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Kapitel 3
Handgeschriebene Briefe
Wie Bürgermeister Lewis versprochen hat, wurden die Zufahrt zu meinem Grundstück und sogar der Gehweg bis zu meinem Haus freigeräumt. Mit der geliehenen Schneeschaufel müsste ich mich allerdings trotzdem bis zu meinem Briefkasten vorgraben, wenn ich meine Zeitung hineinholen möchte. Also, falls überhaupt Post gekommen ist.
Laut Sebastian bekommen die meisten im Dorf ihre Zeitungen auch im Winter, seine Familie allerdings nicht immer, weil das Gelände schwer zugänglich ist, sobald die Straße nicht geräumt wird.
Wenn ich nicht auf einen Brief meines Dads warten würde, dann wäre ich ehrlich gesagt gar nicht bereit, mich dem Schnee zu stellen. Um meine Mission noch zu erschweren, ist die Tür nach draußen zugeschneit worden. Sie zu öffnen ist weder für mich alleine, noch durch Sebastians Hilfe zu bewältigen.
Eingeschneit zu sein ist doch nicht so cool wie ich dachte.
Sebastian möchte mir bei meinem Kampf gegen den Schnee beistehen, auch wenn ich nur eine Schneeschaufel zur Verfügung habe, um ihn aus dem Weg zu räumen. Mit aller Kraft versuche ich noch einmal meine Tür aufzudrücken. Wenn der Spalt nur noch ein bisschen breiter wird, kann ich mich irgendwie durchquetschen.
„Hey, bevor du dich da überanstrengst, sollten wir lieber das Fenster benutzen“, schlägt Sebastian vor. „Wir öffnen es, klettern hinaus in den Schnee, machen die Tür frei, gehen wieder rein und schließen das Fenster. Das müsste in ein paar Minuten erledigt sein.“
„Klingt gut“, stimme ich seinem Vorschlag zu.
„Den Schnee von der Veranda kann ich auch mit einer normalen Schaufel durch das Geländer schieben. Viel Spielraum haben wir nicht, aber wenn wir nicht alles wegschaufeln, könnte der Wind den Schnee verwehen und wir müssen morgen noch einmal aus dem Fenster klettern.“
„Alles was du sagst klingt, als würdest du einen spannenden Mordfall lösen“, meine ich lächelnd. „Du klingst so analysierend. Ich hätte das ganz anders gemacht.“
„Ach ja?“, fragt Sebastian ein wenig verlegen. Er dreht sich zu dem Fenster, um sein Gesicht vor mir zu verstecken.
„Ich hätte die Tür so weit wie möglich aufgedrückt, mich durch den Spalt gequetscht, dann ein bisschen Platz gemacht und wäre dann durch den Schnee zu meinem Briefkasten gestapft. Ich muss ja nicht weit.“
„In ein paar Tagen könnte der Schnee ziemlich eisig sein. Wir können auch deine Technik nehmen, aber ich denke, dass mein Plan langfristig effektiver ist.“
„Nein, du hast schon recht“, stimme ich ihm ein weiteres Mal zu. Schnell hebe ich einen Stuhl an, um ihn ans Fenster zu stellen. „Zieh dich schon mal an, ich hole eben eine Schaufel aus dem Keller.“
Ich öffne die Kellertür und schon bin ich auf dem Weg nach unten. „Kann ich mir irgendwas von dir leihen? Du hast bestimmt so Wollpullis oder so“, ruft Sebastian die Treppen hinunter.
„Ja klar! Nimm dir, was du brauchst. Du weißt ja, wo mein Schrank ist.“
„Danke, Ry.“
Mit der gefundenen Schaufel oben angekommen stelle ich fest, dass Sebastian sich ausgerechnet meinen roten Wollpullover ausgesucht hat. Er ist mein liebstes Kleidungsstück für kalte Wintertage, weil er übergroß, weich und flauschig ist. Mein Freund zieht ihn über seinen Hoodie, zieht dann die Kapuze des besagten Hoodies hervor.
„Du siehst in Rot gut aus.“
„Danke, ich fühl mich wie ein Stoppschild.“
„Vielleicht nimmt die Kälte das ja ernst“, antworte ich amüsiert. „Mit ein bisschen Glück lässt sie sich beeindrucken und du bleibst warm und kuschlig.“
„Wenn nicht kannst du mich ja warm kuscheln, so wie du mich wach gekuschelt hast“, zieht Sebastian mich auf. Er steigt auf den Stuhl und öffnet das Fenster.
