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Kapitel 24
Feast of the Winter Star
Teil 1: Zwischen Kummer und Freude
„Hallo Dad? … Ähm… Hier ist Ryan… Tut mir leid wegen ähm wegen der Funkstille… Ich war ein bisschen geschockt, als du mich angerufen hast. Du weißt schon… Unser letztes Gespräch war… Entschuldige, ich bin immer noch ein wenig nervös. Ruf mich zurück, wenn du das abgehört hast. Falls wir uns nicht mehr hören, wünsche ich dir ein schönes Fest. Ich hab dich lieb. … Oh und… pass auf dich auf, ich mache mir Sorgen. Ich hab dich lieb, sehr sogar. Bye.“
…
Der Morgen des Festivals beginnt bereits damit, dass ich nicht sonderlich motiviert bin, aus dem Bett zu steigen. Dad geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wahrscheinlich liegt er betrunken auf der Couch. Könnte aber auch sein, dass er die Treppen runtergefallen ist…
Nicht zu wissen, was mit ihm los ist, bringt mich wieder zum Schluchzen. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, immer wieder habe ich Sebastian auch Sebastians Schlaf gestört, weil ich meine Tränen nicht für mich behalten konnte.
Mittlerweile ist der Tag angebrochen, mein Freund ist wach und versucht alles, um mich ein wenig zu trösten. Mein Kopf liegt in Sebastians Schoß. Mein Freund streicht durch meine Haare. Abgesehen von meinem Schluchzen ist es still im Raum. Keine festliche Musik, kein winterlicher Duft, keine Kerzen. Die gesamte Atmosphäre ist irgendwie kalt und alles andere als festlich. Die Sterne, die ich für die Fenster meines Schlafzimmers gekauft habe, sind durch den Timer bereits wieder erloschen.
Es ist, wie es immer war. Mein Dad ruiniert meine Feiertage. Ich werde niemals in den Genuss kommen, das Feast of the Winter Star ausgelassen feiern zu können. Ich will eigentlich auch gar nicht mehr. Es ist doch sowieso blöd… Familienfest… Ich hab ja nicht mal eine richtige Familie… Ich geb’s auf… Nächstes Jahr schafft das Festival es nicht einmal mehr auf To-Do-Liste. Ich bin ja doch nur immer wieder enttäuscht.
„Er meldet sich bestimmt bald…“
„Nein“, antworte ich kratzig. „Wahrscheinlich ist er an seinem eigenen Erbrochenem erstickt, weil ich nicht da war, um ihm zu helfen…“
„Sag das nicht, bitte.“
„Und wenn es so ist?“ Ich schluchze. „Ich hab meinen Dad umgebracht… weil ich Angst hatte… und-und nicht mit ihm gesprochen habe“, schnauze ich Sebastian fast schon an. Schon in der Sekunde als ich ausgesprochen habe, tut mir mein Tonfall leid.
„Ryan…“
Ich schluchze erneut. Das alles ist zu schwer für mich, ich kann die Last nicht mehr tragen. Meine Finger verkrampfen sich, als ich mich an der weichen Decke in meinem Arm festhalte. Ich hab meinen Dad umgebracht.
„Weißt du was? Gib mir deine alte Adresse. Ich wähle den Notruf und erkläre, was los ist. Klingt hart, aber die Selbstmordrate schnellt zu den Festtagen in die Höhe. Die werden das ernstnehmen und nach deinem Dad sehen. Wenn er wirklich hingefallen ist, dann finden sie ihn. Wenn er noch nicht lange am Boden liegt, dann können sie ihm helfen.“
Ich setze mich auf, schnappe dabei aufgeregt nach Luft. Das ständige Weinen hat dafür gesorgt, dass mein Gesicht verquollen ist. Ich bekomme vor Aufregung fast keine Luft mehr, meine Nase ist verstopft.
Sebastian steht auf und bringt mir von meinem Schreibtisch Stift und Papier. Zittrig notiere ich ihm die Adresse und den vollen Namen meines Dads. Mein Freund gibt mir einen Kuss auf die Wange. Er legt mir eine Decke um die Schultern und drückt mich. „Ich rufe da an und sie sehen nach deinem Dad. Es wird alles gut, Ryan. Es wird alles gut, versprochen.“
„Ich glaube dir nicht“, antworte ich leise, breche dabei schon wieder in Tränen aus.
Ich will zu meinem Dad!
Ich weiß ganz genau, dass ihm etwas passiert ist!
Und ich hab es nicht verhindert!
