Es blieb nicht bei dem einen Glas. Nein, Anton bestand resolut darauf, zumindest gemeinsam die gesamte Flasche Sekt zu leeren, um dem 'vermaledeiten Abend' - seine Worte, nicht die des unglücklichen Gewinners, der traurig in das sich immer wieder füllende langstielige Glas schaute - den gewissen Touch zu geben. So kam es, dass Felix angeheitert doch noch recht zufrieden bei seiner Familie stand, die extra aus Norddeutschland angereist war, um ihn zu unterstützen.
Anton hingegen trat gegen Ende des Abends vollkommen beduselt ans Mikrofon auf der bis dato verweisten Bühne und gab eine aus dem Ärmel geschüttelte Laudatio auf den zu Unrecht unterschätzten Sandstein zum Besten, der sich doch so vortrefflich für die moderne Architektur eigne. Bevor der Sicherheitsdienst den betrunkenen aber in Felix' Augen vollkommen friedlichen Künstler mit sanfter Gewalt aus dem Saal entfernen konnte, schaffte er es gerade noch, das Steuer herumzureißen und Anton zu einem kleinen Spaziergang an der frischen Luft zu überreden.
Gemächlich schlenderten sie nun die Gässchen in der Nähe der Galerie entlang. Wobei man bei seinem Rivalen womöglich eher von unsicherem Torkeln sprechen musste.
"Bissu auch so unsicher auf deinen Beinen?", wollte Anton mit hoch konzentriert gerunzelter Stirn von Felix wissen.
Dabei machte der brünette junge Mann ein Gesicht, als versuche er, ein wahrlich unlösbares Puzzle zu enträtseln. Verwirrt starrte der Gefragte auf seine Füße und damit auf das Kopfsteinpflaster unter diesen. Nein, er war durchaus noch sehr standfest, wenn er sich auch angenehm beschwingt fühlte. Daher sah er Anton nur stumm an und zuckte verständnislos mit den Schultern.
"Na weil du nich' grade läufst, sondern so", verdeutlichte der andere seine vorab gefasste Vermutung und begann, in Schlangenlinien noch drastischer über den Gehweg zu eiern, als er es vorab bereits getan hatte. Peinlich berührt schaute sich Felix nach allen Seiten um.
"Hör auf damit, Toni!", bat er, nein zischte er seinen Kontrahenten an, in der Hoffnung, dieser möge sein sicherlich maßlos übertriebenes Nachäffen seines Ganges aufgeben.
Tatsächlich stolperte Anton kurz darauf über seine eigenen Füße und Felix bekam ihn gerade noch am Zipfel seiner Anzugjacke zufassen, bevor er sich auf die Nase gelegt hätte. Belustigt giggelnd klopfte Anton ihm auf die Schulter, legte ihm gar einen Arm um den Nacken und zog ihn an sich. Das war doch sehr ungünstig. Aus einfachen zwei Gründen.
"Erstens", murmelte Felix kaum hörbar an sich selbst gerichtet, "die Fugen."
"Hä?", brummte Anton unverständig, doch störte sich scheinbar nicht weiter am Selbstgespräch seines verschrobenen Kollegen.
Felix jedoch war bemüht, in seiner nun aufgrund der halbseitigen Umarmung recht schief geratenen Körperhaltung die hart antrainierte Schrittlänge beizubehalten, die dafür sorgte, dass er niemals - wirklich niemals - auf eine dieser verfluchten Fugen im Kopfsteinpflaster trat!
Nun steuerte Anton aber seinen Schritt und da dieser selbst mehr schlecht als recht koordinierte, lief Felix Gefahr, jeden Augenblick in sein Unglück zu laufen. Dabei konnte es kaum schlimmer sein, da -
"Zweitens", keuchte er und wusste, dass sich hektische rote Flecke auf seinen Wangen und Hals ausgebildet hatten, "der Körperkontakt."
Nicht, dass er einer von diesen Neurotikern wäre, die bei Berührungen aus Angst vor Ansteckungen mit den absurdesten Gedanken schreiend davon liefen und sich in einem sterilen Umfeld verbarrikadierten.
