Bemerkung des Autors: BlueSiren: Liebste Bluey, es wird Zeit, dass du mal wieder eine Gans gereicht bekommst.(Ist ja nicht so, dass du gerade eine gehabt hättest oder so) Die Grundidee stammt von Nana und mir und wir wünschen uns eine Geschichte über die abenteuerliche Zeitreise des Pony mit einem Herzluftballon vom Jahrmarkt(=Zeitmaschine) in ein vergangenes Jahrhundert, in dem es einem heldenhaften Matrosen auf einem Papierschiffchen, eine blauhaarigen Opernsängerin, jeder Menge Ratschläge gebenden Vögeln, anderen Gestalten und einer historischen Person seiner Wahl begegnet. Herzlichst, Siren *** Zusätzlich natürlich eine Reihe von Sonderwünschen: Siren: „Bitte, zieh mich mal durch den Kakao.“ Morgan-Le-Fay: „Du kannst aus mir auch einen Vogel machen.“ Saki: „Ich will auf seiner Schulter rumhüpfen! HÜPFÄÄÄÄÄÄÄÄÄN!“ *** Euer Wunsch ist mir Befehl auch wenn das Ding zieeeeemlich lang(weilig) ist ... ach ja, in dieser Gans werden Zitate zweier Gedichte verwendet und zwar Francesco Petrarcas Rime 190 (http://faculty.goucher.edu/eng211/poetic.htm) und Sir Thomas Wyatts „Whoso list to hunt“ (http://www.poetryfoundation.org/poem/174862) ***
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„Ich will aber nicht“, schimpfte Bluey, setzte sich bockig auf den Hintern und verschränkte die Vorderbeine vor der Brust wie ein wütendes Kleinkind.
„Ach, komm schon, das wird total viel Spaß machen“, quengelte das Sirenchen. „Es ist doch nur ein Jahrmarkt.“
„Ich hasse Karussells, ich hasse Achterbahnen und vor allem ich hasse Zuckerwatte. Die klebt immer in meiner Mähne und dann seh’ ich aus, als hätte ich einen Wischmopp auf dem Kopf.“
„Egal wie du aussiehst, du wirst immer mein herzallerliebstes Lieblingspony sein.“ Die Sirene sah sie aus großen Plinkeraugen an. „Komm schon. Du kannst mich doch nicht alleine lassen.“
„Mit meinem derzeitigen Trollfinder gehe ich besser gar nicht mehr aus dem Haus. Das gibt sonst wieder nur Ärger.“
„Ich hab bisher in meiner ganzen Zeit als Moderator noch keinen einzigen Troll gesehen. Und meine Anti-Troll-Wirkung wird deinen Trollfinder schlagen.“
„Ja, genau und dann lässt du mich einen Augenblick alleine …“
„Nein, werd ich nicht. Ich werde die ganze Zeit an deiner Seite sein. Ehrlich. Mach dir keine Sorgen.“
Doch Bluey war nicht so leicht zu überzeugen. „Das sagst du jetzt. Und hinterher passiert mir bestimmt irgendetwas total Dummes.“
„Ach Quatsch. Ich verspreche dir, es wird alles gut gehen.“
Und das Pony war so dumm, der Sirene zu glauben.
„Entschuldigung. Wie viel Uhr haben wir?“, fragte das Pony einen vorbeihopsenden Hasen. Es wartete auf die Sirene, die es eigentlich vor fünf Minuten an dieser Stelle hatte treffen wollen, aber immer noch nicht da war.
Der Angesprochene nuschelte und bestätigte Blueys Verdacht. Das Sirenchen war viel zu spät dran. Auch das noch. Wenn ihre Laune noch schlechter hätte werden können, dann so!
„Äh, danke. Wo ich gerade dabei bin, kann ich mal deine myff-Ausweiskarte sehen? Ich bin Moderator und …“
Das Pony konnte nicht so schnell zwinkern, wie sich der Hase in einen Troll verwandelte, der unflätige Worte ausstieß, um sein Missfallen über die Kontrolle zu bekunden. „Ernsthaft?“, fragte sie ungläubig und schlug ihn mit ihrer Mörderaxt nieder, worauf er sich in Staub verwandelte. Ein sanfter Windstoß trug ihn hinfort in ein anderes Land, was Fanfiktionia hieß. Dort sollte er fortan sein Unwesen treiben.
Trotz des glimpflichen Ausgangs war Bluey nicht sonderlich begeistert von dem Zwischenfall. „Das ist alles deine Schuld“, schimpfte sie das Sirenchen an, das gerade um die Ecke bog. „Ich hab gerade wieder einen Troll erledigt.“
„Hab ich dir nicht gesagt, du sollst keine User kontrollieren und die Mörderaxt zu Hause lassen?“, entgegnete die Angeschimpfte streng. „Heute hast du dienstfrei.“
„Jo, aber ich hör nicht auf dich. Hinterher liege ich gefesselt und geknebelt in einem Trollbau.“
„Manchmal bist du ein bisschen paranoid!“
Das Pony zuckte mit den Schultern. „Damit musst du leben! Und ich verspreche dir, ich werde den ganzen Tag schlechte Laune haben!“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab und trabte zum Jahrmarkt. Der Sirene blieb nichts weiter übrig, als ihrer Freundin zu folgen.
„Ein Kettenkarussell“, rief das Bluey begeistert und stürmte zum Kartenhäuschen. „Ich will Kettenkarussell fahren!“
„Wartest du mal?“, fragte die abgehetzte Sirene, deren Füße schon wie Feuer brannten. Die ganze Zeit tat sie nichts anderes, als dem wild gewordenen Pony hinterher zu rennen.
„Halt mal meinen Hut.“ Bluey ignorierte das Gejammer und drückte ihrer Begleiterin die Kopfbedeckung in die Hand. Dann saß sie schon im Kettenkarussell und schaukelte hin und her. „KARUSSELLLFAHREN“, brüllte sie und kümmerte sich nicht darum, dass Großschreibung schlechter Stil war.