Sebastian geht zum Telefonieren in die Küche. Mit einem Taschentuch trockne ich meine Tränen. Ich putze meine Nase, wie schon die ganze Nacht lang. Meine Haut ist bereits rau und brennt durch das Salz meiner Tränen. Wahrscheinlich sehe ich mindestens so furchtbar aus, wie ich mich fühle.
Ich hebe meinen Kopf, als ich ein Geräusch wahrnehme. An meinem Nachttisch rührt sich etwas, mein Smartphone läutet. Im ersten Moment realisiere ich gar nicht richtig, dass es sich um meinen Klingelton handelt. Müde greife ich zu meinem Nachttisch. Ich wische mir über die Augen, da ich vor Tränen gar nichts lesen kann.
Dad.
Wie beim letzten Mal bleibt mir die Luft weg.
„Sebastian!“, drücke ich angestrengt heraus.
Eilig öffnet mein Freund die Tür. „Alles okay?“
„Er-Er ruft mich an“, schluchze ich
„Entschuldigen Sie… Er ruft gerade an, aber danke für ihre Mühe. Ein schönes Fest wünsche ich noch“, spricht Sebastian ruhig in sein Smartphone. Er legt auf und kommt auf mich zu.
Ich schaffe es nicht, ranzugehen. Sebastian wischt über mein Smartphonedisplay, um den Anruf anzunehmen, außerdem hält er mir das Gerät an mein Ohr. Ich bin ihm dankbar für diese Hilfe.
„Ryan?“
„H-Hi Dad“, begrüße ich ihn schluchzend. „Yoba sei Dank, dir geht es gut.“
Die Erleichterung bricht auf mich herein, ich beginne erneut bitterlich zu weinen. Sebastian ist für mich da, er nimmt mich fest in den Arm und gibt mir den Halt, den ich im Moment brauche.
„Dad, es-es tut mir so leid.“
„Ryan. Hey, beruhig dich. Was ist passiert? Bist du okay?“
„Mhm. Aber-aber ich dachte-ich dachte, dass dir etwas passiert ist. Du hast angerufen und ich bin nicht rangegangen und dann-und dann hast du-hast du nicht mehr angerufen und ich-ich-ich hatte Angst, dass…“
„Sch… Beruhig dich, Ryan. Es ist alles in bester Ordnung. Ich hab mein Handy bei unserer Nachbarin vergessen. Ich hab ihr den Weg zum Haus und die Einfahrt freigeschaufelt, es hat ein wenig mehr geschneit als in den letzten Jahren. Sie hat mich daraufhin zu Kaffee und Keksen eingeladen und da habe ich es wohl liegen gelassen. Aber genug von mir… Atme mal durch, du bekommst ja gar keine Luft.“ Ich schluchze. Sebastian reicht mir ein neues Taschentuch, sodass ich meine Nase putzen kann. „Ist sonst alles okay bei dir? Entschuldige, dass ich dir Angst gemacht habe, das wollte ich nicht. Ein Anruf ist ein wenig untypisch… Ich hätte wissen müssen, dass dich das beunruhigt… Vielleicht hätte ich dir lieber eine Nachricht schicken sollen.“
„Es-Es ist okay“, antworte ich ein wenig beherrschter. Dads Stimme zu hören und zu wissen, dass es ihm gut geht hilft mir, wieder runter zu kommen. Ich bin froh, dass ihm nichts passiert ist.
„Klingt noch nicht ganz überzeugend. Ich hab eure Karte bekommen. Sebastian und du seid ein hübsches Paar. Euer Foto steht schon auf dem Kaminsims. Daneben habe ich ein kleines Teelichthaus gestellt und eine Kerze angezündet.“
„Das zu sehen würde mir gefallen“, antworte ich leise.
Ich kann das Schmunzeln in Dads Stimme hören, als er weiter spricht: „Wenn mein Sohn sich nicht so gegen Technik wehren würde, würde ich ihm ein Foto schicken.“
„Das… kannst du machen, aber nur wenn du mir trotzdem Briefe schreibst. Ich lese sie immer wieder, wenn ich dich vermisse. Deine Briefe sind mir sehr wichtig, Dad.“
„Und deine Briefe sind das wichtigste, was ich habe, abgesehen von dir, Ryan. Du… fehlst mir. Du fehlst mir wirklich sehr… Vielleicht könnten wir… im nächsten Jahr zusammen feiern? Wenn du das nicht möchtest, weil unsere gemeinsamen Festtage nie so waren, wie sie sein sollten, dann verstehe ich das, aber ich würde mich freuen, wenn du mir noch eine Chance gibst.“
Ich nicke, auch wenn ich weiß, dass er mich nicht sehen kann. „Das fände ich schön, aber ich will dich früher zu Gesicht bekommen, Dad. Ein Jahr ist zu lange, viel zu lange.“
Sebastian macht es sich etwas bequemer, doch er zieht mich gleich wieder in seine Arme. Ich lehne mich an ihn, er küsst liebevoll meine Schläfe und streichelt meinen Bauch.
