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Kapitel 23
Fußspuren im Schnee
Geschafft!
Ich hatte schon Angst, dass ich nicht rechtzeitig fertig werde. Morgen ist das Feast of the Winter Star und ich bin mit meinem Geschenk doch noch rechtzeitig fertig geworden. Nach langem hin und her denken ob ich es doch schaffe, einen Pullover zu stricken oder nicht, habe ich mich dazu entschieden, ein kleineres Kleidungsstück zu wählen. In den letzten Tagen war so viel los, sodass ich den Pullover erst einmal aufgeschoben und mich einer anderen Idee gewidmet habe.
Mein Freund und ich haben den Night Market besucht, wir waren öfter draußen, haben Schneemänner - oder besser gesagt doppelköpfige Snowgoons - gebaut, uns mit einem Iglu einen kleinen Zufluchtsort geschaffen, waren Schlittschuh laufen und Schlitten fahren. Bis jetzt ist der Winter sehr märchenhaft gewesen, auch wenn der gestrige Tag meiner Fröhlichkeit einen kleinen Dämpfer gebracht hat.
Ich konzentriere mich lieber auf morgen, anstatt mich weiterhin mit den gestrigen deprimierenden Gedanken zu beschäftigen. Wie auch immer!
Sebastian bekommt von mir eine neue Mütze, natürlich in kuscheligem, schwarzem Schwarz, so wie er es gerne hat. Damit seine neue Kopfbedeckung nicht ganz so schmucklos ist, habe ich sogar einen kleinen Bommel gefertigt und an der Mütze befestigt. Eigentlich wollte ich noch ein Paar Wollsocken für meinen Freund stricken, aber die Zeit hat einfach nicht mehr gereicht. Eine wäre zwar fertig, doch Sebastian hat zwei Füße, die gewärmt werden müssen.
Ich verstaue Sebastians Wollmütze in einer festlichen Tüte. Natürlich bastle ich ihm auch eine Karte. Immer wieder blicke ich über meine Schulter nach hinten, um nachzusehen, ob mein Freund noch schläft und das tut er auch. Er ist noch im Land der Träume. Abgesehen von seinem Fuß, der aus der Decke sieht und seinen wuscheligen Haaren ist von ihm nichts zu sehen. Er besteht im Moment zu 90 Prozent aus Decke.
Das Feuer im Kamin brennt bereits, sodass es im Haus kuschelig warm ist, meiner Bastelsession steht also nichts mehr im Wege.
Ich wähle einen roten Papierbogen, rot wie die Liebe, außerdem habe ich mir ein Selfie von Sebastian und mir ausgesucht und es bereits vorab ausgedruckt.
Ich nehme das Foto zur Hand. Mit einem unwillkürlichen Lächeln betrachte ich es. Ich kann mein Glück nicht fassen. Als Sebastian am Anfang des Winters angerufen und nach Zuflucht gefragt hat, hätte ich nicht gedacht, dass sich unsere Begegnung in diese Richtung entwickelt. Ich fand ihn nett, witzig und auch attraktiv, aber ich hätte nicht im Traum gedacht, dass wir uns jemals küssen oder gar eine Beziehung eingehen. Doch so ist es. Das Bild zeigt es. Wir sind zusammen und wir küssen uns. Zur Auswahl hätte ich einige Fotos gehabt. Die festlichen Bilder vor dem Baum, das eine oder andere Selfie, das wir draußen gemacht haben, doch ich habe mich für ein schlichtes Bild entschieden, dass spontan auf der Couch entstanden ist. Als Sebastian es gemacht hat, habe ich nicht einmal gemerkt, dass er uns fotografiert.
Ich erinnere mich noch genau an seine Worte.
‚Hey, küss mich.‘
Und an meine Antwort.
‚Okay.‘
Ich drehe das Bild um und bestreiche es mit etwas Kleber. Sorgfältig wie immer, wenn ich etwas bastle, lege ich das Bild auf die zugeschnittene Karte. Ich drücke das Foto gut fest, sodass es auch gut hält. In meinem Kopf stelle ich mir vor, dass Sebastian diese Karte aufheben könnte. Vielleicht hat er ja auch eine kleine ‚Schatztruhe‘ in der er Erinnerungen aufhebt. Zuzutrauen wäre es ihm, immerhin schwelgt er gerne in der Vergangenheit.