Ich will etwas erwidern, doch ich weiß nicht recht, was ich sagen soll, also beschließe ich, es sein zu lassen. Sebastian will mich nur ärgern und ich gönne ihm diesen kleinen Triumpf.
Ich reiche Sebastian die Schaufel und die Schneeschaufel durch das Fenster hinaus. Während mein Freund anfängt den Schnee von der Veranda zu schaufeln schlüpfe ich noch schnell in eine Jacke und meine Winterstiefel. Auch ich nehme den spannenderen Weg durch das Fenster auf meine Veranda.
Der eisige Duft des Winters zieht in meine Lungen, als ich tief einatme. Ich liebe die kalte Luft. Ich liebe, liebe, liebe diese Jahreszeit, so wie ich eigentlich alle Jahreszeiten liebe. Die Luft riecht im Winter vergleichsweise klarer und frischer als in der Stadt. Ich kann vom Einatmen gar nicht genug bekommen. Keine Abgase, kein Smog, nur frische Luft.
„Hey. Ich mach das hier nicht alleine.“ Sebastian drückt mir die Schneeschaufel in die Hand. „Du kannst die frische Luft später genießen.“
Ich beginne damit, die Treppen freizuschaufeln. Dass der Schnee gefroren ist, so wie Sebastian prophezeit hat, ist glücklicherweise noch nicht eingetroffen, trotzdem ist es nicht so einfach, wie ich gedacht habe. Die Stufen sind noch machbar, doch der Schnee ist über einen Meter hoch. Da mir das Gewicht ein wenig Angst macht, sehe ich nach oben auf mein Dach, doch der Schnee ist bereits von den schrägen Ziegeln gerutscht. Erleichterung macht sich schnell in mir breit, ich atme erneut tief durch. Für ein eingebrochenes Dach hätte ich mehr als einen simplen Schlüssel gebraucht, um es zu reparieren.
„Ich weiß nicht, was ich bei einem Meter Schnee ausrichten könnte. So komme ich nie an meinen Briefkasten…“
Sebastian stellt die Schaufel ab, er lehnt sie an die Hauswand. Er greift nach meiner Hand und zieht mich auf die andere Seite der Veranda. „Na dann… klettere doch über das Geländer? Du bleibst zwar im Schnee stecken und du wirst nass, aber der Weg ist kürzer. Du holst deine Post, reichst sie mir und dann helfe ich dir, wieder rauf zu kommen.“
„Okay.“
Ich klettere über das Geländer, springe dann in den Schnee, indem ich sofort bis zu den Oberschenkeln versinke. Ich sehe rauf zu Sebastian, der anfängt zu lachen. „Ich muss das festhalten.“ Mein Freund zückt sein Smartphone. „Einmal freundlich grinsen, liebster Ryan.“ Und das tue ich auch. Ich grinse breit in die Kamera. „Jetzt fehlt dir noch ein Zylinder und eine Karottennase und du bist ein Schneemann-Mensch-Hybrid.“
„Schneemann-Mensch-Hybrid?“, frage ich belustigt. „Wie kommst du immer auf so etwas?“
„Ich bin ein kreatives Kerlchen“, antwortet mein Freund schmunzelnd.
„Das Bild ist im Kasten?“
„Ja, ich schick’s dir dann.“
Ich kämpfe mich vorsichtig zu meinem Briefkasten. „Hey, denkst du, dass der Räumungstrupp vielleicht ein paar Meter weiter fahren würde, wenn ich darum bitte? Also die Veranda kann mir keiner frei räumen, aber bis zu den Treppen wäre es super.“
„Weiß nicht, frag Lewis mal. Du hast bestimmt seine Nummer, ruf den alten Knacker mal an.“
„Was hast du eigentlich gegen ihn?“
„Kein Kommentar“, antwortet Sebastian gleichgültig.
„Okay, wenn du’s mir nicht sagen willst, respektiere ich das, aber ich versteh es trotzdem nicht. Zu mir ist er immer sehr nett und freundlich.“
Aus meinem Briefkasten nehme ich die Tageszeitung und einige Flyer und Werbung für den Joja Markt heraus. Der Brief, den ich erwarte, ist noch nicht dabei.