„Du wolltest doch eigentlich gar nicht auf den Jahrmarkt“, seufzte das Sirenchen. Sie hatte langsam wirklich die Nase voll. Zu allem Überfluss kam gerade ein Mann mit rosa Herzchenluftballons am Karussell vorbei. Die Sirene wusste genau, wozu das führen würde, denn sie hatte es heute schon oft genug erlebt. Mit der Zuckerwatte. Der Eiscreme. Den Losen …
Und sie hatte sich nicht getäuscht. „Ich will einen Ballon“, brüllte Bluey, sobald sie den Mann sah. „Kauf mir einen Ballon. Sofort!“
Siren hatte keine Lust mehr, mit ihr zu diskutieren. Trotzdem versuchte sie, einen Kompromiss herauszuschlagen. „Du bekommst einen Ballon, wenn du mir die Mörderaxt gibst. Zumindest während der Karussellfahrt. Danach kannst du sie wieder haben.“
Ihre Freundin überlegte nicht lange und tauschte die Waffe gegen das begehrte Objekt aus. „Ballon, Ballon, Ballon“, freute sie sich, als sich das Karussell langsam in Bewegung setzte. „Ich hab einen Herzchenluftballon. Der ist so schön und so …“ Sie drehte sich zu ihrem Nachbarn um und erstarrte, als sie in sein haariges Gesicht schaute. Seine kleinen Augen blinzelten sie über den Rand seiner Schweinsnase tumb an.
„Ein Troll“, rief sie und griff nach ihrer Mörderaxt, doch ihr Griff ging ins Leere, denn diese war natürlich beim Sirenchen und außerhalb ihrer Reichweite. Damit war sie dem Feind wehrlos ausgeliefert. Aber vielleicht konnte sie ja die Fahrt ruhig aussitzen.
Das Ungeheuer verstand nur langsam, dass es im Vorteil und seine Nachbarin unbewaffnet war. Doch dann brüllte es bedrohlich und wedelte mit den langen Armen in der Luft, um anschließend nach dem Pony zu greifen.
Dieses löste den Sicherheitsgurt des Karussellsitzes, wollte raus springen und … verhedderte sich irgendwie mit ihren Hinterbeinen in der Schnur des Luftballons. Bevor sich Bluey noch ganz versah, schwebte sie bereits hoch in die Lüfte, immer weiter weg von der rettenden Mörderaxt.
„Und ich sag noch, dass ich nicht auf den Jahrmarkt gehen sollte“, schimpfte sie. „Aber ich hör ja nicht auf meine eigenen Warnungen.“ Sie äugte zum Ballon hoch. „Ich wünschte, ich müsste die Reise nicht über Kopf antreten.“ Doch alle Wünsche waren vergebens und so blieb ihr nichts weiter übrig, als in Ruhe die Aussicht zu genießen.
Das Pony sollte nicht allzu lange allein durch die Gegend dümpeln.
„Was treibst du denn da?“, fragte sie ein kleiner Schmetterling.
„Hallo Morgan. Ich fliege, das ist doch offensichtlich.“
„Du fliegst? Aber du bist doch gar kein Vogel.“
„Du bist auch keiner und kannst fliegst“, entgegnete Bluey mit hoch-, beziehungsweise durch die Hängrichtung runtergezogener Augenbraue.
Der Schmetterling flatterte empört mit den Flügeln. „Kein Vogel? Kein Vogel? Sag mal, hast du es mit den Augen? Ich fliege, ich hab Flügel und einen Schnabel, also bin ich ein Vogel.“
„Äh …“ Das Pony beschloss, dass sie das besser nicht kommentierte. Außerdem wollte sie sich nicht über einen möglichen Schmetterlingsrüssel auslassen, bevor sie Tante Wikis Biologiebuch konsultiert hatte.
„Ich muss ein Vogel sein“, begehrte Morgan weiter. „Immerhin kommen hier bisher zu wenige Vögel vor, obwohl das die Aufgabe ist.“
„Bist du sicher?“, fragte das Eulchen, das mit Eagle und Nana angeflogen kam.
„Gott sei Dank“, rief Bluey erleichtert. „Ihr könnt mir sicher helfen, hier runter zu kommen.“
Nur der Rabe traute sich, auf dem Ballon zu landen. Die beiden Moderatoren betrachteten die Szene lieber aus der Luft.
„Kannst du denn nicht landen?“, fragte Morgan spöttisch. „Ich kann landen, denn ich bin ein Vogel.“
Eagle verdrehte die Augen. „Du bist ein Schmetterling, das haben wir dir schon oft genug gesagt. Und jetzt mach die Flatter.“
„Pfuh, du bist so gemein“, schimpfte Morgan, gehorchte jedoch, bevor der neue Mod sein Schwert vom Rücken lösen konnte.
Nana betrachtete das Pony von oben und schüttelte ihr weises Haupt. „Pony, Pony, Pony“, murmelte sie dabei. „Wie hast du das nur wieder hinbekommen?“
„Ach, das war ganz einfach“, erklärte Bluey. „Da war dieser Troll und ich hatte ja den Ballon gegen meine Mörderaxt getauscht …“
Die anderen drei ließen sie erzählen und genossen lieber die peinliche Lage des Ponys. Später würden sie sie damit aufziehen!
„Wie komm ich denn jetzt runter?“, fragte Bluey schließlich.
„Ich würde sagen, wir picken einfach ein Loch in den Ballon und hoffen, dass er sanft landet“, schlug Eagle vor.
„Und wenn sie abstürzt? Wir können sie schlecht festhalten. Vor allem nach ihrer Jahrmarktsdiät.“ Saki deutete verstohlen auf den runden Bauch des Ponys.
„Hey, das hab ich gehört“, schimpfte dieses.
„Warte einfach, bis der Ballon die Luft von alleine verliert“, riet Nana.
„Ich möchte aber nicht noch tagelang hier rumhängen. Vor allem mit dem Kopf nach unten. Mein Gehirn war selten so gut durchblutet.“
„Wie man an deiner derzeitigen Lage erkennen kann“, gab der Adler trocken zurück.
„Ich sage, wir knoten das Pony erst mal los. Dann muss es sich zwar selbst festhalten, aber es kann den Flug vielleicht ein bisschen steuern.“
„Für Sakis Vorschlag“, rief Bluey.
„Gut, dann halt jetzt ganz still.“ Vorsichtig flog Saki an den Ballon heran und versuchte, die Schnur zu entwirren. Dummerweise kam sie dabei mit den Krallen zu nah an die empfindliche Gummihaut des Fluggeräts heran und … PENG!
„Aaaaaaaaaaah.“
„Merke: Je lauter das Peng, desto länger das Ah“, kommentierte Eagle und winkte dem Pony, das unaufhaltsam Richtung Erde sauste, ungerührt hinterher.