Aus meiner zweiten Schublade nehme ich meinen Schnellhefter. In ihm habe ich meine Sticker geordnet. Nach Stimmung, Thema und schließlich nach Farbe. Ich muss etwas blättern, um zu den Festtagen zu gelangen, die befinden sich ganz hinten. Geburtstage und saisonale Festivals. Ich beklebe die Karte mit einigen goldenen Sternen. Anfangs dachte ich an etwas Kitschigeres wie Rentiere, doch eine schlichte Karte gefällt Sebastian bestimmt am besten. Der letzte Schritt ist noch das Korrekturlesen meines kleinen Grußes. Als ich keine Fehler entdecke, setze ich meine Unterschrift darunter und klebe auch den letzten Teil an seine passende Stelle.
Auf das bunte Kuvert schreibe ich noch in geschwungenen Buchstaben den Namen meines Freundes, ehe ich die Karte dann hineinlege und das Kuvert in der Geschenktüte für Sebastian verstaue. Hoffentlich freut er sich über diese Kleinigkeit.
„Ryan?“, fragt Sebastian in genau dem richtigen Moment. Ich sag’s doch: Unsere Beziehung ist magisch. „Was machst du denn da? Komm ins Bett.“
„Moment, ich muss noch aufräumen“, halte ich ihn kurz hin. Ich bin zwar sicher, dass er zu müde ist, um genau her zu sehen, trotzdem soll er nichts von seinem Geschenk erfahren. Sicher ist sicher. Einen weiteren Tag muss er sich noch gedulden.
„Du musst gar nichts. Dein Arsch hier im Bett. Sofort.“
„Aber-“
„Dein Arsch. Sofort, Ryan“, wiederholt Sebastian seine Forderung verschlafen.
Ich schalte das Licht an meinem Schreibtisch aus und gehe zum Bett. Bevor ich hineinklettere, lasse ich noch meinen Cardigan von meinen Schultern gleiten.
„So ist’s brav… komm zu mir…“
Ich lasse mich in Sebastians Arme sinken, mein Freund zieht gleich die Decke über uns. Ich bekomme einen unkoordinierten aber sanften Kuss, halb aufs Ohr und Halb ins Haar, doch ich freue mich trotzdem über diese liebevolle Geste.
„Mein Ryan…“, murmelt Sebastian leise. Ich spüre, dass er wieder zurück ins Land der Träume sinkt.
„Schlaf schön“, flüstere ich in die Stille. Zufrieden kuschle ich mich an Sebastians Brustkorb.
So ganz Unrecht hat er ja nicht: Ein kleines Schläfchen kann eigentlich nicht schaden.
…
Nach einem süßen Frühstück, reichlich Kaffee und Tee machen Sebastian und ich uns fertig für einen kleinen Spaziergang. Ich habe so viel gegessen, dass ich den Verdauungsspaziergang verdammt nötig habe. Ich könnte mich an Pfannkuchen mit Ahornsirup ins Fresskoma essen. Morgen sollten wir vielleicht nur etwas Leichtes essen oder das Frühstück gar auslassen, immerhin wird das Festessen in der Stadt angeblich recht üppig. Ich bin wie immer wahnsinnig gespannt, was mich erwartet. Mein erstes Feast of the Winter Star in Pelican Town ist sehr aufregend für mich. Aber irgendwie ist ja alles sehr aufregend und spannend für mich. Ich freue mich jedenfalls!
„Ich leih mir etwas von dir“, erklingt Sebastians Stimme.
„Ist gut“, antworte ich. Mein Freund steht bereits vor meinem Kleiderschrank. Ich sehe ihm zu, wie er meine aufgehängten Hemden betrachtet. Er greift nach einem Ärmel eines meiner liebsten geblümten Hemden, schüttelt dann den Kopf.
„Unglaublich, dass ich mir aus so einem Albtraum von Kleiderschrank tatsächlich etwas leihe“, meint Sebastian etwas abschätzig. Wahrscheinlich meint er es nicht so, trotzdem ist sein Ton nicht gerade freundlich.
