Der letzte der Tag vor der Ankunft der Gesandten war gekommen. Der letzte Tag vor der unausweichlichen Abrechnung. Modesty war an jenem Morgen nicht wie sonst im Thronsaal erschienen. Voller Sorge ließ Decadence alles stehen, und machte sich unverzüglich daran nach ihr zu suchen.
Schließlich fand sie ihre Liebste, im entlegensten Teil der hängenden Gärten, wie sie da einfach nur stand und wie in Trance auf das morgendliche Treiben der Stadt hinunterblickte, einer Statue gleich, hätte ihr Haar nicht im kühlen Herbstwind geweht.
"So viele Jahrtausende...", sagte Deca, als sie sich langsam näherte, "... und ich hab dich noch nie zuvor weinen sehen"
Modesty drehte sich beschämt weg. "Worum auch? Noch nie zuvor hatte ich etwas zu verlieren"
Sie schwiegen für eine Weile und blickten gemeinsam auf das Paradies hinab, das sie erschaffen hatten. Würde es morgen schon untergehen?
"Lauf weg mit mir", sagte Modesty schließlich. "Du und ich, wir wissen doch beide was morgen geschehen wird. Was nur geschehen kann... Noch nie zuvor hat sich jemand so viel herausgenommen, so viel gewagt. Das werden sie nicht tolerieren. Es wird schwer, all das hier zurück zu lassen. Es wird schwer, auf der Flucht zu leben und eines Tages mögen sie uns erwischen, aber noch nicht morgen."
Decadence hörte zu, aber antwortete nicht. Sie sah Modesty nur an, als diese weiter redete. "Bitte, lass es uns einfach tun. Ich frage doch gar nicht nach der Ewigkeit. Alles was ich will sind ein paar Jahre mehr, mit dir. Ganz egal, was es kostet. Lass uns fliehen"
Decadence ignorierte alles soeben gesagte und umschloss Modestys Hände mit ihren. "Sei lieber still und heirate mich", sagte sie.
"Was?" Modesty stürzte beinahe vor Schreck, doch Deca hielt sie fest. "Was meinst du damit? Wir können nicht heiraten! Es gibt keine Liebe unter Musen, wir dürften noch nichtmal zusammen sein. Hast du völlig den Verstand verloren?"
Deca lachte. "Und das fragt mich die Verrückte, die gemeinsam durchbrennen möchte, in einer Welt, in der es kein Entrinnen gibt?"
Modesty schwieg.
"Du und ich, Modesty, wir beide haben im letzten Jahr doch gesehen was alles möglich ist. So vieles von dem wir dachten es könnte nie geschehen, oder es würde nie funktionieren hat sich doch so zugetragen, und wir sahen mit eigenen Augen, dass es gut war. Andere werden das auch sehen. Die Gesandten und unsere Göttinnen werden es sehen. Werde meine Frau, Modesty! Machen wir es genau wie die Menschen. Lass uns ein großes Fest feiern und uns feierlich die Treue schwören. Ich will die Deine sein, für immer, auf alle Zeit und in Ewigkeit. Aber nicht auf der Flucht und nicht im Geheimen. Möchtest du das nicht auch?"
Modesty drückte sich eng an Decadence, ließ sich in den Arm nehmen und lächelte. "Das möchte ich auch", sagte sie.
"Was, wenn sie...", begann Modesty, doch Deca unterbrach sie.
"Wir sind stärker geworden, gemeinsam, und die Aura der ganzen Stadt strahlte mit uns im Einklang. Wir können nicht hoffen, in einem Streit mit den höheren Mächten zu obsiegen, aber unsere Kraft wird zumindest ausreichen um nicht auf der Stelle vernichtet zu werden. Uns zu wehren. Zu entkommen."
Modesty nickte. "Lass es uns versuchen."
"Ich verspreche dir, ich lass nicht zu dass dir etwas geschieht", flüsterte Deca.
Die beiden beschlossen, ihren möglicherweise letzten Tag und dessen Nacht so zu verbringen, wie ihre Freundschaft dereinst begonnen hatte: Gemeinsam in den hängenden Gärten, unter dem Licht der Sterne.