„Ich würde dich gerne einladen… Ich hab leider kein Gästezimmer, aber du kannst mein Bett nehmen“, fahre ich fort.
„Die Couch ist in Ordnung. Du und Sebastian braucht den Platz zum Kuscheln“, versichert Dad mir. „Vielleicht finde ich im Frühling über ein verlängertes Wochenende Zeit. Vorausgesetzt ich darf Bubbles mitnehmen.“
„Bubbles?“, frage ich neugierig. „Wer ist Bubbles?“
„Deswegen habe ich dich angerufen. Ich wollte dir Bubbles vorstellen. In den letzten Monaten habe ich ein wenig Gewicht zugelegt, deswegen habe ich vor ein paar Tagen einen Hund aus dem Tierheim adoptiert. Bubbles wird dir gefallen. Er ist sehr aufgeweckt und frech.“
„Awww, du hast einen Hund und du hast ihn Bubbles genannt? Natürlich darfst du ihn mitnehmen. Dad, du musst mir ein Foto schicken, schick mir ganz viele Fotos, aber auch welche per Brief, dann kann ich sie an meine Pinnwand neben meinem Schreibtisch hängen. Das ist so toll, ich freue mich für dich Dad.“ Ich bin sicher, dass ihm die tägliche Routine gut tun wird, die ein Hund braucht.
„Jetzt klingst du wieder wie der gut gelaunte Ryan, den ich kenne“, antwortet Dad. Auch Sebastian lächelt wieder. Er wirkt erleichtert.
„Naja… in den letzten Stunden war ich es nicht unbedingt. Ich…“ Ich seufze. „Dad, es tut mir leid, was ich vor ein paar Monaten zu dir gesagt habe. Ich war wütend und-“
„Es ist in Ordnung. Ich war nicht immer gut zu dir, Ryan. Ich kann mich glücklich schätzen, dass du so bist, wie du bist. Andere Kinder hätten einen Vater wie mich längst aus ihrem Leben ausgeschlossen. Alles, was du gesagt hast, war gerechtfertigt. Ich habe viel falsch gemacht und ich möchte, dass du weißt, dass ich froh bin, dich zu haben. Ohne dich hätte ich nie meinen Arsch hochbekommen und wäre nie in die Klinik gegangen, um einen Entzug zu machen. Ich verdanke dir mein Leben. Du motivierst mich jeden Tag dazu, dass ich mich bessere und am Ball bleibe. Ich liebe dich, Ryan.“
„Ich liebe dich auch, Dad. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen…“
„Wenn jemand ein schlechtes Gewissen haben sollte, dann bin ich es, okay? Ryan, glaub mir, es ist alles in Ordnung. Ich bin überglücklich, dass du mir schreibst und dass ich gerade deine Stimme hören kann, ist das Highlight meines Jahres. Sag mal, hast du schon deine Geschenke geöffnet?“
„Nein, noch nicht. Sebastian und ich sind noch im Bett.“
„Oh… Ich störe euch doch nicht, oder?“, fragt Dad überrascht nach.
„Nein, es ist gut, dass du anrufst. Ich hatte Angst, dass dir etwas passiert ist und… hab geweint und ja… Danke, dass du anrufst, das rettet meinen Tag. Wenn ich nicht wüsste, dass es dir gut geht, würde ich den ganzen Tag im Bett liegen und heulen. Sebastian hatte schon den Notruf am Ohr, um jemanden zu schicken, der nach dir sieht.“
„Oh, das tut mir leid. Entschuldige. Wie gesagt, ich hab mein Handy liegen lassen.“ Im Hintergrund höre ich einen Hund bellen. Das muss Bubbles sein. „Bubbles, warte kurz. Ich bin gleich bereit für deine Runde. Ryan? Stört es dich, wenn ich mich später melde? Ich schicke dir als Ausgleich auch ein Video von Bubbles.“
„Na das ist mal ein Grund, einen Anruf zu beenden. Knuddel Bubbles ganz doll und gib ihm viele, viele Küsse von mir, ja?“
„Unbedingt“, antwortet Dad freudig. „Komm Bubbles, ab in den Hundepark. Bis später, Ryan. Ich wünsche dir und deinem Freund ein schönes Fest und macht es euch gemütlich. Gebt dem Stress keine Chance.“
„Stress hat keine Chance bei uns“, antworte ich mit einem zufriedenen Lächeln. „Wir werden jetzt unsere Geschenke austauschen und dann kuscheln. Heute Abend geht’s dann ab in die Stadt zum Festival. Ich erzähle dir alles in meinem nächsten Brief.“
„Na dann freue ich mich gleich umso mehr. Ich kann’s gar nicht oft genug sagen: Ich liebe dich, Ryan. Sei schön brav.“
Ich kichere. „Ich liebe dich auch, Dad und Bubbles auch, auch wenn ich ihn noch nicht gesehen habe.“
„Ich werde es ihm ausrichten. Bis dann.“
„Bis dann, Dad.“
Bevor der Abschied sich noch ewig hinzieht, legt Dad auf. Erleichtert stürze ich mich auf Sebastian. Ich drücke ihn so sehr, dass ihm bestimmt die Luft wegbleibt.
