Vorbemerkung: Es geht um das – eventuelle - Sterben eines Kindes. Falls es dir zu nahe geht, überspringe dieses Kapitel!
Der Junge kam nun jeden Tag in Sols Blumenladen. Immer zur selben Zeit.
Dankbar trank er den heissen Kakao, den sie ihm brachte.
Sie setzte sich bei jedem seiner Besuche für eine Weile zu ihm, stand aber auf, wenn Kundschaft in den Laden kam. Ab und zu warf sie ihm einen kleinen Blick zu, der ihm zeigen sollte, dass er trotzdem nicht allein war.
Sie spürte aber, dass er jedesmal erleichtert war, wenn sie beide wieder allein waren.
Eine Frau betrat das Geschäft und wünschte sich einen grossen Blumenstrauss für ihre Tochter, die gerade Mutter geworden war. Sie strahlte vor Glück, erzählte ausführlich von ihrem neugeborenen Enkelkind.
Sol beobachtete, wie der Junge sich auf seinem Stuhl zusammenkrümmte. Tränen liefen ihm übers Gesicht.
Als die stolze Grossmutter gegangen war, näherte sie sich ihrem jungen Gast. Sanft lege sie ihm eine Hand auf die Schulter, blieb dann ruhig neben ihm stehen.
Auf einmal schluchzte er laut auf.
"Er … er liegt … im Krankenhaus. Mama und Papa sind … die ganze Zeit bei ihm.
Er … ist ... noch so winzig klein … "
Er schlug die Hände vors Gesicht. Sein schmaler Körper zitterte, während er haltlos weinte.
Fest nahm Sol ihn in die Arme. Liess zu, dass ihre Bluse nass wurde von seinen Tränen. Wiegte ihn sanft hin und her.
In diesem Moment betraten Sally und Mia den Laden. Sol schüttelte den Kopf und bat sie wortlos, wieder zu gehen.
Die beiden verstanden sofort und verliessen leise das Geschäft. Sol sah durchs Schaufenster, dass ihre aufmerksame Freundin das Schild "Geschlossen" an die Türe hängte und sich dann mit ihrer Tochter entfernte.
Mit all ihrer Aufmerksamkeit und Liebe widmete sie sich weiterhin dem verzweifelten Jungen, dem grossen Bruder, der um das Leben seines kleinen Bruders bangte.
Nach langer Zeit begann er sich von Sol zu lösen, suchte nach einem Taschentuch.
"Was geschieht mit kleinen Kindern, wenn sie … wenn sie … "
Beruhigend strich ihm Sol über den Kopf.
"Sie gehen sich ausruhen. Und kommen dann wieder. In einem neuen Gewand."
Sie sprach leise, zärtlich. Erinnerte sich an die unzähligen Kleider, die sie hergestellt hatte. Nun erlebte sie aus nächster Nähe die Not eines Abschiedes mit – und war ihrerseits erschüttert.
Der Junge schien sich ihre Worte durch den Kopf gehen zu lassen.
"Kommen sie dann wieder … zu der gleichen Familie?"
Wie gut Sol diese Frage nachvollziehen konnte!
"Das kann ich dir nicht sagen. Letztlich entscheidet das ER. Mit der Seele zusammen, die da bei IHM ausruht."
Der Junge wirkte beruhigt.
Stand auf und wandte sich zum Gehen.
"Möchtest du eine Blume mitnehmen für deinen kleinen Bruder?"
Seine Augen leuchteten auf. Er deutete auf eine gelbe Blume.
"Die sieht aus … wie eine Sonne. Oder wie ein Stern."
Sol lächelte, reichte ihm die gewünschte Blume.
"Bis morgen!"
Die Erleichterung in seiner Stimme war beinahe greifbar.
Dann schloss er leise die Tür hinter sich.
Nachdenklich blieb Sol vor dem grossen Strauss gelber Blumen stehen.
"Denk daran – es gibt immer wieder Wunder", flüsterte sie ergriffen.