Aber Felix mochte es nicht, überraschend angefasst zu werden. Dann war er nicht vorbereitet. Es war unangenehm und manchmal schwitzig und klamm oder klebrig -
Ein Schauer überlief seinen Körper, eine abwehrende Gänsehaut sorgte dafür, dass sich die Haare an seinen Armen sträubten. Es geschah ganz automatisch, wenn er darüber nachdachte. Da saß das Unbehagen am Steuer.
Möglichst unauffällig versuchte Felix sich aus dem Todesgriff zu lösen, vollführte dabei einen beinahe akrobatischen Akt, als er sich in einen gewagten Ausfallschritt begab, um ja nicht auf einen der Räume zwischen den Steinen zu geraten und schickte ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass niemand der wenigen Passanten, die sich noch mit ihnen auf den Straßen tummelten, ein Smartphone parat hatte und beschloss, seine Aktion für die Ewigkeit festzuhalten und auf einer der beliebten Internetforen mit der Allgemeinheit zu teilen.
Sich die zottligen dunkelblonden Haare aus dem Gesicht wischend, rang Felix einen Augenblick nach Atem, triumphierte kurz, nur um dann in ein Paar ungläubig aufgerissener nebelgrauer Augen zu sehen. Anton starrte Felix an, als habe er soeben jeglichen vermuteten Verstand eingebüßt, der nach den aufreibenden zwei Monaten Wettbewerbsstress noch vorhanden gewesen wäre.
"Bist schon'n schräger Vogel, Jeger", kommentierte der Bildhauer Felix' unfreiwillige Slapstickeinlage, "sag doch, wenn ich dir auf die Pelle rück, anstatt wie wild die Flucht anzugehen."
Erschrocken stellte Felix fest, dass ein Hauch Bitterkeit in Antons Stimme mitzuschwingen schien. Dabei hatte der andere Mann seine Reaktion auf die vertraute Umarmung ganz falsch aufgefasst. Es hatte doch nun gar nicht an der Geste an sich gelegen oder - Gott bewahre - an der Person, die diese initiiert hatte! Sie war nicht angekündigt gewesen, verflucht!
Warum hatte Anton nicht einfach vorab ein Warnsignal geben können? Dann ... ja, dann, was? Hätte Felix sich mental mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Kommende einstellten können. Dann wäre es schon gegangen. Erträglich gewesen. Vielleicht sogar ganz schön.
Sie hätten auch stehen bleiben können. Ja, das wäre gut gewesen. Besser, als den Weg fortzusetzen und womöglich noch auf eine dieser verdammten Fugen zu treten. Wer wusste denn schon, was dann passiert wäre?!
Felix schüttelte entrüstet seinen Kopf. Es war zum Haareraufen.
"Verstehe - brauchst auch nix dazu sagen. Die Schweigenummer kenn' ich schon zur Genüge. Echt, Jeger, ich dacht', du bist anders."
Entrüstet, ja geradezu vor den Kopf gestoßen, stand Felix da. Er wusste gar nicht so recht, was er sagen sollte. Jetzt hatte er sich doch glatt in seinen Gedanken verloren und darüber verschwitzt, Anton zu beschwichtigen.
Nur zu verständlich, dass dieser wieder die falschen Schlüsse zog, oder? Allerdings musste Felix sich doch zurecht fragen, ob es da Sinn machte, den anderen aufzuklären, wenn Anton nicht einmal sah, dass Felix mit sich kämpfte? Oder war er tatsächlich so undurchschaubar? Aber wenn dem so war, kam er dann bei anderen auch so intolerant rüber? Dachte man womöglich am Ende noch, er sei ein arroganter Mistkerl, der andere Lebensstile nicht respektierte?
Was, wenn Anton das herumerzählte ... schließlich war er in dieser Szene doch bekannt, richtig? Felix bekäme keinen Stein mehr ins Brett! Einpacken könnte er, seine Karriere wäre beendet, noch bevor sie richtig begonnen hätte und -
"To-ni?", holperten die Silben sich überschlagend über Felix' Lippen.
Doch alles was er noch von dem anderen Mann sah, war dessen Rückansicht. Betreten starrte er Anton nach, der mit schleichenden Schritten aber angespannten Schultern davon ging.
Sie waren immer Kontrahenten gewesen, doch noch nie hatte Felix das Gefühl gehabt, weiter von Anton entfernt zu sein, als in diesem Moment. Wie hatte der Abend nur so in die Hose gehen können?
"Erstens", murmelte Felix und zückte sein Notizheft.