„Au… du brichst mir die Knochen, Ryan.“
„Entschuldige, aber ich bin gerade so erleichtert. Es ist als wäre die ganze Welt wieder in Ordnung und alles ist wieder gut. Mein Dad ist glücklich, er knüpft wieder Kontakte außerhalb der Arbeit und er hat jetzt einen Hund. Und er hat gesagt, dass er nächstes Jahr gerne mit mir feiern möchte. Jetzt wo er nicht mehr trinkt könnten wir endlich das Fest haben, das wir immer haben sollten.“
„Ich glaube, ich ersticke. Du bist wie eine Würgeschlage.“
Ich löse meinen festen Griff, kuschle mich aber dann gleich an seine Brust. „Danke, dass du mir gesagt hast, dass alles gut wird und ich hab dir nicht geglaubt. Du hattest Recht.“
Sebastian atmet tief durch. „Ah… Luft. Danke.“ Er streichelt meinen Kopf. „Ich bin froh, dass du nicht mehr weinst. Dass du traurig bist, macht mich ganz fertig.“
„Jetzt bin ich wieder happy“, beruhige ich meinen Freund. Ich streichle seine Brust und ernte für meine ausgesäte Liebe einen Kuss auf den Kopf.
„Also, mein süßer Happy-Ryan. Du solltest dir das Salz von deinen Wangen waschen und dann mit mir ins Wohnzimmer gehen. Dein Geschenk liegt schon unter dem Baum.“
„Hast du schon in eine deiner Tüten gelinst?“, frage ich nach.
„Nein? Im Gegensatz zu dir kann ich es ertragen, wenn ein Geheimnis vor mir liegt und bereit ist, entdeckt zu werden“, antwortet Sebastian, verpasst mir dabei aber gleich einen frechen Seitenhieb.
„Entschuldige, dass ich mir meine kindliche Seele erhalten habe.“
„Du bist eine neugierige Nase, das ist alles“, antwortet mein Freund.
Er stupst mir ein wenig in die Seite, da er mich damit jedoch kitzelt, schnelle ich hoch. „Hey. Nicht kitzeln.“
„Geh dir dein Gesicht waschen. Es ist Zeit für Geschenke.“
„Okay.“
Nach einem Kuss gehe ich hinüber ins Badezimmer. Um dorthin zu gelangen, muss ich natürlich an unserem Baum vorbei. Unter dem Baum liegen bereits die Geschenke von meinem Dad und auch ein Päckchen, das ich von meinem Freund bekommen habe. Natürlich stehen auch meine Geschenke für Sebastian unter dem Baum.
Ich frage mich, was Sebastian mir wohl schenken wird. Sebastian war die ganze Zeit bei mir, also kann er nichts gekauft haben. Wenn er etwas gebastelt hat, muss er die Zeit genutzt haben, die ich alleine in der Wanne war oder mit der Fertigung seines Geschenkes verbracht habe.
Im Badezimmer erschrecke ich ein bisschen, als ich mein Gesicht im Spiegel betrachte. Ich sehe müde aus. Ich bin im Prinzip müde. Sehr müde. Meine Augen sind durch die vielen Tränen, die ich in den letzten Stunden geweint habe, rot und geschwollen. Meine Nase ist durch das viele Nase putzen rot und brennt nach wie vor ein wenig.
Ich hätte mir das alles sparen können, wenn ich gleich den Mut gehabt hätte, Dads Anruf entgegen zu nehmen. Vielleicht sollte ich daraus lernen. Für die Zukunft sollte ich daraus lernen, dass ich mich gleich meinen Ängsten stellen sollte. Falls ich Probleme bekomme, kann ich bestimmt mit Sebastians Hilfe und Unterstützung rechnen.
