»Lass uns reden« sagte er und wischte mir eine Träne von der Wange.
Ich nickte und wartete schweigend darauf, dass er die Initiative ergreifen würde, da ich nicht wusste, was ich ihm sagen sollte. Alex schwieg eine Weile, dann umarmte er mich. Ich schloss die Augen und atmete seinen Duft ein. Er war so nah und doch so fern. So unerreichbar wie die Freiheit. Vor wenigen Tagen hätte ich mir diese Nähe nicht vorstellen können. Im Institut hätte ich nie geglaubt, dass er derjenige sein würde, der mir bei der Flucht hilft. Dass er sein bisheriges Leben aufgeben würde, nur um mich nach Hause zu bringen.
»Geht’s dir schon besser?« fragte er.
»Ja« antwortete ich und befreite mich aus der Umarmung, um ihm in die Augen schauen zu können.
»Okay, wo soll ich anfangen?« Alex musterte mein Gesicht, als würde er dort die Antwort finden können. »Ich werde ehrlich zu dir sein. Ich bitte dich, mir zuzuhören, egal was ich sage.«
»Ich werde nicht davonlaufen« versprach ich ihm.
»Als der Boss mir den Auftrag zuteilte, nahm ich ihn mit großer Freude entgegen. Nicht nur wegen der Belohnung, sondern auch weil es eine interessante Herausforderung war, ein übernatürliches Wesen entführen zu dürfen« fing er an. Ich blickte auf den Boden, hörte ihm aber aufmerksam zu und versuchte, den Schmerz in mir zu ignorieren. »Sie haben mich auf die Aufgabe vorbereitet und gaben mir dann einige Monate, um die Informationen zu bekommen, die sie wollten. Dir Gefühle vorzutäuschen war die effizienteste Methode, ich hätte aber nie gedacht, dass ich dein Vertrauen so schnell gewinnen würde« lächelte er bitter. »Du warst ein offenes Buch und hast all meine Fragen beantwortet, ohne jemals an meiner Identität zu zweifeln. Du hast mir jedes einzelne Wort geglaubt.«
»Du bist ein sehr guter Schauspieler« konterte ich traurig.
»Ich hatte befürchtet, dass deine geschärften Sinne mich durchschauen und es eine große Herausforderung sein würde, aber ich hatte mich geirrt. Als wir uns kennengelernt haben, wusste ich bereits mehr von dir, als du es dir jemals hättest vorstellen können. Ich habe dich tagelang beobachtet, um den perfekten Moment für unser Kennenlernen zu finden.«
Alex hatte mich beobachtet und verfolgt? Mir wurde es schwindelig.
»Ich bin dir in den Laden gefolgt und sah dich, wie du nachdenklich den Einkaufswagen von Regal zu Regal schobst, als hättest du vergessen, wonach du suchtest. Ab dem Augenblick war ich mir des Erfolgs sicher« erinnerte sich Alex. »Als du mir dann unschuldig in die Augen sahst, wurde mir klar, dass die Aufgabe doch nicht so leicht werden würde, wie ich es die Tage davor vermutet hatte.«
Seine Worte trieben mir Tränen in die Augen. Nicht einmal das erste Treffen war Zufall, er hatte alles bis in das kleinste Detail geplant.
»Und als wir uns in der Stadt begegnet sind? Woher hast du gewusst, dass ich die Schule schwänzen würde?« fragte ich kopfschüttelnd. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass alles genauestens durchdacht war.
»Das war ein Zufall« antwortete mir Alex. »Ich war sehr überrascht, als ich dich am Vormittag in der Stadt sah, weil du zu diesem Zeitpunkt Unterricht gehabt hättest. Ich hatte geahnt, dass etwas nicht in Ordnung war, aber ich wäre nie darauf gekommen, dass du vom Dach deiner Schule gesprungen bist, um einer jährlichen Untersuchung zu entkommen. Du warst gerade von einer Bank aufgestanden und hast versucht, etwas in den Mülleimer zu werfen, den du natürlich nicht getroffen hast. Ich war neugierig und habe das kleine Stück Papier aufgesammelt.«
Das kleine Stück Papier enthielt meine Konversation mit Stella. Ich konnte mich noch erinnern, dass das Hauptthema Alex war.
»Du hast es gelesen« stellte ich fest. Das Schamgefühl trieb mir weitere Tränen in die Augen, die nacheinander über meine Wange rollten.
