Es war die schönste Woche ihres ganzen Lebens gewesen. Decadence und Modesty konnten zum ersten Mal ihr Zusammensein genießen ohne den Schleier der Angst über sich zu wissen. Ein großes Fest wurde vorbereitet, auch in der Welt der Sterblichen - obgleich diese natürlich nicht wussten, was gefeiert wurde. Die Aura der Festlichkeit war zu mitreißend, um nicht irgendetwas zu feiern und in den Augen der Menschen wurde das Fest anlässlich des goldenen Zeitalters gehalten, welches sie nun schon ein ganzes Jahr lang genossen.
Im Thronsaal war ein großer Tisch mit den besten Speisen und Getränken gedeckt worden und die schönsten Verzierungen, Laternen, Blumengirlanden und wunderbare Ornamente aus Gold und Silber, tauchten die große Halle in festlichen Glanz.
Modesty war wunderschön an diesem Tag, noch viel mehr als sonst. Sie trug ein Kleid, in strahlend hellem Weiß und den Geist einer Rose im Haar. Sie glühte wie Vollmond in sternenklaren Nächten. Auch Decadence hatte sich herausgeputzt und trug ein elegantes nachtschwarzes Kleid mit feuerroten Akzenten, dazu passend einen kleinen Hut.
Beide waren aufgeregt, ihre Schöpferinnen zu treffen, aber am meisten freuten sie sich darauf, hochoffiziell verheiratet zu werden.
Schließlich war es so weit. Eine ganze Delegation hochrangiger Musen hielt Einzug in die Stadt, begleitet von einer ganzen Armee an Dienerinnen, Soldatinnen und Statthaltermusen anderer Regionen. Inmitten der Gäste war auch die Göttin der Musen höchstpersönlich erschienen und nahm während der Feierlichkeiten am großen Tische, direkt gegenüber von Modesty und Decadence Platz.
Zunächst glaubte jede von beiden, Decadency sowie auch Modesty, nun ihrer jeweils eigenen Göttin, ihrer eigenen Schöpferin, gegenüber zu sitzen. Beide gingen davon aus, dass die Göttin der jeweils anderen noch später erscheinen würde, oder aus irgendeinem Grund nicht kommen konnte. Sie ließen sich jedoch nichts anmerken und wagten nicht danach zu fragen. Den Segen von einer Göttin, egal die der Lichtmusen oder Schattenmusen zu erhalten, war sowohl Ehre als auch Legitimation genug.
Als das Fest sich schließlich dem Höhepunkt zuneigte und die Vermählung vollzogen werden sollte, lag es an Decadence und auch Modesty, aufzustehen und ein paar Worte zu sprechen.
Modesty begann: "Liebe Hochzeitsgäste, hochgeschätzte Göttin, geliebte Deca. Ich danke euch von Herzen, dass ihr heute hier seid, danke, dass ihr diesen Tag möglich macht."
Sie umfasste die Hände von Decadence und sagte: "Mein Leben war kalt und trostlos, bevor du es ins Chaos gestützt hast. Erst durch dich hab ich gelernt, dass ich überhaupt ein eigenes Leben führen kann, erst durch dich habe ich andere Gefühle kennengelernt als nur die Angst vor dem Versagen. Du hast mich gelehrt, mehr zu sein als ein Werkzeug. Ich würde lieber sterben als noch einen weiteren Tag ohne dich zu sein."
Decadence entgegnete, mit zittriger Stimme: "Ich hatte eigentlich vor, Witze zu machen, wie viele Ehen ich im Laufe der Jahrtausende wohl schon zerstört und wie viele Seitensprünge ich zu verschulden habe... wie naiv es von dir eigentlich ist, mit so jemandem nun eine Ehe zu schließen... aber das wird dir und diesem Moment nicht gerecht. Alles was ich heute sagen will ist: Ich liebe dich, Modesty. Für immer. Ich werde dir treu sein bis in alle Ewigkeit, was auch immer geschehen mag."
Die Göttin der Musen erhob sich und alle Blicke richteten sich in Ehrfurcht auf sie. Mit feierlicher Stimme und einer herrschaftlichen Geste sprach sie: "Ich erkläre diese beiden Schöpfungen hiermit für verheiratet."
Decadence und Modesty küssten sich voller Euphorie. Zum erste Mal hatten zwei Musen die Ehe geschlossen. Sie hatten alles verändert und konnten ihr Glück kaum fassen.
Die Göttin setzte zu einer großen Rede an: "Ihr habt mich wahrlich viel gelehrt, kleine Musen. Was ihr hier erreicht habt, hätte ich nicht für denkbar gehalten. Dank euch habe ich beschlossen, die Art meiner Herrschaft in grundlegender Weise zu ändern. Die Ära des ewigen Kampfes zwischen Lichtmusen und Schattenmusen ist endgültig vorbei. Ihr habt in diesem Punkt recht - es ist an der Zeit, dass alle Musen sich ein Ziel teilen."
Decadence und Modesty lauschten mit Stolz und Freude ihren Worten, doch urplötzlich nahm die Stimme der Göttin einen bedrohlichen, düsteren Tonfall an.
"Jedoch bezweifle ich sehr, dass es der Wandel sein wird, den ihr euch in eurem naiven Übermut erhofft habt."
Deca und Modesty zuckten zusammen, als die Göttin mit einer Handbewegung den Soldatinnen signalisierte, sie zu umstellen. Mit hallender Stimme sprach die Herrscherin weiter:
"Ihr hattet beide eure Aufgaben. Sie waren klar und eindeutig. Modestys bringen den Menschen Schamgefühl, Moral und Gesetze und Decadences bringen sie dazu, gegen diese zu verstoßen. Dafür wurdet ihr erschaffen, das war euer einziger Verwendungszweck. Es war göttliche Vorsehung. Aber stattdessen habt ihr eigene Ideen gesponnen und dieses Gleichgewicht hergestellt, was euch niemand befohlen hat."
Modesty begann: "Aber Herrin, ich dachte ihr wäret zufrieden mit unseren..."
Doch die Göttin unterbrach sie. "Nein. Ich bin absolut nicht zufrieden mit eurem Verrat an der Musenwelt. Ich habe viel von euch gelernt, das stimmt, nämlich dass ich mit meinen Schöpfungen weit direkter, strenger und vielleicht auch ehrlicher umgehen muss. Die Wahrheit zu kennen wird mein Eigentum in Zukunft davon abbringen, sich solch närrischen Fantasien hinuzugeben."
"Welche Wahrheit?", fragte Decadence.
"Die wird euch beide nicht mehr betreffen. Eure letzte Aufgabe wird es sein, als Exempel und Warnung zu dienen, für alle Aufmüpfigen die nach euch kommen. Das erste und letzte Ehepaar, das es unter Musen je gab... Für euren Verrat werdet ihr an Ort und Stelle hingerichtet und eure Seelen vernichtet."