Mit etwas kaltem Wasser wasche ich mir das Gesicht. Die Kälte ist angenehm auf meinen geschwollenen Augenlidern. Eigentlich sollte ich eine Dusche nehmen, doch im Moment sind die Geschenke spannender für mich. Ich trockne mein Gesicht und creme die gereizte Haut an meinen Nasenflügeln mit etwas Wundcreme ein. Hoffentlich geht es meiner Nase bald wieder besser, dieses Brennen ist unangenehm und falls Sebastian Fotos schießen möchte, würde ich aussehen wie ein Rentier mit roter Nase.
„Kommst du?“
„Bin schon fertig“, antworte ich meinem Freund. Ich greife nach Sebastians Hand und wir setzen uns zusammen vor den Baum. Mein Freund hat bereits für die richtige Stimmung gesorgt, die Lichterketten erhellen das Zimmer und er hat wieder leise Musik aufgelegt.
„Du solltest deine Geschenke zuerst ansehen“, bitte ich meinen Freund vorfreudig.
„Gegenvorschlag: Ich sehe mir die erste Tüte an, dann öffnest du mein Geschenk an dich und dann sehe ich in die zweite Tüte. Danach sind die Geschenke von deinem Dad dran.“
„Ja gut, damit kann ich leben“, nehme ich Sebastians Vorschlag an.
Sebastian greift nach der kleineren Tüte. Was sich darin befindet, ist ihm wahrscheinlich schon klar, trotzdem wirkt er sehr neugierig, als er hineinblickt.
„Awww ein Lippenbalsam mit Bananengeschmack“, freut Sebastian sich ehrlich, als er den Lipstick aus der Tüte zieht. „Also das habe ich nicht erwartet.“
„Nachdem ich dir meinen halbleeren Lippenbalsam geliehen habe, dachte ich, dass du vielleicht deinen eigenen haben möchtest.“
„Joke’s on you, du bekommst den anderen trotzdem nicht zurück“, antwortet Sebastian frech. „Ich steh total auf den Bananengeruch unter meiner Nase.“
„Ist okay, ich dachte ohnehin nicht, dass ich ihn wiederbekomme.“
„Nett, dass du trotzdem das Wort ‚borgen‘ genutzt hast, als ob ich ihn dir nicht geklaut hätte.“ Er greift erneut in die Tüte. Als er seine Faust öffnet, findet er die Armbänder, die ich gestern Abend während dem Fernsehen geknüpft habe. Auch wenn ich sie einige Male an seinem Handgelenk angehalten habe, um zu sehen, dass die Größe auch sicher passt, hat er brav weggesehen und so getan, als wäre nichts passiert.
Eines der Armbänder ist in schlichtem Schwarz gehalten, damit Sebastians System nicht vollkommen überfordert wird. Das zweite ist Schwarz und in Regenbogenfarben, damit seine Seele sich langsam daran gewöhnt. Das dritte Armband bricht alle Grenzen, es ist ganz und gar in Regenbogenfarben.
Mit einer wortlosen Geste bittet er mich, sie ihm anzulegen. Kaum trägt er die Armbänder an seinem Handgelenk, beugt er sich zu mir, um mir einen sanften Kuss zu geben.
„Danke, ich werde sie ewig tragen, versprochen, aber jetzt bist du dran, Ryan.“
Sebastian reicht mir sein Geschenk. Er hat sein Geschenk in Zeitungspapier eingepackt. Schlaue Idee, so hat er mich nicht nach Geschenkpapier fragen müssen. Sonst ist es schmucklos, es befindet sich keine Schleife, Karte und auch kein kleineres Kärtchen an dem Geschenk. Ich öffne es neugierig.
„Ein Notizbuch?“, frage ich verwirrt.
„Ja und nein“, antwortet Sebastian mit einem Lächeln.
„Kapier ich nicht.“ Das Notizbuch ist genauso schmucklos wie das Geschenk an sich. Seltsam. Ich hab gehofft, dass er sich ein bisschen mehr Mühe gibt.
„Öffne es, du ahnungsloser Keks.“
Ich schlage die erste Seite auf.
Wenn aus Freundschaft Liebe wird, dann findet man seinen Seelenverwandten.
Ich liebe dich, Ryan.
Sebastian
„Das ist ja süß.“ Ich sehe zu meinem Freund.