„Tz…“
„Entschuldige, aber dieses Hemd ist der pure Horror für mich.“
„Dann trage ich es zu unserer Hochzeit“, antworte ich grinsend. „Um dich zu ärgern.“
Sebastian dreht sich zu mir, auch er grinst. „War das ein Antrag? Also da wo ich herkomme, läuft so eine Geste ein bisschen romantischer.“
„Du Banause hast übrigens mein Lieblingshemd beleidigt. Mach das nicht, ich hab eben meinen eigenen Geschmack.“
„Entschuldige, aber unser Kleidungsstil ist so unterschiedlich wie Tag und Nacht.“ Sebastian zieht einen Wollpullover aus meinem Schrank und schlüpft sofort hinein. „Aber zu deiner Verteidigung: Deine Pullover halten warm und sind sehr bequem.“
„Du solltest öfter Farben tragen“, teile ich meine Meinung nun meinem Freund mit. Er sieht in Pastelltönen sehr niedlich aus. Hellblau steht ihm besonders gut. Sebastian hat sich meinen Pullover mit Schneeflockenmuster ausgesucht. Ich hätte schwören können, dass ihm der zu kitschig ist. „Es muss jetzt kein knallbunter Pullover sein. Du könntest klein anfangen. Vielleicht mit bunten Armbändern?“ Ich sehe zu meinem Freund. „Ich weiß wie man so etwas macht. Ich könnte dir ein paar Armbänder flechten und knüpfen. … Oh Mist, das hätte ich als Geschenk planen können. Wieso komme ich erst jetzt darauf?“
Sebastian schmunzelt. „Ich tu so, als hätte ich das nicht gehört und du kannst heute Abend noch ein Last Minute-Geschenk basteln.“
Auch ich suche mir einen Pullover aus und ziehe ihn über mein ironischerweise schwarzes Shirt. „Danke für deinen konstruktiven Gehörverlust. Apropos Last Minute… Hast du schon ein Geschenk für Shane?“
Mein Freund kontrolliert sein Aussehen im Spiegel. Er knetet sich etwas Volumen in seine Haarpracht. „Ja, es ist zwar nicht das, was ich wollte, aber das, was ich wollte war unbezahlbar. Ich wollte eigentlich zwei Saisonkarten für die Zuzu City Tunnelers besorgen, aber als ich die Preise gesehen habe, hab ich es gelassen. SO gerne habe ich Shane garantiert nicht. Dann hab ich aber gesehen, dass es einen Fanshop in Zuzu City gibt, aber da die Fahrt im Winter mit meinem Bike unmöglich ist und der Zug sehr unverlässlich ist, hab ich meinen Dad eingespannt, etwas zu besorgen. Wäre blöd wenn ich nach Zuzu City fahre und dann nicht mehr nach Hause komme und wir ohne einander feiern würden.“
„Aha… und wie kommt dein Geschenk rechtzeitig hier her?“, frage ich nach. „Du weißt, dass schon morgen das Festival ist, richtig?“
„Dad bringt es“, antwortet Sebastian schmunzelnd. „Das wollte ich dir eigentlich vorhin schon sagen. Mein Dad tanzt morgen hier an.“
„Oh…“, antworte ich erstaunt. Es ist nicht besonders aussagekräftig, doch mehr kommt mir im Moment nicht so schnell über die Lippen.
„Er bleibt nicht lange. Er bringt nur Shanes Geschenk und ist schon wieder weg.“
„Aber der Weg ist so weit… Er kommt nur hier her, um etwas abzuliefern und fährt dann wieder nach Hause?“
Sebastian nickt. „Als ich ihn angerufen habe, meinte er, dass sich das gut trifft, weil er frei hat und nach Calico Dessert fahren wird.“
„Verzockt er sein Trinkgeld?“, frage ich schmunzelnd.
