Anna
Noch immer sitzt dieser Fremde auf meinem Bett und lächelt mich an. Ich frage ihn nochmals was er hier macht.
Die Antwort die ich von ihm erhalte, verwirrt mich jedoch noch mehr. Denn mit schnellen Schritten kommt er auf mich zu. Ich weiche zurück, doch er stoppt nicht.
Einen Moment lang weiß ich nicht was ich machen soll, doch dann ist es zu spät. Er umschließt mich mit seinen starken Armen. Es ist nichts weiter als eine Umarmung von einem Menschen, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Meine Hände baumeln an meinem Körper hinunter und ich habe das Gefühl mich nicht bewegen zu können. Vollkommen erstarrt, lasse ich es über mich ergehen, obwohl ich es hasse, von fremden Menschen angefasst zu werden. Aber wer hat das schon gern?
Nach einem etwas peinlichen Moment, löst er sich von mir und lässt seine Hände auf meinen Schultern veharren. Mit einem Lächeln im Gesicht starrt er mich nun an.
„Ich bin so froh, dich endlich in den Armen zu halten. Ich habe dich so vermisst und ich dachte wirklich du würdest nicht mehr zurück kommen und du hättest mich verlassen.“
„Ähm, es tut mir wirklich leid, aber ich glaube du bist hier falsch. Ich weiß nicht wer du bist oder was du hier machst.“
Er weicht zurück und sieht mich noch immer mit diesem Lächeln an. Irgendwoher kenne ich dieses Lächeln, aber ich weiß nicht woher.
„Es tut mir leid Anna, manches mal vergesse ich, dass ich dich kenne. Du dich aber nicht mehr an mich erinnern kannst. Ich bin David.“
Seine Hände liegen noch immer auf meiner Schulter und er sieht mich noch immer mit diesen grünen Augen an. Ich brauche wirklich lange um zu begreifen, dass es dieser Wolf aus meinem Traum sein könnte. Doch ich bin mir mit nicht mehr sicher. Diese Welt ist einfach zu verrückt und immer für Überraschungen gut.
„Okey, ich denke es ist jetzt besser du setzt dich. Ich werde dir alles in Ruhe erklären.“
Er nimmt meine Hand und zieht mich nach sich. Ich folge ihm wie ferngesteuert. Irgendwie bin ich gerade vollkommen überfordert, also setze ich mich, wie er gesagt hat, auf das Bett. Er geht zu dem Schreibtisch und holt einen Stuhl. Mit der Lehne an seiner Brust setzt er sich mit einer eleganten Bewegung darauf. Seine Hände ruhen auf der Lehne und er sieht mich schon wieder so an. Wieder habe ich das Gefühl, diesen Gesichtsausdruck schon einmal gesehen zu haben, aber ich kann ihn noch immer nicht zuordnen und das ärgert mich.
„Also, ich weiß nicht, wie ich es dir am schonendsten beibringen kann. Ich denke ich fange einfach von vorne an.“
Er macht eine Pause und sieht mich fragend an. Als ich begreife was er von mir will, nicke ich ihm zu. Dann streift er sich die Mütze vom Kopf und fährt sich mit seinen Fingern durch die langen braunen Haare und sein Gesichtsausdruck wirkt nicht mehr so locker wie vorhin. Er wirkt jetzt eher ein bisschen ängstlich und unsicher.
„Okey, dann leg ich mal los. Also ich wurde bei meiner Geburt, von meiner Mutter und meiner Schwester getrennt. Da unsere Mutter gewusst hat, dass wenn sie Zwillinge gebärt, einer davon dem Bösen zugewandt ist, hat sie nach einer Lösung gesucht. Sie wollte nicht, dass eines ihrer Kinder sich dem Bösen zuwendet, so wie es immer prophezeit wird. Sie wusste das beide Kinder das Hexengen in sich trugen und sich irgendwann einer von ihnen, von ihr und somit von dem Guten abwenden würde. Also hat sie nach langer Suche auch eine Lösung gefunden. Sie wusste es würde ihr unendliche Schmerzen bereiten und es war die schwierigste Entscheidung in ihrem Leben. Aber sie wusste auch, dass es die einzige Möglichkeit war, für beide eine gute Zukunft zu schaffen. Also entschied sie sich, gleich nachdem sie mich geboren hatte, mich nicht als Hexe weiterleben zu lassen. Sie hat mein Hexenblut in ein anderes verwandelt. Sie hat mich zu einem Werwolf gemacht. Eigentlich ist dies nicht möglich, aber ich habe alle Gaben die auch ein geborener Werwolf hat. Nur konnte sie mich, so wie ich war, nicht länger bei sich haben. Denn es ist gegen die Gesetze der Guten Hexen und der anderen Welt so einen Zauber anzuwenden. Also hat sie mich zu einem Wolfsrudel gebracht. Es war das Rudel, in dem sie als Hexe gedient hat. Sie kannte dort meine Pflegemutter und sie hat ihr vertraut. Ich könnte mich nicht beschweren. Ich hatte wirklich eine schöne Kindheit. Auch wenn ich dich und Mutter vermisst habe. Ich habe niemals aufgehört an euch zu denken. An dich zu denken. Anna, du bist meine Schwester.“