»Ja, ich habe eure Konversation gelesen. Es war nicht schwer, herauszufinden, welche Gefühle ich bei dir ausgelöst hatte. Den Rest kennst du. Ich bin dir wieder in das Geschäft gefolgt und habe dich auf ein Eis eingeladen. Ich wollte erfahren, aus welchem Grund du um diese Uhrzeit in der Stadt statt in der Schule warst.«
Ein Seufzer verließ meine Lippen. Alles klang logisch, doch eine wesentliche Information fehlte noch immer, um die Ereignisse verstehen zu können.
»Woher hast du gewusst, dass ich fliegen kann?« fragte ich flüsternd. Nur zwei Menschen hatten zu dem Zeitpunkt von meinen Flügeln gewusst. Und diese zwei Menschen hätten mich niemals in Gefahr gebracht.
Alex antwortete mir mit einem traurigen Lächeln.
»Du warst nicht vorsichtig genug.«
»Was meinst du damit? Nur Lucas und Stella wussten Bescheid« ich schüttelte verwirrt den Kopf.
»Ich meine weder deinen Bruder, noch deine Freundin. Denk nach, Blanka. Auch die Besten machen Fehler.«
Ich schwieg und dachte nach. Woher hatte Alex die Information? Hatten sie mich beobachtet, weil ich Camillas Cousine war? Eher unwahrscheinlich. Im Institut hatte ich es vermieden, die gemeinsame Zeit zu analysieren und herauszufinden, was genau in den Wochen passiert war, die ich mit Alex verbracht hatte.
»Ich weiß es nicht« stöhnte ich verzweifelt.
»Du bist aufgefallen« half er mir.
Alex‘ Worte verschafften mir Zugang zu den richtigen Erinnerungen.
»Ich war erschöpft und unaufmerksam…«
»Was dir fast dein Leben gekostet hat! Das Institut hat zwar lange die Gegend beobachtet, ist aber durch Zufall auf diesen Vorfall gestoßen.«
»Ich habe tagelang Zeitungen durchgeblättert und Nachrichten geschaut, aber es gab nur einen einzigen Artikel« meinte ich.
»Hast du auch ausländische Medien verfolgt?«
»Nein« antwortete ich deprimiert. »Ich hatte auf mein Glück gehofft.«
»Das Institut ist auf einen ausländischen Sender aufmerksam geworden, der über diesen umstrittenen Fall berichtet hatte. Danach ging alles sehr schnell. Im Institut arbeiten die Besten der Besten, und diese haben herausgefunden, dass es sich bei der fliegenden Gestalt um dich handelt. Um Camillas Cousine« erklärte mir Alex.
»Und dann haben sie dich zu mir geschickt, um an die Informationen heranzukommen.«
»Ach, Blanka… Wieso hast du nicht auf deine Instinkte gehört? Wieso hast du mir so schnell vertraut?« Alex fragte mich auf eine Weise, die keine Antwort erforderte. Ich blickte auf und musterte sein Gesicht.
»Es hätte keinen Unterschied gemacht« flüsterte ich. »Es war alles nur eine Frage der Zeit.«
Alex schüttelte den Kopf. Er wusste, dass ich recht hatte, wollte es aber nicht einsehen.
»Ich hatte mich schon damit abgefunden, auf Beziehungen verzichten zu müssen. Dann habe ich dich kennengelernt. Du gabst mir die Hoffnung, die ich gebraucht hatte…« meine Stimme war ruhig, aber in mir tobte der Sturm. Ich kämpfte gegen die Bitterkeit an, die mich innerlich zerriss. »Bei dir hatte ich das Gefühl, auf Verständnis gestoßen zu sein. Ich wusste, dass Beziehungen riskant sein würden, aber ich habe dir vertraut. Ich war verliebt und wollte nicht mein ganzes Leben im Käfig meiner erdrosselten Gefühle verbringen. Und du hast es mir versprochen. Du hast mir versprochen, mich niemals zu verraten« die Erkenntnis, dass er sein Versprechen gebrochen hatte, brachte mich zum Weinen.
Alex umarmte mich sanft.
»Das war meine Aufgabe. Es tut mir so leid« sagte er.
Es dauerte einige Minuten, bis ich mich wieder beruhigen konnte.
»Jetzt sind wir wieder hier, nur weiß ich nicht, weshalb« setzte ich fort. »Du hattest einen guten Job, einen fixen Studienplatz und ein beneidenswertes Leben in Boston. Dennoch hast du dich dafür entschieden, mir zu helfen. Ich frage mich, wo wir wären, wenn deine Gefühle echt gewesen wären.«