„Er meinte, dass er das Gefühl hat, dass er einen dicken Jackpot knackt und sich damit seinen Traum erfüllen kann“, meint Sebastian gleichgültig. „Aber dieses Gefühl hatte er schon ein paar Mal. Als er das Gefühl das letzte Mal hatte, war der Gewinn allerdings ‚nur‘ so groß, dass er sich ein neues Motorrad geleistet hat. Für die Gründung einer eigenen Plattenfirma hat’s nicht gereicht. Das wird’s wahrscheinlich nie, aber mein Dad ist eben ein Träumer. Ich bring’s nicht über’s Herz ihn mit der Realität zu konfrontieren.“
„Aha. Er ist also ein Träumer und Motorrad fährt er auch noch?“, frage ich nach. „Und dann noch diese Musiksache. Du hast eigentlich total viel von ihm, wieso sagst du das nicht?“
Wieder ein Zucken seiner Schultern und eine gleichgültige Antwort: „Ich dachte nicht, dass das wichtig ist.“
Unser Gespräch verlagert sich in die Küche, wo wir uns nun in Jacken, Schal und Mütze hüllen. Die Handschuhe vergessen wir natürlich auch nicht.
„Aber das sind sozusagen deine Wurzeln. Deine Mum kenne ich ja, aber dein Dad ist für mich vollkommen unbekannt. Er muss zum Kaffee bleiben. Darauf bestehe ich. Ich will ihn kennenlernen.“
„Das lässt sich bestimmt arrangieren.“
„Er hat bestimmt tolle Geschichten von seinem- Wie nannte er dich? Kleines Frettchen?“
„Ja, ich bin das kleine Frettchen“, antwortet Sebastian schmunzelnd. „Eine Zeit lang hat mich das genervt, aber es hindert ihn nicht daran, mir diesen Spitznamen zu geben. Jedenfalls hoffe ich, dass er die peinlichsten Geschichten für sich behält. Er plaudert gerne musst du wissen.“
Ich klatsche in die Hände. „Klingt nach Spaß. Ich hoffe, dass mir das ein paar neue Sebastian-Erkenntnisse liefert.“
„Ich hoffe eher, dass er dich nicht vergrault oder mich so blamiert, dass ich mich nicht mehr traue dich anzusehen“, entgegnet Sebastian weniger freudig.
„Ach was, so schlimm wird es nicht werden“, beruhige ich ihn.
Wir machen uns auf den Weg nach draußen. Der Cindersap Forest ist unser heutiges Ziel. Ich liebe die Spaziergänge im Wald, hier kann man abschalten und neue Energie tanken. Mit frischer Luft und etwas Bewegung wirkt der Magen gleich weniger voll.
Sebastian räuspert sich, ehe er anfängt zu sprechen: „Du sag mal… Gestern hat’s ja nicht mehr geklappt, versuchst du es heute noch einmal? Also… deinen Dad anzurufen?“
„Naja…“ Ich atme durch. Die frische Winterluft hilft allerdings nicht, mein aufkommendes, schlechtes Gewissen zu beruhigen. „Ich… Also ich hatte das jetzt eigentlich so gut es ging verdrängt. Trotzdem hast du Recht, ich sollte Dad anrufen. Ich will es aber nicht tun. Nicht, weil ich Dad meiden will oder ihn hasse, sondern weil ich Angst davor habe, was mich erwartet. Wenn er einen Rückfall hatte, könnte ich das nicht verkraften. Ich… Ich kann das nicht, Sebastian. Ich will es nicht wissen. Es ist besser, wenn ich es nicht weiß.“
„Verstehe… Wenn du es nicht weißt, kann er dich auch nicht enttäuschen. Dir bleibt also die Hoffnung…“
„Genau“, antworte ich. In meinem Hals ist ein Kloß der sich mittlerweile so groß wie ein Felsen anfühlt. „Wenn Dad rückfällig wird, könnte das alles kaputt machen. Ich will nicht auf die Briefe verzichten. Ich will nicht damit aufhören immer wieder in freudiger Erwartung auf mehr gute Nachrichten aus seinem Leben zu sein. Dass es Dad gut geht, ist auch gut für mich. Unser Austausch hilft mir alles, was passiert ist Stück für Stück zu verarbeiten. Wenn das aufhört, dann würde ich einen Teil von mir selbst verlieren. Ich würde meine Familie verlieren, Sebastian. Ich liebe meinen Dad und ich will ihn nicht verlieren. Schon der Gedanke, dass er irgendwann nicht mehr da sein wird, macht mir Angst.“