Er hört auf zu sprechen und sieht mich mit wartendem Blick an. Ich kann nicht anders als ihn anzustarren. Diese Geschichte ist so verrückt, dass ich ihn am liebsten auslachen würde, doch ich kann nicht. Denn irgendetwas an diesen Augen sagt mir, dass ich ihm glauben sollte. Jetzt wird mir so einiges klar. Die heimlichen Gespräche von meiner Mutter. Sie hat oft über einen David gesprochen. Aber niemals in Gegenwart von meinem Vater. Es war immer nur dann, wenn meine Tante zu Besuch war. Doch je älter ich wurde, desto weniger habe ich den Namen gehört und irgendwann hat sie ihn dann gar nicht mehr erwähnt. Ich kann mich nicht mehr wirklich an das erinnern, aber ich sehe in David's grüne Augen und ich sehe mich selbst und meine Mutter. Die Ähnlichkeit ist eigentlich kaum zu übersehen. Nur kann ich es nicht glauben. Wieso hat sie es all die Jahre vor mir geheim gehalten? Ich wusste die ganzen Jahre über nicht, dass ich noch einen Bruder habe. Wie gerne hätte ich mir in manchen Situationen einen Bruder gewünscht und jetzt habe ich einen. Es ist einfach alles zu viel. Vor ein paar Monaten war mein Leben noch so normal und in Ordnung. Doch jetzt geht es von einem in das nächste und ich habe das Gefühl gar nicht mehr mitzukommen.
„Anna, sag etwas. Bitte.“
David sieht mich flehend an und ich starre ihm noch immer in diese Augen. Noch immer weiß ich nicht was ich sagen soll. Doch ich kann es nicht ertragen ihn so zu sehen, also stammle ich ein paar Wörter über meine Lippen.
„Wieso erst jetzt?“
Er sieht mich überrascht an.
„Das ist alles? Etwas anderes willst du nicht wissen?“
Als er mich wieder mit durchdringendem Blick ansieht, schüttle ich meinen Kopf.
„Ich denke vorerst nicht.“
„Ich bin erst jetzt gekommen, da ich dich so sehr gespürt habe. Ich habe deine Angst gespürt und ich konnte dich nicht alleine lassen. Ich konnte aber auch nicht früher zu dir kommen. Ich wollte dich nicht zu bald in diese Welt hineinziehen. Denn, wenn jemand Übernatürliches in das Leben einer Hexe tritt, werden ihre Kräfte aktiviert. Ich hatte gehofft du hättest noch ein bisschen länger Zeit, um dieser Welt noch ein Weilchen zu entkommen. Doch leider habe ich mich getäuscht.“
Ich bin überrascht. Überrascht über seine Ehrlichkeit und über das Gefühl, dass ich soeben habe. Es ist das Gefühl von Vertrautheit. Es ist das selbe Gefühl, dass ich empfunden habe, wenn ich mit meiner Mutter zusammen war. Er muss gut sein. Irgendetwas sagt mir, dass ich ihm vertrauen kann. Ich spüre so eine starke Verbindung zu ihm, die ich nicht kenne.
„Okay, und was jetzt?“
Ich sehe ihn an und ich habe soeben entschlossen mich zu freuen. Auf einen Bruder und auf einem Menschen den ich vertrauen kann. Vielleicht sagt jetzt eine Stimme in mir, dass ich nicht jemanden vertrauen kann, denn ich soeben das erste Mal getroffen habe. Aber ich kann ihm vertrauen. Ich weiß es. So sicher war ich mir noch nie. Es ist ein unerklärliches Gefühl. Als würde ich ihn schon Ewig kennen. Er steht nun auf und kommt auf mich zu. Er kniet sich vor mich und legt seine Hände auf meine Knie.
„Anna, ich weiß es werden noch so viele Fragen in deinem Kopf auftauchen, ich werde dir jede Frage beantworten, die du mir stellen willst. Das verspreche ich dir. Ich werde dich nie im Stich lassen und immer für dich da sein, das verspreche ich dir bei meinem Leben. Ich hatte solche Angst um dich, in den letzten beiden Tagen. Ich dachte wirklich du würdest nicht mehr wieder zu deinem Körper zurückkehren und ich hätte dich für immer verloren.“
„Du meinst seit dem Tag, wo ich dich in meinem Traum gesehen habe?“
In seinem Blick liegt etwas fragendes. Vielleicht weiß er nichts davon, das ich von ihm geträumt habe. Wie sollte er auch? Anna, du bist einfach zu sehr durch den Wind, sagt meine innere Stimme, nach dieser blöden Frage. Doch seine Antwort trifft mich mitten ins Gesicht.
„Anna, du warst die letzten beiden Tage nicht bei dir. Du warst schon fast tot, als ich dich gefunden habe. Kannst du dich etwa an nichts erinnern?“