In Sol stiegen Bilder hoch. Erinnerungen.
Sie sah sich durch Wälder und Wiesen streifen,Gräser, Blätter und Ästchen sammeln, ebenso Tannenzapfen und weiches Moos.
Sie sah sich auf einem Stein sitzen und mit Sorgfalt und Hingabe neue Seelenkleider anfertigen.
Sie sah sich alte, gebrauchte Seelenkleider flicken – je nachdem, was die Seele während ihres letzten Erdendaseins erlebt hatte.
Und sie sah sich wieder hinter dem Stein hervorkommen und der Seele, die gerade seufzend ihr Gewand wieder übergestreift hatte, eine gelbe Blume überreichen. Der Seele, die nun in Menschengestalt vor ihr stand.
Tiefe Sehnsucht begann sie zu erfüllen.
Sol spürte, wie jemand sie leicht am Arm berührte.
Der Junge stand vor ihr und sah sie fragend an.
"Geht es dir gut?"
Sol atmete tief durch und versuchte, sich wieder zu sammeln.
Sie nickte und lächelte ihn beruhigend an.
Der Vater des Jungen blickte sie aufmerksam an. Nachdenklich.
"Ich kenne Sie. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, woher."
"Du kennst sie, Papa? Aber … sie ist doch MEINE Freundin!"
Sol und der Vater des Jungen schmunzelten.
"Ja, sie ist deine Freundin. Daran wird sich auch nichts ändern! Ich … hatte einfach das Gefühl, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber ich weiss nicht, wo."
Der Vater des Jungen räusperte sich.
"Eigentlich sind wir gekommen, um Ihnen zu danken.
Sie waren da für unseren Ältesten, den grossen Bruder, als wir, seine Mutter und ich, uns zu wenig Zeit nahmen für ihn und seine Sorgen. Wir … hatten solche Angst um den Kleinen, das Frühchen … "
Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm, sein Körper schien wie zusammenzufallen.
Er holte tief Luft, straffte sich und sprach dann gefasst weiter.
"Nun scheint er über den Berg. Er hat angefangen, selber zu atmen, langsam nimmt er auch zu. Es ist ein riesengrosses Geschenk, ein Wunder."
Dem Mann liefen nun Tränen übers Gesicht.
Sol stand auf und holte ihm ein Taschentuch.
Er schaute sie eindringlich an.
"Es begann dem Kleinen von jenem Moment an besser zu gehen, als der Grosse mit Ihren gelben Blumen ins Krankenhaus kam.
Das sind nicht einfach nur schöne Blumen. Es sind Wunderblumen."
Eine Weile lang war es still im Blumenladen. Jedes schien seinen Gedanken nachzuhängen.
Aufmerksam musterte Sol den Mann vor ihr. Sie sah, dass sich sein Seelenkleid sehr verändert hatte, sie ihm vieles von dem Schweren, Schwarzen, dass sie ihm damals auf die Reise hatte mitgeben müssen, würde entfernen können.
"Machst du uns einen Kakao?"
Überrascht schaute Sol den Jungen an, lächelte.
Gedankenverloren stand sie in der kleinen Küche und hantierte.
Ruhig tranken dann alle ihre Tasse Kakao.
Dankbarkeit bedarf oft nicht vieler Worte, aber des Raums. Und der gemeinsamen Stille.
Mit einem weiteren Strauss gelber Blumen verliessen Vater und Sohn wenig später das Blumengeschäft.
Nachdenklich schaute Sol ihnen nach.