„So hatte ich mir das nicht vorgestellt“, bemerkte Nana. „Übrigens, ist euch aufgefallen, wie jung ich heute aussehe?“
Die Eule blickte den Raben mit einer Mischung aus Verwirrung und Besorgnis an. „Was willst du uns denn damit sagen?“
Nana grinste. „Ich glaub, der Ballon war eine Zeitmaschine und je länger man damit in Berührung kam, desto weiter ist man in der Zeit zurückgereist.“
„Zumindest gilt das für Bluey“, bemerkte Eagle, dessen Blick deutlich schärfer war als der der beiden Damen. „Sie ist nämlich nirgendwo zu sehen und eigentlich hätte sie irgendwo aufschlagen müssen.“
„Vorausgesetzt, die Erdanziehung funktioniert. Und bei myfflonia würd ich nicht dafür garantieren“, kommentierte Saki. „Und was machen wir nun?“
„Na, da wir in dieser Geschichte die ratschlaggebenden Vögel sind, würde ich sagen, abwarten, Tee oder wahlweise Kakao und Kaffee trinken und Kekse futtern, bis wir gebraucht werden“, schlug Eagle vor.
„Gute Idee“, pflichteten die Damen bei und schwirrten ab.
Es dauerte eine Weile, bis Bluey wieder zu sich kam. „Volltreffer, Saki“, brummte sie und untersuchte ihren momentanen körperlichen Zustand. Sie lag auf dem Bauch und hatte alle Viere von sich gestreckt. Soweit so gut.
Sie wackelte abwechselnd mit ihren gesamten Gliedmaßen. Alles kein Problem. Sie schien also nicht ernsthaft verletzt zu sein. Außerdem konnte sie den Ballon weder fühlen noch das Gummi riechen. Er war offenbar weg. Noch besser. Jetzt musste sie also nur noch aufstehen und alles wäre in Ordnung.
Behutsam zog die die Vorderbeine unter den Körper und stemmte sich in eine sitzende Position. Dann schüttelte sie den Kopf und schlackerte die feinen Öhrchen aus. Anschließend sah sie sich um. „Nicht schlecht, Herr Specht.“
Sie saß auf einer sehr grünen Wiese vor einem malerischen Bach, in dem einige ihr unbekannte Vögel badeten. Auf der anderen Seite des Wasserlaufs dehnte sich das Grün weiter aus. Eine Hügelkette am Horizont wurde von einem dichten Wald gesäumt. Die Gegend wirkte so friedlich, als sei sie einem mittelalterlichen Gemälde entnommen.
Auf einem Stein, etwas weiter entfernt, sah Bluey eine Gestalt. Neugierig richtete sie sich auf und ging erst langsam, dann immer schneller hinüber.
Bald schon war diese zu erkennen. Es war ein Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren. Sein Gesicht, das er zum Wasser gewandt hatte, wurde von einem dichten Vollbart umrahmt. Er war stämmiger, als man es gewöhnt war. „Whoso list to hunt“, hörte sie ihn murmeln. „I know, where is an hind.”
„Hey, das ist eins meiner Lieblingsgedichte“, wieherte sie.
Wenn er verwirrt darüber war, von einem blauen Pony angesprochen zu werden, zeigte er es nicht. „So? Das erfreut mich sehr.“
„Sir Thomas Wyatt war ein großartiger Dichter“, fuhr das Pony fort.
Er lachte. „Nun, wie könnte ich wagen, Euch zu widersprechen. Mit einer Ausnahme. Das ‚war‘ nehmt Ihr bitte zurück, denn Thomas Wyatt, der mitnichten ein Sir ist, lebt noch.“ Er schien auf eine Antwort zu warten.
Bluey war jedoch von seiner Kleidung abgelenkt. Der braune Überwurf, den er trug, war offensichtlich alt. Auch der Hut schien nicht aus dieser Zeit zu sein. „Bist du auch Mittelaltermusiker wie die grummelige Fledermaus?“, fragte sie sichtlich irritiert.
Er runzelte die Stirn. „Die grummelige Fledermaus? Wer ist das?“
„Thomas Wyatt“, tönte es da aus dem Wasser. Eine Sekunde später entstieg eine blauhaarige Frau den Fluten. „Wir müssen reden.“
„Zum Teufel, die Opernsängerin“, fluchte er. „Verzeiht, werte Lady, dass ich in Eurer Gegenwart mein Mundwerk nicht besser zügeln konnte“, ergänzte er zerknirscht in Richtung Bluey.
„Wyatt, endlich habe ich Euch gefunden“, die Frau beachtete das Pony gar nicht, „reden wir doch endlich über die Ähnlichkeit Eures neusten Gedichts mit Francesco Petrarcas Rime 190.“
„Ich sagte Euch bereits, dass sich lediglich die Motivik ähnelt. Immerhin ist es kein Diebstahl, seine Liebesgedichte in den Wald zu verlegen. An den Busen der Natur, wenn man so will“, fügte er schmunzelnd hinzu.
„Nur die Motivik?“ Die Frau zog ein Pergament aus ihrem weiten Kleid: „Es geht um die erfolglose Verfolgung einer Ricke, die jedoch nicht gefangen werden darf. Und dann das hier: ‘Let no one touch me,’ she bore written with diamonds and topazes around her lovely neck. ‘It has pleased my Caesar to make me free.’ Wenn das keine eindeutige Ähnlichkeit zu Eurem Gedicht ist, was dann?“
Wyatt beschloss, sich dumm zu stellen. „Ähnlichkeit? Zu welchem Vers?“
„Zu ‘And graven with diamonds in letters plain, There is written her fair neck round about ; 'Noli me tangere ; for Cæsar's I am.' Seht Ihr, ich kann Euer Gedicht fast auswendig”, warf Bluey ein und strahlte Thomas stolz an. „Der Satz ‚Noli me tangere‘ bedeutet ‚Berühr mich nicht‘ und damit das Gleiche wie … Oh!“ Das Pony machte ein betroffenes Gesicht. „Ihr habt schon ein wenig geklaut.“
„Die Motivik. Nur die Motivik. Es ist nun mal nicht leicht am gleichen Busen zu schwelgen und ich mag vielleicht das ein oder andere versehentlich übernommen haben … Aber bei mir geht es doch um etwas ganz anderes“, verteidigte sich Wyatt.
