da, während sie von einem Gewitter überrascht werden und vor Angst zittern.“ Er lächelte. „Wenn sie demnächst wieder hier spazieren gehen und es ist schönes Wetter, werden sie es nicht zu Gesicht bekommen. Dann werden sie sich an mich erinnern und an das, was ich ihnen erzählt habe. Die Hütte wird unsichtbar sein, sobald sich das Unwetter verzogen hat und mit ihr alles, was sich in ihr befindet. Zu ihrer Frage, warum ich nicht einfach weggehe. Es ist so, dass ich auf ewig an dieses Haus gebunden bin, bis ich irgendwann einmal sterben werde. Doch das wird nicht geschehen, da ich ein Zeitenwanderer und daher unsterblich bin."
„Ich glaub es kaum“, presste Anna hervor und schüttelte den Kopf.
„Sie werden sich an meine Worte erinnern“, sagte Alfred noch einmal.
Das Wetter hatte sich bald beruhigt, der Sturm legte sich und das Gewitter war weitergezogen. „Es wird Zeit zu gehen“, sagte Alfred zu seinen Gästen. „Ich will nicht drängen, aber bald wird dieses Gebäude verschwunden sein.“
Anna schaute zum Fenster hinaus. Die Sonne kam eben hinter den letzten Wolken hervor, und der Himmel klarte auf.
„Dann sollten wir gehen“, sagte sie zu Louis. „Vielen Dank für ihre Gastfreundschaft“, dankte sie Alfred noch und ging zur Tür. „Louis, kommst du“, forderte sie ihren Mann nun zum Gehen auf. Sie verstand zwar immer noch nicht, was geschehen war, jedoch glaubte sie Alfred. Wenn er Recht hatte, wäre die Hütte bald verschwunden und sie sich nicht beeilten, sie mit ihr. „Vielen Dank“, rief sie Alfred noch einmal zu, ehe sie mit Louis im Schlepptau die geheimnisvolle Hütte verließ.
Kaum standen sie auf dem schmalen Weg vor dem Haus, brach die Sonne vollends hervor. Das letzte Wölkchen verschwand und sie standen inmitten einer Wiese, so wie sie diese von ihren vielen Spaziergängen her kannten. Anna drehte sich um, doch das, was sie zu sehen gedachte, war verschwunden.
„Louis, schau doch“, rief sie aus. „Die Hütte…“
„… sie ist weg“, vollendete Louis ihren Satz. „Das ist wirklich eigenartig.“
„Ich verstehe es nicht. Wie kann das nur sein?“, fragte Anna. „Und Alfred? Wir konnten ihm nicht mal richtig danken.“
„Seh es mal so“, erwiderte Louis. „Wir fanden in deiner Not eine Zuflucht, Alfreds Hütte nahm uns freundlich auf. Du musstest dich nicht mehr fürchten. Das ist doch schön.“
„Du hast Recht, Liebling“, sagte Anna. „Lass uns jetzt nach Hause gehen. Das nächste Mal, wenn ein Gewitter heranzieht und ich mich an diese Hütte erinnere, werde ich bestimmt weniger Angst haben als heute.“
„Siehst du, meine Liebe, selbst in den dunkelsten Momenten ist Licht und Hoffnung zu finden“, meinte Louis und küsste seine Frau zärtlich auf den Mund. Dann nahm er sie an der Hand und sie gingen zurück nach Hause.
Und jedes Mal, wenn ein Gewitter aufzog und Anna in Angst und Bange versetzte, erinnerte sie sich an Alfred, den Zeiten wandernden Mann in der geheimnisvollen Hütte, die jedem Schutz bot, der sich vor solch einem Unwetter fürchtete. Dann wurde sie ruhiger und dachte an die Menschen, die jetzt wohl Unterschlupf und Trost bei Alfred fanden.
© Milly B. / 27.03.2024