Mit einem Lächeln auf den Lippen deutet er auf das Notizbuch: „Weiter blättern.“
„Oh, da ist noch mehr?“
„Ja“, antwortet Sebastian. „Ich hoffe es gefällt dir.“
Ich blättere auf die nächste Seite. Das weiße Papier ist erstaunlich dick und robust. Es ist wohl eher ein kleines Skizzenbuch, als ein Notizbuch. Sebastians Geschenk schickt mich auf eine kleine Zeitreise.
Als ich dich das erste Mal am See getroffen habe, warst du noch der seltsame Neue mit dem noch seltsameren Modegeschmack, doch dann haben wir uns näher kennengelernt…
Unter dem Text ist eine kleine Skizze von einem Seeufer. Auf einem Stein sitzt ein kleiner Frosch, außerdem schwirrt eine Libelle über dem Wasser. Auch an Schilf und einige Seerosenblätter hat Sebastian gedacht, um der Zeichnung ein wenig Leben zu verleihen. Auf der nächsten Seite geht es weiter.
...und zwar am Tag des Egg Festivals. Eigentlich wollte ich gar nicht aufkreuzen, weil ich kein Fan von Eiern bin, doch ich habe mich mal wieder breit schlagen lassen. Wenn ich gewusst hätte, dass ich auf jemanden treffe, mit dem ich mich so gut unterhalten kann, hätte ich mich schon morgens auf das Event gefreut. Falls du einen deutlichen Tipp brauchst: Dieser ‚Jemand‘ warst natürlich du, Ryan.
Ich kichere, als ich einen gezeichneten kleinen Sebastian erblicke. In einer Denkblase über seinem Kopf ist ein durchgestrichenes Ei abgebildet. Der kleine Sebastian verschränkt die Arme, seine Mundwinkel zeigen nach unten. Er ist nicht glücklich darüber, dass er zu dem Festival gehen muss. Ein paar Zentimeter daneben hat Sebastian noch einen kleinen Ryan gezeichnet. Seine Mundwinkel sind nach oben gerichtet, auch die Augen sehen sehr glücklich aus. In meiner Denkblase befinden sich ein buntes Ei und ein Herz. Der kleine Ryan freut sich offensichtlich auf das Event.
Auf die Seite daneben hat Sebastian zwei Fotos geklebt. Ein Gruppenfoto zeigt Sebastian und mich zusammen mit unseren Freunden Sam und Abigail. Wir haben uns Gegenseitig Blumen ins Haar gesteckt, die wir von der Deko in der Stadt geklaut haben. Darunter klebt unser erstes gemeinsames Selfie. Mein Lächeln ist viel breiter als das von Sebastian, doch er sieht nicht unglücklich aus.
Ich streiche über das Foto. „Du hast dir ja echt viel Mühe gegeben. Das ist so süß, Sebastian. So romantisch hätte ich dich gar nicht eingeschätzt.“
„Stille Wasser sind eben tief“, antwortet er schmunzelnd.
Für seine freche Antwort gebe ich ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich habe echt großes Glück mit dir, Sebastian.“ Meine Reise in das vergangene Jahr geht weiter.
Je heißer es wurde, desto geringer wurde unser Kontakt. Deine Pflanzen brauchten mehr Pflege und ich habe mich zurückgezogen, um mich meiner Arbeit zu widmen und vor dem Wetter zu fliehen. Ab und zu habe ich mich dazu durchgerungen mit euch Verrückten an den Strand zu gehen. Ich muss zugeben, dass ich es nicht bereut habe, tagsüber war die Hitze zwar kaum zu ertragen, aber die Nächte am Lagerfeuer haben mein Leiden wieder ausgeglichen. Mit dir zu sprechen und in deiner Nähe zu sein wurde für mich immer interessanter.
Auf der linken Doppelseite klebt ein weiteres Gruppenfoto, auf der rechten Seite steht der Text, darunter hat Sebastian eine blaue Muschel gezeichnet. Auf der nächsten Seite erwarten mich wieder einige Fotos, nicht nur von unserer Gruppe, nein Sebastian hat auch ein Foto von mir und einem Eis ausgesucht. Mit breitem Grinsen präsentiere ich meine Eistüte. Passend zum Strand trage ich eine bunte Badehose und habe eine Sonnenbrille auf den Augen.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich mich auf diese Auszeiten gefreut habe. In der prallen Sonne zu arbeiten war schlicht nicht möglich. Außer Routinearbeit und Unkrautjäten am frühen Morgen habe ich im Sommer nicht viel geschafft.
Auf den nächsten Seiten finden sich immer wieder Fotos und kleine Zeichnungen zum Thema Strand. Eine Sandburg, ein Eis mit bunten Kugeln und auch ein Seestern bieten ein bisschen Abwechslung zu albernen Selfies und meinem breiten Grinsen.