„Um Eure unerwiderte Liebe zu Lady Anne Boelyn, ich weiß“, antwortete die Opernsängerin müde. „Die wird Euch ohnehin mal Kopf und Kragen kosten. Jetzt gebt mir bitte das Pergament mit dem Vers und die Sache ist erledigt.“
„Ein Vorschlag zur Güte: Ich übergebe die Zeilen ihr“, er deutete auf Bluey. „Sie ist eine Bewunderin meiner Dichtung und von solcher Schönheit und Weisheit, dass ich vielleicht besser ihr meine zarten Verse zu Füßen legen sollte.“
„Awwww.“ Das Pony war geschmeichelt, die Opernsängerin weiter skeptisch.
Sie blickte es einen Moment forschend an, dann nickte sie. „In Ordnung, übergebt ihr die Schrift, dann will ich zufrieden sein.“
Vorsichtig zog Wyatt ein gerolltes Pergament aus seinem Ärmel und reichte es Bluey, die es sicher unter ihrer Mähne verstaute. Anschließend zog der Dichter schmollend von dannen.
„Immer diese Schriftsteller“, schimpfte die blauhaarige Dame. „Seit sich die Bildung weiter in England verbreitet hat, muss man ständig darauf achten, dass sie nicht voneinander abschreiben. Aber irgendwofür sind wir ja da.“
„Wir?“
„Ja, wir.“ Wieder musterte die Frau Bluey und ihr schien zu gefallen, was sie sah.
Das Pony nutzte die Gelegenheit, um sich seinerseits ein Bild zu machen: Die Frau hatte eine sehr kurvige Figur, an der vor allem der enorme Vorbau auffiel. Fast konnte man meinen, dass sie alle Luft, die sie als Opernsängerin für ihre Darbietung brauchte, dorthin befördern konnte. Im Verhältnis zum Pony war sie sehr lang geraten. Ihre dunkelblauen, gelockten Haare reichten ihr bis zu den gut gepolsterten Hüften. Die Wangenknochen der Frau waren deutlich ausgeprägt und die meergrünen Augen wurden von markanten Brauen überschattet. Ihr Gesicht war rund wie ein Vollmond und genauso blass. Sonnenbräune galt offenbar als unschicklich oder die Sängerin gehörte zu jenen Frauen, die auch nach Stunden im Freien keine Farbe bekamen.
Wie bereits erwähnt, trug die Sängerin ein bodenlanges, dunkelblaues Kleid mit weiten, hellblauen Ärmeln, die wie Flügel wirkten, wenn sie die Arme hob.
‚Also mein Sirenchen sieht tausendmal besser aus‘, dachte Bluey bei sich. Sie hatte mittlerweile erkannt, dass sie offenbar in einem mittelalterlichen Myfflonia gelandet war und es sich hier um eine Ur-Ur-Ur-…-Ur-Ur-Ur-Ur-Ahnin ihrer Freundin handelte.
„Ihr seid Sängerin?“, fragte das Pony schließlich, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.
„Jahaaaaa“, tirillierte die Frau. Dabei wackelte ihr enormes Doppelkinn wie frischer Pudding.
‚Allerdings kann sie viel besser singen‘, fügte Bluey in Gedanken hinzu.
„Ich bin hier für die Ordnung zuständig. Genau wie König Henry VIII, seine Beraterin Anne sowie seine Königin Katharina. Und natürlich Prinzessin Mary.“
Das Pony hörte aufmerksam zu. „Ihr kontrolliert das alles hier?“
Die Sängerin seufzte. „Soweit wir können. Im Augenblick sind wir mehr mit dem Zwischenmenschlichen beschäftigt. Doch daran solltet Ihr Euch nicht stören.“ Sie winkte ab, erzählte aber trotzdem weiter: „Anne würde auch gerne die gleichen Rechte haben wie Katharina, Henry, der verliebte Esel, ist dafür, Mary dagegen. Es gibt fortwährend nichts als Streit.“
„Und was sagt Ihr dazu?“
„Ich mag den Zwist nicht und versuche, zu vermitteln. Aber es hilft nicht.“
Die Frau tat dem Pony leid. „Vielleicht kann ich irgendwas tun?“
„Bemüht Euch nicht, das müssen wir alleine schaffen. Aber Ihr könnt trotzdem mitkommen. Die Schlossküche ist hervorragend und es tut richtig gut, sich mal mit jemandem unterhalten zu können.“
Das Pony war bereitwillig mitgegangen, denn es hatte – wie so oft – Hunger. Gerade hatte es die Schnauze in eine Schüssel voller Möhreneintopf gesteckt und die Ohren auf Durchzug gestellt. Seit mehr als einer Stunde jammerte die blauhaarige Sängerin schon, mal in Worten, mal als langatmige Arie.
„Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“, schmetterte sie gerade so laut, dass Bluey vor Schreck fast mit dem Kopf in den Eintopf fiel.
„Die Königin der Nacht aus Amadeus‘ Zauberflöte“, raunte sie ihren Möhren zu, dann kaute sie weiter, während sich die Sängerin durch eine Reihe von Koloraturen quälte. „Euer Gesang ist beachtlich, liebste Freundin.“
„Hach, Bluey, ich denke, Ihr seid die einzig Vernünftige hier.“
Das Pony grinste. „Das sagt Ihr nur, weil Ihr mich nicht kennt.“ Sie fand es reichlich albern, das ständige „Ihr“ und „Euch“ zu benutzen, doch es war hier Sitte und so wollte sie sich daran halten. „Ich bin fertig“, fügte sie hinzu und deutete auf die leere Schüssel.
„Meiner Treu, Ihr hattet gewaltigen Hunger, nicht wahr?“
„Ich bin ein Pony, da bleibt so etwas nicht aus. Aber jetzt ist es genug, habt Dank für Eure Gastfreundschaft.“
Sie erhoben sich und verließen die Küche, doch schon in der Tür wurden sie von einem unscheinbar gekleideten Diener aufgehalten.
„Die Herrschaften wünschen Euch zu sehen“, erklärte er der Sirene und sie nickte nur. Dann eilte sie davon.
Da sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte, trabte Bluey hinterher. Nur um es Augenblicke später zu bereuen. Zwar war das Innere des Schlosses sehr interessant und der Thronsaal, in dem ihre Reise endete, atemberaubend, doch die reich gekleideten Personen waren weniger ansehnlich.
„Ihr werdet Uns gehorchen“, donnerte Henry, den Bluey an seinem Thron, seiner Krone und seinem stattlichen Ba…rt erkannte. Und am Pluralis Majestatis.