„Du steckst ganz schön in der Klemme.“
„Mhm…“
„Wie wäre es mit einer Nachricht? Per SMS zum Beispiel? Ich weiß… ziemlich modern und es hat nicht dasselbe Feeling wie ein Brief, den man in der Hand halten und in einem Album archivieren kann, aber vielleicht ist ja auch alles gut und er will dir nur sagen, dass er dich lieb hat. Du solltest nicht so unter Spannung stehen, du solltest Klarheit haben.“ Sebastian bleibt stehen und sucht etwas in der Innentasche seiner Jacke, dabei spricht er jedoch weiter: „Ich kann dich nicht zwingen und das will ich auch gar nicht, aber du solltest die Wahrheit erfahren. Also meiner Meinung nach wäre das wichtig für dich.“
„Stimmt schon… aber ich… Oh Yoba…“ Sebastian zündet sich eine Zigarette an. Er nimmt meine Hand in seine freie Hand und wir gehen weiter. „Letzte Nacht hab ich gebetet… Im Normalfall hilft mir das, aber dieses Mal hat es nichts gebracht. Ich fühle mich schuldig und ich könnte kotzen wenn ich daran denke, wie mies ich Dad behandle. Egal was er getan hat, er hat es nicht verdient, dass ich ihm so wehtue.“
Sebastian zieht mich am Arm, wir schlagen einen anderen Weg ein. Anstatt tiefer in den Wald zu gehen, möchte Sebastian Richtung Stadtmitte gehen.
„Ich glaube, dass ich dir nicht helfen kann“, meint er schließlich. „Aber vielleicht kann Yoba es doch noch…“
Sebastian spricht über Yoba ohne dabei sarkastisch zu klingen? Irgendwas ist komisch. Ich verleihe meiner Verwirrung Worte: „Was meinst du?“
„Wir gehen zum Schrein. Es ist zwar nicht Sonntag, aber ich bin sicher, dass er auch außerhalb seiner Sprechzeiten für einen treuen Kunden wie dich Zeit hat.“
Sebastians Aussage bringt mich zum Lachen. Jetzt bin ich mir mehr als sicher, dass er keine Ahnung hat, wie das alles funktioniert. Yoba ist kein Wunschgeist, den man um etwas bittet und ein paar Tage später geht es in Erfüllung. Yoba kann keine Probleme lösen, aber man bekommt die Kraft, sich seinen Problemen zu stellen.
Mein Freund und ich betreten Pierres Laden. Sebastian sorgt dafür, dass wir den Schrein ein paar Minuten besuchen können.
Von Caroline, Pierres Frau, habe ich kurz nach dem Einzug erfahren, dass sie einen Schrein haben. Der Vorbesitzer des Hauses hat ihn eingerichtet und die Türen sind sonntags für alle Gläubigen geöffnet. Meistens treffe ich sonntags das ältere Pärchen Evelyn und George. Ich erinnere mich noch, als der etwas grantigere Mann ganz verwundert war, dass ‚die Jugend‘ doch noch an Traditionen festhält. Auch Sams Mum Jodi besucht den Schrein regelmäßig. In den letzten Tagen war ich nicht da… Seit Sebastian bei mir wohnt und der Schnee mir immer wieder wortwörtlich im Weg steht, habe ich meinen wöchentlichen Ausflug schweifen lassen. Sobald der Schnee schmilzt, werde ich mich wieder öfter blicken lassen.
Ich nehme Platz und falte meine Hände. Der Anblick des goldenen Schreines weckt jedes Mal Ehrfurcht in mir. Die prachtvollen vergoldeten Säulen und die edlen roten Tücher an der Wand runden die Stimmung perfekt ab. Wir sind an einem heiligen Ort, die Schwingungen in diesem Zimmer sind ganz anders als im restlichen Haus. Vielleicht liegt es nur an mir, weil ich es mir wünsche, aber ich spüre eine spirituelle Verbindung zu Yoba, sobald ich mich hier befinde.