Und schon kommen wir im Herbst an. Sebastian hat ein Foto von sich und meiner Vogelscheuche eingeklebt. Sein Blick richtet sich in Richtung Felder. Mich sieht man nur klein im Hintergrund.
Das Foto hat Sam gemacht, ohne mich darauf aufmerksam zu machen. Ich fand es irgendwie cool, da es so ein natürlicher Schnappschuss geworden ist und ich nachdenklich und tiefgründig aussehe. Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass ich in genau diesem Moment über dich nachgedacht habe.
Ein großer, gezeichneter Kürbis ist neben einem kleinen, überraschten Ryan abgebildet. In einer Sprechblase steht ‚Oh Yoba!‘ geschrieben. Ich habe nicht erwartet, dass ich wirklich so einen großen Kürbis züchten könnte. Die Wetterbedingungen im Herbst waren perfekt für Kürbisse.
Am Tag danach habe ich dich das erste Mal alleine besucht. Ganz von mir aus, einfach so, weil ich in deiner Nähe sein wollte. Ich weiß noch, wie ich den Waldweg entlang gelaufen bin und immer wieder darüber nachgedacht habe, wie ich dich begrüße und was ich am besten zu dir sage. Ich hatte Angst, dass du dahinter kommst, dass ich dich anziehend finde, doch glücklicherweise hat deine Naivität dafür gesorgt, dass du meine Gefühle für dich erst einmal nicht erkennst. Das hat mir Zeit gegeben, dich noch näher kennenzulernen und mehr über dich und deine Persönlichkeit in Erfahrung zu bringen.
Ich blättere um, sehe dann zu Sebastian hoch, der mich anlächelt. „Du sagst nichts mehr. Ist das ein gutes Zeichen?“, fragt er nach.
„Ich bin gerührt. Ich bin mehr als gerührt, ich bin… Keine Ahnung, das ist so ein nettes, gut durchdachtes Geschenk. Jetzt kommen mir meine Geschenke so klein und unbedeutend vor.“
Mein Freund greift nach meiner Hand. Er hebt sie an und küsst meinen Handrücken. „Es ist okay. Ich liebe dich und wir sind hier nicht in einem Wettkampf. Es geht nicht darum, wer das bessere Geschenk hat, sondern darum, dass wir aneinander gedacht haben. Außerdem war das alles ja kurzfristig.“
„Das macht dein Geschenk noch beeindruckender“, antworte ich.
Sebastian blättert für mich um. Mein Blick senkt sich automatisch auf das nächste Foto. Es handelt sich um ein Bild von mir und meinem riesigen Kürbis. Es ist dasselbe Bild, das auch bei Dad auf dem Schreibtisch in seinem Büro steht.
Neben meinem Foto hat mein Freund wieder einen kleinen Sebastian gezeichnet. In einer Denkblase, die über seinem Kopf schwebt sind ein rotes Herz und ein Fragezeichen. Darunter ist ein weiterer Sebastian, neben ihm steht ein kleiner Ryan, der glücklich einen Kürbis in seinen Händen hält. Der zweite kleine Sebastian hat wieder eine Denkblase über seinem Kopf, sein Blick ist zu dem kleinen Ryan gerichtet. Das Fragezeichen ist nun durch ein dickes Rufzeichen ersetzt. Die niedlichen Zeichnungen erinnern mich daran, wie ahnungslos ich eigentlich bin. Ich hab es einfach nicht gemerkt, dass Sebastian schon länger Gefühle für mich hat.
Zu dem Zeitpunkt war ich mir meiner Gefühle für dich mehr als bewusst. Ich musste jeden Tag an dich denken. Immer wieder habe ich mir unsere Selfies angesehen und darüber nachgedacht, wie ich den ersten Schritt machen sollte. Jetzt im Nachhinein denke ich, dass der Streit, der mich im darauffolgenden Winter aus dem Haus geekelt hat, ein Wink des Schicksals war.
Die nächste Doppelseite besteht aus einer Zeichnung die den gesamten Platz einnimmt. Ein trauriger Sebastian steht auf einem mit Schnee bedeckten Bahnhof. Sebastian hat an einige Details gedacht. Graffiti an der Wand, schneebedeckte Büsche und Bäume runden die Zeichnung am Rand ab. Auf der Anzeigetafel über dem kleinen Sebastian steht das Wort ‚CANCELLED‘.