Eine sehr kleine, aber gleichzeitig sehr dicke Frau schüttelte entschieden den Kopf. „Ich habe die Unterstützung der Bevölkerung und der Kirche. Ich werde dem nicht zustimmen.“
„Oh doch, Ihr werdet, Königin Katharina“, fauchte eine schlanke, schwarzhaarige Dame. Das einzig Bemerkenswerte an ihrem unscheinbaren Gesicht waren die tiefschwarzen Augen. „Denn es ist der Wille Eures Gemahls.“
„Henry hat genauso nur eine Stimme wie wir alle“, wandte ein schmales Persönchen ein, das hinter Katharina stand. Das musste Prinzessin Mary sein. „Und die Mehrheit entscheidet.“
„Wir waren kurzsichtig, als Wir das eingeführt haben“, polterte Henry. „Denn damals habt Ihr noch auf Unsere weisen Worte vertraut. Doch dieses Privileg kann Euch genommen werden.“
Bluey war fasziniert. Nicht so sehr von dem Gespräch, als von dem eigenwilligen Schmuck, den der König trug. Es war etwas, dass sie auf einem derart majestätischen Gewand niemals vermutet hätte. Denn auf seiner Schulter saß eine ausgestopfte Eule, deren Augen beinahe lebendig wirkten.
„Nun könnt Ihr es nicht mehr rückgängig machen, mein König“, ätzte Mary. „Denn Ihr habt uns das Recht gegeben, auf diese Art abzustimmen.“
Die Eule blinzelte und ruckte mit dem Kopf in die Richtung der Prinzessin.
Bluey stutzte und stellte die Öhrchen auf. Der Vogel war ja gar nicht tot. Er lebte. Und wie. Jetzt fing er sogar an zu hüpfen.
„Tötet das Mädchen, Sire“, krächzte die Eule, als sie wieder still saß. „Dann habt Ihr die Mehrheit, die Ihr braucht.“
„Wagt es ja nicht.“ Schützend stellte sich Katharina vor ihre Tochter.
„Du weiser Ratgeber.“ Mechanisch strich der König über die Federn der Eule, die ihn darauf in den Daumen biss. „Aua, du Biest.“ Er versuchte, sie mit der Fingerspitze strafend anzustupsen, doch sie hüpfte geschickt beiseite. „Hältst du wohl still“, schimpfte er. „Wie soll ich dich sonst züchtigen?“
Die Eule kicherte, hüpfte auf die andere Schulter und rief: „Tötet sie beide. Oder besser, tötet sie alle drei.“ Ihre Augen funkelten bösartig.
„Kannst du nicht einmal mit deinen Ratschlägen aufhören?“, seufzte der König eher liebevoll als genervt, folgte aber dem Blick der Eule. „Opernsängerin, da seid Ihr ja endlich. Wir haben Euch schon früher erwartet. Warum habt Ihr so lange gebraucht?“
Die Dame versank in eine Référénce. „Verzeiht, mein König. Ich wollte Eurer Missfallen gewiss nicht erregen. Doch ich hatte einen Gast.“ Sie deutete auf das Pony, das immer noch fasziniert die Eule anstarrte. Erst, als sich die Sängerin sehr laut räusperte, zuckte es erschrocken zusammen und deutete eine Verbeugung an.
„Das Pony ist unhöflich. Werft es raus“, rief die Eule und wippte aufgeregt mit dem Kopf auf und ab. „Aber zuvor lasst mir ein Nest aus seiner flauschigen Mähen machen.“
„Hey“, empörte sich Bluey. „Was fällt dir denn ein, du übergroßer Wellensittich?“
„Es ist garstig“, flüsterte der Vogel dem König ins Ohr. „Darf es garstig zu uns sein? Schickt es in den Steinbruch. Da kann es Werwölfe jagen.“
„Ruhig, meine Freundin.“ Wieder wollte Henry die Eule streicheln und wieder wurde er gebissen. „Unmögliches Vieh!“
„Die Opernsängerin lenkt nur ab“, mischte sich Anne jetzt ein. „Sie will einfach keine Entscheidung treffen und der Matrose ist schon lange verschwunden. Beide stellen sich gegen uns, gegen unsere Liebe! Trotzdem müssen wir eine Lösung für diesen Streit finden.“
„Schickt das Frauenzimmer hinaus“, riet die Eule.
„Welches?“, wollte Henry wissen.
„Sie!“, forderten Katharina und Anne gleichzeitig und zeigten mit dem Finger auf die jeweils andere. „Sie muss gehen. Nein, sie. Sie!“
„Uns reicht es endgültig“, grollte der König. „Wir werden erst wieder kommen und Euch anhören, wenn Ihr Euch benehmen könnt.“ Mit diesen Worten rauschte er durch eine Hintertür in seine Privatgemächer davon. „Und bringt Uns Unseren Vanillepudding“, hörte sie ihn noch befehlen, dann war er verschwunden.
„Es ist Eure Schuld“, keifte Anne.
„Von wegen“, giftete Katharina zurück.
Die Opernsängerin holte tief Luft. Sie war sich nicht sicher, was sie singen sollte und so schmetterte sie Versatzstücke von vielen Liedern durcheinander, dass es nur in den Ohren dröhnte. Sie hörte erst auf, als sich alle Damen mit leicht durchschaubaren Ausreden zurückgezogen hatten.
Nur Bluey, die sich die Hufe auf die Ohren gepresst hatte und daher nicht laufen konnte, blieb zurück.
„Verzeih“, bat die Sängerin. „Es ist das Einzige, was hilft.“
„Das ist wirklich furchtbar“, bemerkte das Pony. „Nur Zank und Hader.“
„Und so geht das tagein tagaus. Es wird immer nur schlimmer, niemals besser. Draußen treiben sich lauter Untiere herum und niemand hat Zeit, um sie einfangen. Ich bin allein auf weiter Flur und mit meiner Aufgabe überfordert. Versuche ich, die Ungeheuer zu fangen, streiten sich die Herrschaften, beruhige ich die Herrschaften, vermehren sich die Ungeheuer.“
„Lass uns die Aufgaben teilen“, schlug das Pony vor. „Mit dem einen Teil kenn ich mich aus. Ich werde einfach die Ungeheuer jagen und du versuchst, deine Leute wieder an einen Tisch zu bringen.“
Die Opernsängerin zuckte zwar bei dem Begriff „deine Leute“ zusammen, stimmte jedoch dankbar zu. „Ach, Bluey, du bist die einzig Vernünftige hier.“
„So bin ich nun mal“, grinste diese unbescheiden. „Ich müsste allerdings noch kurz eure Waffenkammer aufsuchen, bevor ich mich an die Arbeit mache. Ich bräuchte da noch eine Klitzekleinigkeit.“
Es war harte Arbeit, die unzähligen Ungeheuer, zu denen auch Drachen, Wiedergänger und andere Scheußlichkeiten zählten, dingfest zu machen oder gar zu vernichten, zumal sie nicht mit der handlichen Mörderaxt, sondern einem klobigen Morgenstern arbeiten musste. Doch gegen Abend hatte Bluey eine beachtliche Menge geschafft. Natürlich war dies kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein, doch sie hoffte, dass die Sängerin positive Neuigkeiten hatte.