Mit geschlossenen Augen spreche ich ein gedankliches Gebet, ehe ich anfange, Yoba meinen Kummer zu erläutern. Ich erzähle von meinem Dad, davon, was ich gesagt habe, davon, wie mies ich mich deswegen fühle und von den anschließenden Schuldgefühlen, die mich fast schon vergiften. Auch die Angst, dass es meinem Dad wieder schlechter gehen könnte, tue ich kund.
„Entschuldige, dass ich dich störe, Ryan, aber wie funktioniert das so?“, fragt Sebastian leise. „Ich hab ewig nicht mehr gebetet, aber ich würde auch gerne etwas loswerden.“
Ich öffne meine Augen und sehe meinen Freund an. „Schließ die Augen und atme tief durch. Es gibt Gebete, die man sprechen kann, aber ich nehme nicht an, dass du eines im Kopf hast. Es ist aber ohnehin kein Muss. Meistens erzähle ich Yoba in meinen Gedanken einfach was mich beschäftigt. Ich erzähle was mich belastet und was in mir und um mich herum vorgeht. Manchmal berichte ich auch einfach etwas Positives, damit Yoba auf dem Laufenden bleibt, was mein Leben angeht.“
„Oh… So als würde man einen Brief schreiben?“
„Ja, genau.“
„Danke. Ich versuche das mal.“
Ich sehe, dass Sebastian seine Augen schließt. Seine Hände nehmen dieselbe Haltung an wie meine, er leckt über seine Lippen, bleibt dann allerdings still sitzen. Ich frage mich, was er wohl loswerden möchte…
…
Nach dieser spirituellen Pause kommen wir doch noch zu unserem Waldspaziergang. Seit seinem Gebet ist Sebastian vergleichsweise ruhig und wieder wie in sich gekehrt. Wir gehen den Hauptplatz entlang. Auch heute werden wir wieder von Schnee überrascht. Sanft rieselt er über uns herab. Ich atme tief durch, drücke Sebastians Hand dann ein wenig.
„Ist alles okay? Du bist so still“, erkundige ich mich nach dem Wohlbefinden meines Freundes.
„Mhm. Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich noch nie wirklich bei dem Schrein war? Also… Ich wusste, dass er da ist, aber ich hatte nie Interesse, hinzugehen.“
„Und wieso wolltest du jetzt hingehen?“, hake ich nach.
Sebastian überlegt, es dauert einige Sekunden, doch dann antwortet er: „Spontane Eingebung? Irgendwas hat mir das Gefühl gegeben, dass du das jetzt brauchst. Dir ist dein Glaube wichtig und er ist Teil deiner bezaubernden Persönlichkeit. Als du gesagt hast, dass du das Gefühl hast, dass Yoba dir nicht helfen konnte, wurde mir ganz schlecht. Es ist albern, vor allem wenn man bedenkt, dass ich keinen Draht zu der ganzen Sache habe, aber ich hab gebetet, dass es dir bald besser geht… Ich liebe dich Ryan und wenn du leidest, dann leide ich mit dir.“
Ich bleibe mitten im Wald stehen. Obwohl normalerweise Sebastian die Führung übernimmt, ziehe ich ihn jetzt zu mir. Ich beuge mich zu ihm und gebe ihm einen Kuss, dann noch einen und noch einen. Mein Freund bewegt seine Lippen gegen meine und plötzlich spüre ich seine Hand in meiner hinteren Hosentasche. Er drückt meine Pobacke ein wenig. Ich löse den Kuss, um Sebastian antworten zu können.
„Ich danke dir, Sebastian. Dir bedeutet das Gebet vielleicht nicht viel, aber mir bedeutet es etwas. Das ist mir wichtig und es ist schön, dass du das respektierst. Ich hab viele dumme Sprüche für meinen Glauben einstecken müssen…“
„Naja, hoffentlich hilft es auch. So ganz überzeugt bin ich ja nicht.“
„Ich aber“, antworte ich wieder selbstsicherer. „Du hattest Recht. Ich sollte meinen Dad anrufen und herausfinden, was er mir zu sagen hat.“
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