Einmal umblättern enthüllt einen kleinen Comic. Sebastian hat unsere Begegnung nach dem Telefonat festgehalten. Auf dem ersten Bild stapft ein einsamer Sebastian durch den Schnee, auf dem zweiten bin ich zu sehen, wie ich ihm entgegen komme. Das dritte Bild zeigt, wie sich die Comic-Versionen von uns umarmen und das Vierte erzählt davon, wie wir nebeneinander nach Hause gehen.
Auf der nächsten Seite erblicke ich eine Skizze von meinem Farmhaus, davor stehen Sebastian und ich, gleich daneben gibt es wieder etwas zu lesen.
Du hast mich aufgenommen, als ich dich am dringendsten gebraucht habe. Du hast keine Sekunde gezögert, um für mich durch den überwältigenden Schnee zu stapfen. Du hast mich ohne Gegenleistung eingeladen, so lange bei dir zu bleiben wie ich möchte. Ich möchte meine Antwort auf dieses Angebot noch einmal erneuern: Ich will für immer bei dir bleiben, Ryan. Ich liebe dich, wie ich noch nie jemanden geliebt habe.
Die darauffolgenden Seiten zeigen einige der Fotos, die wir in den letzten Tagen zusammen aufgenommen haben. Einige Fotos in den kitschigen Winterpullovern, unsere Selfies von draußen, ein Bild von unserem doppelköpfigen Snowgoon, das Foto von mir, wie ich im tiefen Schnee stecke, als ich die Post geholt habe und zu guter Letzt ein Selfie auf dem wir uns küssen. Es ist dasselbe Bild, das ich für die Karte gewählt habe. Sieht so aus als würde es meinem Freund genauso gut gefallen wie mir.
Ich würde mir wünschen, dass wir noch viel zusammen erleben und dass wir dieses kleine Album und noch viele weitere Alben zusammen füllen. Mit Fotos, mit Zeichnungen, mit Erinnerungen und mit Liebe.
Happy Feast of the Winter Star, Ryan.
Ich liebe dich
Sebastian
Als ich ein letztes Mal umblättere sind die Seiten leer, doch ich bin sicher, dass wir sie gemeinsam füllen werden. Ich kann es kaum erwarten, unsere Geschichte weiterzuerzählen.
Ich bin so überwältigt von diesem Geschenk, dass ich es zur Seite lege und meinen Freund einfach nur anspringe, um ihn zu küssen.
„Ich liebe dich auch und zwar sehr“, schluchze ich gerührt.
„Oh nein, du weinst? Das wollte ich nicht.“
„Freudentränen, es sind Freudentränen“, beruhige ich meinen Freund.
Ich bleibe auf Sebastians Schoß sitzen. Er wischt über meine Wange und gibt mir einen sanften Kuss. Er schlingt einen Arm um mich, mit dem anderen zieht er die nächste Geschenktüte zu sich. Er fischt erst meine Karte hinaus, schon als er das Foto sieht, lächelt er. Ich bekomme einen Kuss auf die Wange.
„Deine Art Karten zu basteln, ist niedlicher als niedlich. Ich liebe die kleinen Details.“ Er öffnet die Karte und beginnt zu lesen.
Sebastian,
unser erstes, gemeinsames Feast of the Winter Star, so schnell kann es gehen. An dem einen Tag lädt man einen Freund in Not in sein Heim ein und schon wenig später kann man sich nicht mehr vorstellen, ihn wieder gehen zu lassen.
So ist es bei dir: Ich möchte dich nie wieder gehen lassen, Sebastian. Hoffentlich werden auf dieses Fest noch viele weitere Gründe folgen, um zusammen zu feiern. Wenn es nach mir geht, hätte ich jeden Tag einen Grund, mich zu freuen, weil ich weiß, dass ich morgens neben dir aufwache und abends mit dir zusammen einschlafe.
Ich freue mich auf den Rest unseres Lebens
Ich liebe dich
Ryan
Sebastian lässt die Karte sinken, als er die Mütze aus der Tüte zieht, betrachtet er sie mit einem Lächeln. Ich nehme sie ihm ab und setze sie auf seinen Kopf. Sie passt perfekt, so wie unsere Lippen perfekt aneinander passen.
Sebastian verwickelt mich in einen Kuss, den ich glücklich erwidere. Ich schlinge meine Arme um Sebastians Hals, er legt seine Arme um meine Hüfte. Der Kuss wird immer intensiver. Ich lehne mich gegen den Oberkörper meines Freundes, sodass er nachgibt und ich schließlich auf ihm liege.
Der grauenhafte Morgen entwickelt sich zu einem sehr angenehmen Tag. Ich könnte mich nicht glücklicher schätzen.
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