Sie wurde enttäuscht. Wieder hatte es Streit gegeben und wieder war der König davon gegangen, ohne eine Lösung des Problems herbeizuführen. Immerhin hatte er sich einen anderen Pudding bestellt, um sich über seinen Kummer zu trösten.
Natürlich hatten sich die Frauen daraufhin wieder angekeift und waren nur durch den Gesang der blauhaarigen Dame getrennt worden.
„Ich war so nah dran“, seufzte diese. „Können wir es morgen noch mal versuchen? Dieses Mal klappt es bestimmt.“
Bluey brachte es nicht übers Herz, nein zu sagen, und so jagte sie auch am nächsten Tag wieder die mittelalterlichen Ungeheuer.
Doch auch am folgenden Abend hatte es kein neues Ergebnis gegeben und die Opernsängerin bat das Pony auch dieses Mal, zu bleiben.
„Nur noch heute“, antwortete Bluey. „Morgen muss ich einen Weg finden, wie ich nach Hause komme.“
Die blauhaarige Dame nickte verständnisvoll. „Natürlich, sie werden schon sehnsüchtig auf Euch warten.“
„Da bin ich mir nicht so sicher“, vertraute das Pony ihrem Eintopf an. „Vielleicht sind sie ja auch ganz froh, dass ich Chaot mal ‘ne Weile nicht da bin.“
„Ach, erzählt doch keine Märchen. Sie werden Euch vermissen. Ich werde es tun, wenn Ihr nicht mehr hier seid.“
„Das ist zu gütig von Euch“, antwortete Bluey unverbindlich.
Nach einem weiteren Tag voller Drachen, Werwölfe und ähnlichem hätte sie ein Königreich für das haarige Gesicht und die Schweinsschnauze eines Trolls gegeben. Mindestens. Und sie wusste, dass sie jetzt endlich einen Weg finden musste, um nach Hause zu kommen, bevor sie noch vor Sehnsucht einging.
Am Schloss angekommen, reichte sie der Opernsängerin den klobigen Morgenstern und setzte eine entschlossene Miene auf. „Ich werde jetzt gehen“, verkündete sie. „Mein Entschluss steht fest, Ihr könnt mich nicht davon abbringen.“
„Aber … aber …“ Die Sängerin druckste herum. „Ich weiß nicht, ob oder wie ich das sagen soll …“
„Was ist denn?“, fragte Bluey ungehalten.
„Wenn Ihr jetzt geht, verpasst Ihr doch Euer eigenes Dankesbankett“, flüsterte die blauhaarige Dame. „Es sollte eine Überraschung sein für Eure Dienste. Und Ihr sollt zum Ritter geschlagen werden.“
„Darauf kann ich verzichten“, antwortete das Pony. „Aber so ein leckeres Essen hätte ich schon gerne. Wann ist es denn soweit?“
„Gleich, wir müssen nur noch die letzten Vorbereitungen treffen.“ Die Sängerin sah sich um. „Kommt mit, ich zeige Euch, wo Ihr warten könnt, bis alles bereit ist. Aber versprecht mir, überrascht zu tun. Falls Henry erfährt, dass ich Euch eingeweiht hab, wird er mir den Kopf abschlagen.“
„Keine Sorge, ich kann schweigen wie ein Grab.“
„Wartet.“ Die Sängerin nahm ein Tuch von den Schultern. „Ich verbinde Euch schon einmal die Augen, wenn Ihr das möchtet?“
Natürlich wollte das Pony und schon versank die Welt in Dunkelheit. Die Sängerin drehte es noch ein paar Mal im Kreis und dann führte sie es in einen anderen Raum. Eine Tür klapperte, dann eine zweite. „Ihr könnt die Binde abnehmen.“
Bluey gehorchte in freudiger Erwartung und … fand sich in einer Pferdebox wieder. „Was soll das?“, fragte sie ihre Begleiterin.
Diese grinste hämisch. „Ich habe Euch doch gesagt, dass Ihr die einzig Vernünftige hier seid.“ Sie begann leise zu kichern. Dabei trat ein irres Funkeln in ihre Augen. Das Kichern steigerte sich zu einem vergnügten Glucksen, ging über in ein leises und schließlich in ein lautes Lachen, das so heftig war, dass sowohl das Doppelkinn als auch der enorme Busen der Sängerin wackelten. „Jetzt bleibt Ihr für immer hier.“
„Das geht nicht“, antwortete das Pony. „Ich hab wichtige Termine. Verpflichtungen. Freunde und Familie.“
„Ich bin sicher, Ihr werdet Euch hier mit der Zeit sehr wohl fühlen. Um nicht zu sagen, heimisch.“ Lachend verließ die Sirene den Stall.
Bluey stürzte zur Boxentür und rüttelte daran. Doch erwartungsgemäß war diese verriegelt und es gab keine Möglichkeit, sie von innen zu öffnen. Eine bittere Erkenntnis ereilte das Pony: Es war im Jahr 1528 gefangen!
Krachend traf ihr Huf auf Holz. Sie hatte nicht gezählt, der wievielte Tritt es war. Doch die massiven Bretter gaben nicht einmal ein winziges Stückhen nach.
„So ein verdammter Mist“, keuchte sie. „Ich muss hier raus. Mist, Mist, Mist.“ Sie schaute auf das benutzte Stroh unter sich. „Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Sie warf den Kopf in den Nacken. „Hallo? Ist nicht mal Zeit für die Abendfütterung? Oder kann ich vielleicht jemanden anrufen? Das steht mir zu.“ Dann erst fiel ihr ein, dass es noch Jahrhunderte dauern würde, bis das Telefon erfunden und die Menschenrechte eingeführt wurden. „Verdammter Mist!“
„Du sitzt ganz schön im Schlammassel“, bemerkte Eagle, der seit einiger Zeit auf der Bretterwand hockte.