„Ryan? Ist alles okay? Steckst du im Schnee fest?“
Ich nicke. „Alles okay… Ich hab nur einen Brief erwartet, das ist alles.“
Angestrengt kämpfe ich mich wieder durch den hohen Schnee. Ich reiche Sebastian meine Post, die er auf dem Fensterbrett ablegt. Er reicht mir beide Hände, um mir zu helfen. Zusammen mit Sebastians Hilfe kämpfe ich mich aus dem Schnee und rauf auf die Veranda. Die Kälte, die ich eben noch verdrängt habe, lässt mich jetzt frieren.
„Der Brief kommt bestimmt bald. Vielleicht hängt er wegen dem Schnee noch in einem Nachbarort fest. Aber wieso schreibt ihr euch keine Mails oder telefoniert? Per Mail wärt ihr schneller, das wäre alles einfacher.“
Ich klettere vorsichtig über das kalte mit Schnee und Eis bedeckte Geländer. „Dad kann nicht mit mir sprechen. Er fühlt sich wegen allem was passiert ist schuldig. Ihm fehlen die Worte, außer wenn er sie schriftlich festhält. Klar könnten wir Mails schreiben, aber er weiß, wie gerne ich Handschriftliches habe und dass ich jeden Brief sorgfältig aufbewahre. Er hat mir jedes Jahr zum Feast of the Winter Star einen Terminplaner, bunte Notizzettel und Stifte geschenkt, damit ich meine Wochen planen kann.“
„Klingt, als wäre er sehr aufmerksam.“
„Ist er. Er war nie ein schlechter Dad, niemals. Durch den Alkohol wurde er aber oft laut. Es kam schon mal vor, dass er mich angeschrien hat und mir die Schuld für irgendetwas gegeben hat, aber ich hab ihm das nie übel genommen. Ich weiß, dass Dad krank ist.“
„Du warst nie wütend auf ihn?“, fragt Sebastian ungläubig nach.
„Nein, ich war nie wütend. Traurig, ja. Ich hab mich oft gekränkt, das stimmt auch, aber ich war nie wütend auf ihn. Ich weiß, dass er kein schlechter Mensch ist, niemand ist von Grund auf schlecht.“ Ich nehme meine Post an mich, Sebastian greift nach den Schaufeln. Mit meiner freien Hand öffne ich die Tür, wir betreten wieder das geheizte Haus.
„Ich könnte das nie. Ich wäre unendlich wütend auf meinen Dad.“
Ich zucke mit den Schultern. „Wir sind eben sehr unterschiedlich, Sebastian.“
„Ja, ist mir schon klar, aber wie machst du das? Wie kannst du ihm das nicht übel nehmen? Dein Dad hat dich vernachlässigt. Anstatt etwas zu Essen zu kaufen, hat er das Geld lieber versoffen. Das muss dich doch wütend machen“, fasst Sebastian ein wenig aufgeregt zusammen. „Das ist nicht nur naiv, das ist dumm. Du hättest es besser haben können. Du hättest es verdient, dass er dich besser behandelt. Eigentlich hätte man dich aus deinem Zuhause holen müssen.“
„Und wo wäre ich dann jetzt?“, frage ich, wobei ich ihm in die Augen sehe. „Ich bin fest davon überzeugt, dass Yoba für jeden von uns einen Plan hat. Der Plan für mich war vielleicht etwas unausgereift, aber ich bin hier. Vielleicht ist ja alles so gelaufen, damit ich dir gestern den Arsch retten konnte. Wer weiß das schon. Aber wichtig ist doch, dass ich zufrieden bin mit dem, was ich habe, oder nicht? Meine Erlebnisse haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.“
Sebastian schmunzelt. Ich weiß, dass er nicht viel von meinem Glauben hält, aber er gibt keinen abwertenden Kommentar oder einen blöden Spruch von sich.
„Entschuldige“, antwortet er ruhig. „Du bist nicht dumm, ich hätte das nicht sagen dürfen. Wir sehen die Welt nur anders, das hat nichts mit Dummheit zu tun. Es tut mir ehrlich leid, Ryan. Ich kann’s nur irgendwie nicht verstehen, das ist wohl alles.“
Seine Entschuldigung bringt mich wieder zum Lächeln. „Entschuldigung angenommen.“
Wir schlüpfen aus unseren Klamotten. Ich ziehe wieder einen bequemen Schlafanzug an und koche etwas Wasser für frischen Tee. Sebastian hingegen gibt sich mit schwarzem Kaffee zufrieden, auch jetzt verfeinere ich sein Getränk mit etwas Zimt.
