Du bist Arthrax Sundergeer.
Du gibst dir einen Ruck und wühlst dich durch die Menge nach vorne. Direkt hinter den letzten Wächtern trittst du auf die Bühne. Elred gesellt sich an deine Seite und ihr marschiert den Wachen hinterher, als wäre es nichts Besonderes. Die ungewohnte Kleidung kratzt einmal mehr, dir wird unter dem seltsamen Gewand unangenehm heiß. Hier oben auf dem Podest brennen auch mehr Fackeln und die Luft ist noch stickiger. Von den vielen Dämpfen wird dir langsam aber sicher schwindelig. Du musst hier raus, und zwar schleunigst.
Die Wachen bilden einen Halbkreis am Ende der Bühne. Dazu laufen sie frontal auf den Schöpferstein in seiner Nische zu und teilen sich dann an der Wand in zwei Reihen, die sich in den Halbkreis verteilen. Du tauscht einen hoffnungsvollen Blick mit Elred, denn diese Formation bedeutet, dass ihr beide direkt vor dem Stein stehen werdet. Was für ein Glück!
Doch wirklich freuen kannst du dich nicht. Ihr müsst über den blutbedeckten Boden und in langsamem Tempo unter dem seltsamen Kronleuchter hindurch, während die Priester um euch herum Beschwörungen singen. Der Schweiß brennt auf deiner Haut und juckt höllisch. Du musst dich zusammenreißen, um dich nicht hemmungslos zu kratzen, denn das würde euch verraten. Bilder von Flöhen und kleinen Sandkäfern beherrschen deine Vorstellungskraft.
Die beiden Wächter vor euch erreichen die Wand und drehen sich um, um die Nische mit dem Schöpferstein zu flankieren. Für einen Moment siehst du ihnen in die Augen, die in einem schmalen Streifen zwischen den beigen Tüchern zu sehen sind. Die Haut rings um die Augen ist dunkel, kupfern. Die Augen leuchten wie Bernsteine. Einen Moment mustern die beiden Wachen euch, die ihr direkt hinter ihnen steht. Ihr Blick huscht über eure Kleidung, die vermutlich nicht der Kleiderordnung entspricht. Es scheint da subtile Unterschiede zu geben, wer was trägt, und wie das Gewand gewickelt wird. Als nächstes registrieren die Wachen, dass ihr keine Speere tragt.
Die bernsteinfarbenen Augen weiten sich. Deine Faust trifft auf die Nase des Mannes vor dir. Du packst den Speer, als die Wache zusammensackt und ihr Griff sich löst. Dann schwingst du die Waffe herum und triffst die andere Wache seitlich am Kopf. Die Klinge der Speerspitze schneidet den Verband am Schädel auf. Blut spritzt hervor, dann schälen sich die Tücher nach unten und offenbaren rohes, blutiges Fleisch, vermischt mit helleren Flecken. Eiter oder vielleicht durchschimmernde Knochen. Die Haut muss direkt mit den Verbänden verwachsen sein.
Elred duckt sich unter deinem Speer hindurch und schnappt sich den Schöpferstein.
Der Geruch von Blut dringt trotz der vielfältigen Gewürze scharf an deine Nase. Du drehst dich um und rennst zur Treppe, darauf vertrauend, dass Elred hinter dir ist. Dabei schlägst du mit dem Speer um dich, bohrst ihn dort in ein Auge, hier in einen Leib, schlägst nach Füßen und Händen. Schreie erklingen, vielstimmiges Gekreisch, das in dem Gewölbe widerhallt. Die Menge gerät in Panik. Du springst über zwei niedergetrampelte Wissende hinweg und rennst die Treppe hoch.
„Arthrax!“, erklingt Elreds Stimme hinter dir. „Pfeile!“
Du verfällst instinktiv in einen Zick-Zack-Lauf. Tatsächlich hörst du, wie kleine Geschosse an den Wänden neben oder den Stufen vor dir abprallen. Dann spürst du einen stechenden Schmerz in der Wade.
Du strauchelst, bückst dich und siehst einen kleinen, gefiederten Pfeil in deinem Bein stecken. Statt eines glatten Schafts hat er eine Verdickung nah an der Spitze. Eine Kammer mit Gift, wird dir klar. Das sind giftgefüllte Blasrohrpfeile.
Du ziehst den Stachel aus deinem Fleisch und rennst weiter. Elred ist ein paar Stufen vor dir. Mit einer Hand tastet er im Laufen über seine Brust.
Plötzlich verzerrt sich das Geschrei hinter dir. Elred dreht sich um und ergreift deine Hand.
Ihr rennt. Wissende und Wachen bewegen sich wie in Zeitlupe – nein, sie bewegen sich wirklich in Zeitlupe! Als du einen Blick zurück wirfst, siehst du, wie sie euch mit fast eingefrorenen Bewegungen folgen wollen. Doch ihr seid nun viel zu schnell. Elred hat seine Macht über die Zeit erneut genutzt.
Ihr überquert den Platz vor dem Eingang zum Tempel und biegt in die Straßen ein. Nach ein paar Abbiegungen stolpert Elred ein Stück. Du spürst am Wind, der plötzlich über deine Haut streicht, dass ihr euch wieder in der normalen Zeit befindet.
„Was ist los?“, fragst du den Elf.
„Warte!“, sagt Elred und reißt einen Streifen von der gestohlenen Kleidung ab. „Bleib stehen, Arthrax, verdammt!“
Du hältst verwundert inne und der Elf legt den Streifen um dein Bein und zerrt fest zu. Du zischst leise, als dein Blut abgedrückt wird.
„Gegen ... das Gift“, jappst Elred. „Es sollte sich besser ... nicht noch weiter ausbreiten.“ Er sieht sich gehetzt um. „Eigentlich müssen wir direkt zu einem Arzt. Mit den Giften der Wissenssammler ... ist nicht zu Spaßen. Ich habe schon mal einen Söldner erlebt, der bei Grenzkonflikten mit den Wissenden verletzt wurde …“
„Der Pfeil ist doch draußen!“, brummst du unfreundlich. Du hast keine Lust, dich bemuttern zu lassen, nicht von Elred. „Lass uns gehen. Du machst dieses Zeitdingsda und wir sind hier weg.“
„Aber wenn das Gift …“, setzt Elred an.
Du packst ihn an den Schultern. „Hör mir jetzt genau zu, weil wir es so machen, wie ich sage!
Wir ...
- … suchen uns jetzt einen verdammten Heiler, damit du Ruhe gibst!“ Lies weiter bei Kapitel 28.
[https://belletristica.com/de/books/20830/chapter/76094]
- … gehen jetzt hier raus und kümmern uns später um das Gift. Der Schöpferstein ist wichtiger.“ Lies weiter bei Kapitel 29.
[https://belletristica.com/de/books/20830/chapter/76095]
- … tun jetzt, was wir tun können und fliehen dann, den Rest kann dann ein richtiger Menschenarzt erledigen!“ Lies weiter bei Kapitel 30.