„Dummes Pony“, kommentierte Nana von der anderen Seite. „Wie hast du das nur hinbekommen?“
Bluey wusste genau, dass beide nur Auswüchse ihrer Fantasie waren. „Na toll, ich höre Stimmen. Wäre eigentlich ein Fall fürs Sirenchen, aber die ist ja gerade völlig durchgedreht.“
Die blauhaarige Opernsängerin hatte das Pony vor kurzem besucht und ihr einige Opernarien vorgeschmettert. Doch sie hatte ihr weder neues Stroh, noch Futter oder Wasser gegeben.
„Alle verrückt und bekloppt und durchgedreht. Wirklich alle. Sogar ich.“
„Vielleicht solltest du weiter gegen die Wand treten“, riet Gedanken-Nana. „Damit bekommst du die Tür auf.“
„Oder du machst deinen Huf kaputt, wirst lahm und sie erschießen dich“, krächzte Gedanken-Eagle.
„Die Schusswaffen sind noch nicht so gut“, belehrte Bluey die beiden. „Schätze, sie würden mir eher die Kehle durchschn…“ Sie brach ab, warf den beiden einen strafenden Blick zu und trat anschließend wieder gegen die Tür. „Ich bleib garantiert nicht bei den Verrückten.“
„Wäre das nicht einfacher?“, wollte Gedanken-Nana wissen. „Immerhin hast du dich schon gut angepasst. Du redest mit dir selbst.“
„Außerdem wissen alle, dass du total durchgedreht bist“, ergänzte Gedanken Eagle.
„Chill doch mal“, riet der Rabe.
„Chill doch mal“, wiederholte der Adler.
„Chill doch mal, chill doch mal“, krächzten beide im Chor.
„Ihr könnt mich alle beide gerne am Hintern knutschen.“ Bluey presste sich die Hufe gegen die Ohren, um die Stimmen nicht hören zu müssen.
„Wie bitte? Ist es nicht zu früh für solche Angebote“, wollte jemand wissen.
Das Pony sah auf. In der Tür stand ein junger Seemann. „Na toll, jetzt fantasier ich auch noch. Da kann ich mich ja gleich einsargen“, schimpfte sie.
Der Matrose war irritiert. „Wie meinen? Ich bin echt und der sechste Verwalter dieses Landes. Ich bin der Seemann, der aus dem Team geflohen ist.“
Sie winkte ab. „Nimm es nicht so tragisch, dass du hier auftauchst. Ich hab hier schon zwei imaginäre Vögel sitzen, zu denen passt du verdammt gut.“
„Du weißt aber schon, dass ich hier bin, um dich zu retten?“, fragte er. „Jede Geschichte braucht einen Helden.“
Sie lachte ihn aus. „Der ist ja gut. Meine Fantasie wird immer besser.“
„Ehrlich, ich hab sogar ein Boot mitgebracht. Damit bin ich bis hierher gesegelt.“ Er hielt ihr ein gefaltetes Pappschiff hin. „Also komm, bevor mich jemand entdeckt.“
Bluey lag lachend auf der Bretterwand. „Ein Papierbötchen! Das ist absolut einmalig. Ponyleinchen, jetzt bist du völlig durchgeknallt, du verrücktes Duziduzidu.“
„Wenn du jetzt nicht kommst, geh ich wieder“, schimpfte der Neuankömmling.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Na gut, dann wollen wir mal. Bin gespannt, wann ich gegen eine Wand renne und sich das Ganze endlich als Traum entpuppt.“
„Leise.“ Der Matrose wickelte ihr Tücher um die Hufe, damit ihre Schritte nicht so hallten. „Mach keinen Lärm.“
Gehorsam schlich sie hinter ihm her und folgte ihm durch die verschlungenen Gänge des Schlosses, bis er schließlich anhielt. Zu ihrem Erstaunen passierte nichts und so langsam dämmerte ihr, dass der Matrose nicht nur real war, sondern ihr wirklich helfen wollte.
„Hinter dieser Tür ist ein geheimer Durchlass zum Burggraben“, erklärte er. „Man kann hindurchsegeln. Du musst das Boot nehmen, deinen Kopf benutzen und es dir richtig groß wünschen. Schaffst du das?“
Sie sah ihn skeptisch an. „Das funktioniert eh nicht.“
Er klopfte ihr gegen die Stirn. „Streng mal deine Murmel an. Nur so kommst du hier raus und zurück in deine Zeit.“
„Aber …“
„Du bist doch mit einem Ballon hierher geflogen?“
„Ja“, antwortete sie zögernd.
„Also, musst du auch auf ungewöhnlichem Wege zurück. Na los, vertrau mir. Was hast du schon zu verlieren?“ Er drückte ihr das Boot zwischen die Zähne und zog ihr die Tücher von den Hufen. „Ab jetzt. Verschwinde. Oder willst du für immer hierbleiben?“
Sie unterdrückte eine freche Antwort, schlüpfte durch die Pforte und trabte zur Wasserstelle. Dort setzte sie das Bötchen ab. Obwohl sie erwartete, dass es sinken würde, schwamm es ruhig auf der Oberfläche. „Gut, dann wünsch ich mir ein großes Schiff.“ Sie runzelte die Stirn und dachte ganz fest an ihren Wunsch. Tatsächlich begann sich das Boot zu strecken und zu dehnen, bis das Pony bequem darauf Platz hatte.
„Ob es mich überhaupt tragen kann?“, fragte sich Bluey. „ Andererseits: Was habe ich schon zu verlieren?“ Achselzuckend kletterte sie an Bord. Kaum hatten ihre Füße das Ufer verlassen, da segelte das Schiffchen auch schon wie von Geisterhand los. „Bring mich nach Hause“, wieherte sie enthusiastisch, vergaß dabei allerdings, dass sie gerade die Burgmauer passiert hatte und mit dem Lärm die Wachen alarmierte.
Diese erkannten sie zwar nicht, wussten aber, dass es sich um einen Ausbrecher handelte. Also zögerten sie nicht lange und schickten ihr einen Hagel Brandpfeile hinterher. Sie bückte sich weg und wurde nicht getroffen. Doch das Pony war nicht das Einzige, was brennen konnte. Natürlich traf einer der Pfeile das Schiff. Dessen Papier fing sofort Feuer und es bekam ein Loch, worauf es in Sekundenschnelle versank.