Wir kuscheln uns zusammen auf die Couch, Sebastian ist wie so oft mit seinem Smartphone beschäftigt. Ich erhasche nur einen kurzen Blick auf sein Display, sieht so aus als würde er sich Fotos ansehen. Auf seinem Display ist das Bild einer roten Gitarre zu sehen.
„Kaufst du dir ein neues Instrument?“, frage ich neugierig.
„Nein, die gehört einem Kerl, den ich irgendwie süß finde. Aber er ist so peinlich… Er sieht so gut aus und hat schöne blaue Augen, ein geiles Sixpack… aber so einen hohlen Kopf.“
Ich schmunzle ein wenig, Sebastian zeigt mir ein Foto von besagtem Mann. „Ja weißt du, für Sex muss man nicht so schlau sein, Sebastian und er sieht aus als wäre er gut darin, Sex zu haben.“
„Wer weiß, was ich mir bei dem einfange, er hatte angeblich schon unendlich viele One Night Stands. Ich will nicht nur einmaligen Sex, ich will ein bisschen mehr.“
„Du willst zweimal Sex haben, richtig?“, scherze ich, was Sebastian dazu bringt den Kopf zu schütteln.
„Wie witzig du bist.“
„Du hast noch nie von deinen Vorlieben erzählt“, ändere ich die Richtung des Gespräches. „Jetzt weißt du, worauf ich stehe, ich fände es nur fair, wenn ich auch einen Einblick in deinen Kopf hätte.“
Sebastian lacht ein wenig. „Ich stehe auf Männer die mich zum Lachen bringen. Beim Sex ist es… ich bin anfangs ein bisschen vorsichtig, weil ich immer irgendwie Angst habe, ausgenutzt zu werden. Aber wenn ich Vertrauen gefasst habe, bin ich nicht mehr aufzuhalten.“
„Du bist nicht mehr aufzuhalten?“, frage ich belustigt. „Fällst du dann über die armen Männer her?“
„Was? Nein, nein“, antwortet er lachend. „Ich bin aufgeschlossen, ich brauche starkes Vertrauen, aber ich bin bereit verschiedenes auszuprobieren.“
„Verstehe“, antworte ich nickend. „Hast du zu diesem Internettypen Kontakt oder so?“
„Nein, ich stalke ihn nur ein bisschen… und die freizügigen Bilder helfen mir ein bisschen in meiner Fantasie.“ Sebastian zwinkert mir zu.
„Falls du für deine Fantasie ein wenig Freiraum brauchst, könnten wir getrennt schlafen. Wenn die Heizung im Schlafzimmer funktioniert, könnten wir uns aufteilen, ohne dass einer erfrieren muss.“
„Muss ich dafür auf das morgendliche wach kuscheln verzichten?“, fragt Sebastian neckisch. Ich schubse ihn lachend.
„Wenn du wach gekuschelt werden willst, dann werde ich dich wach kuscheln.“
„Find ich gut.“ Zufrieden lehne ich meinen Kopf an Sebastians Schulter. Er legt sein Smartphone weg, um anschließend tief durchzuatmen. „Hattest du heute nicht irgendwas vor?“
„Doch… aber es ist gerade soooo kuschelig. Ich muss mich wieder aufwärmen.“
Sebastian tätschelt meinen Oberschenkel. „Du bist wohl doch nicht so produktiv, wie du dachtest, was?“
„Der Winter ist noch lang und ich habe noch viel, viel Zeit bis zum Feast of the Winter Star. Außerdem ist das meine einzige Freizeit im ganzen Jahr.“
„Wenn du das sagst, Ryan. Bei mir musst du dich für Faulheit ganz und gar nicht entschuldigen. Pausen sind gut für’s Gehirn.“
Zufrieden genieße ich die Wärme, die Sebastian ausstrahlt. Es ist schön, den Winter doch nicht alleine verbringen zu müssen. Es gibt nichts Schöneres, als die kalte Jahreszeit mit jemandem unter einer Decke und mit wärmendem Tee zu überbrücken.
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