Bluey war rechtzeitig heruntergesprungen und paddelte jetzt mit sauertöpfischer Miene im Wasser. „Na toll, du dummes Pony“, schimpfte sie mit sich selbst, während sie versuchte, aus der Reichweite der Pfeile zu flüchten. „Hast du super hingekriegt, ehrlich! Respekt dafür.“
Doch es sollte noch schlimmer kommen.
„Wohin so eilig?“, fragte die Opernsängerin, die plötzlich aus dem Wasser vor ihr auftauchte. „Wolltest du nicht noch bleiben?“
„WAAAAAH“, schrie das Pony erschrocken, womit sie auch noch die letzten Wachen auf das Geschehen im Graben aufmerksam machte. Doch es erholte sich schnell. „Eine Hexe!“, brüllte sie den Soldaten zu und zeigte auf die Sängerin. „Verbrennt sie.“
Zu ihrem Glück konnten die Wachen nicht erkennen, wen sie vor sich hatten. Sie sahen nur die Gestalt auf dem Wasser stehen, den Rest erledigte ihr Aberglaube. Blitzschnell wurden Pfeile aufgelegt und Sehnen gespannt. Die Sängerin hatte ihre liebe Not, den Angriffen rechtzeitig zu entkommen und musste abtauchen.
Bluey glaubte sich gerettet. Ihre Erleichterung währte jedoch nur Bruchteile von Sekunden, denn die Wachen wollten sicher gehen, dass sie das angreifende Zauberwesen vernichtet hatten. Daher beschlossen sie, Pech in den Graben zu leiten und es anzuzünden. So ein Pech für das Pony. Sprichwörtlich.
„Seid ihr noch zu retten“, schimpfte Bluey und kraulte wie eine Wahnsinnige zum Ufer. „Wollt ihr mich umbringen?“
Die Rettung schien zum Greifen nah. Doch plötzlich wurde das Pony durch einen Ruck an seinem Schweif aufgehalten. Panisch blickte sie sich um, während die Wachen immer mehr Pech ins Wasser gossen.
Ein Schatten war unter der Oberfläche des Grabens zu erkennen, halb Mensch, halb Fisch. Die Sängerin! Als die Soldaten den See mit einem gezielten Schuss in Brand setzen, grinste sie geisterhaft, winkte einmal spöttisch und begann, enge Kreise um Bluey zu schwimmen. Schneller und schneller wurde sie, bis das Wasser anfing, ihren Bewegungen zu folgen und einen Strudel zu bilden.
„Nein“, schrie das Pony, während es immer weiter zum Inneren des Trichters gezogen wurde. „Nein.“ Sie kämpfte mit allem, was sie hatte, doch der Mahlstrom war zu stark. Ihre Kräfte erlahmten. Willenlos ließ sie sich mit hinab ziehen. „Aaaaaaaaah“, war das Letzte, was man von ihr hörte.
„Wirst du wohl endlich wach?“ Eine schmale Hand klatschte in ihr Gesicht und sie richtete sich ruckartig auf.
„Ich will nicht ertrinken“, rief sie und paddelte wild mit den Beinen durch die Luft.
„Bluey, es ist alles okay. Dir passiert nichts“, versicherte Saki. „Du warst nur ohnmächtig.“
„Du hast dir bei deinem Stunt auf dem Karussell den Kopf angeschlagen. Warum musstest du auch bei voller Fahrt rausspringen?“, ergänzte das Sirenchen.
Das Pony starrte sie mit entsetztem Gesicht an. „Weiche von mir, du böse Hexe.“
Ihre Freundin war schwer beleidigt. „Das geht jetzt aber zu weit. Ich kann auch nichts dafür, dass du zu blöd bist, um Karussell zu fahren.“
„Tu doch nicht so. Du hast mich gepiesackt, seit ich mit dem Ballon gelandet bin! Die ganze Zeit wolltest du mich nur einsperren, damit ich mit dir bei den Verrückten bleibe.“
Das Eulchen wedelte sich mit dem Flügel vorm Gesicht herum, als wollte sie sagen ‚Das Pony ist völlig plemplem‘. „Krieg dich wieder ein. Du bist nirgendwo mit einem Ballon gelandet. Du warst die ganze Zeit hier. Hier auf dem Jahrmarkt. Du bist aus dem Karussell gesprungen, mit dem Kopf dumm aufgekommen und warst lange Zeit ohnmächtig.“
„Das stimmt nicht.“ Bluey erzählte, was sie erlebt hatte. „Das muss wahr sein, seht ihr, mein Ballon ist weg und ich bin ganz nass.“
Die anderen beiden Moderatoren schüttelten nachsichtig den Kopf.
„Wir haben dich nicht wecken können und deshalb mit kaltem Wasser übergossen. Deinen Ballon hast du beim Sturz losgelassen und er ist weggeflogen“, erklärte Saki betont langsam.
„Und ich würde dich nie piesacken, liebstes Pony“, fügte das Sirenchen hinzu.
Bluey runzelte die Stirn. „Stimmt auch wieder.“ Allmählich begriff sie, was ihre Freundin ihr zu sagen versuchten. „Dann ist also nichts davon passiert? Alles ist normal?“
Die beiden nickten und waren erstaunt, dass ihnen das Pony erleichtert um den Hals fiel.
„Ich bin ja so froh“, rief es dabei.
„Worüber bist du froh?“, fragte Hades, der gerade vorbeikam, um auf dem Jahrmarkt nach dem Rechten zu sehen.
Das Pony nutzte die Gelegenheit und schlang ihm die Hufe um den Hals. „Du bist auch ganz normal.“
Das bewies er ihr auch prompt, in dem er die Flauschattacke mit der Nagelkeule abwehrte und sie so zu Boden schickte. „Natürlich bin ich normal. Hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen?“
„Also mit deiner Attacke zwei“, antwortete das Sirenchen trocken und half Bluey auf. „Na komm, lass uns einen Kakao trinken gehen. Ich lad euch ein.“ Sie leckte sich über die Lippen. „Ich hol mir einen mit Milchschaum.“
So fröhlich, wie es in ihrem Temperament entsprach, zogen die vier Mods von dannen. Niemand bemerkte, dass Bluey durch Hades‘ Angriff etwas verloren hatte. Es war eine feuchte Pergamentrolle. Die Aufschrift war durch das Wasser verschmiert, doch ein aufmerksamer Beobachter konnte noch folgende vier Worte entziffern: „Whoso list to hunt“.