Anton schien es für eine gute Idee gehalten zu haben, ihn die restliche und folgende Woche in Ruhe zu lassen. Vermutlich sollte Felix ihm dankbar sein, war die Doppelsitzung bei Herrn Jakobi doch kräftezehrend und er anschließend vollkommen aufgelöst. Noch Tage später fühlte er sich ... irgendwie roh.
Dennoch hätte der junge Künstler sich Zärtlichkeiten gewünscht, die ihm zeigten, dass er mit seinen holprigen ersten Bewältigungsversuchen nicht allein war. Statt hier einem sanften Streicheln und dort einem kurzen Ziehen in eine Trost spendende Umarmung, musste sich Felix jedoch mit Antons rar gesäten schiefen Lächeln begnügen.
Traurig sah er dabei zu, wie Anton auf einem Schemel sitzend an einem Stück Silber arbeitete. Wie schon die letzten zehn Tage, an denen er Felix so wenig Beachtung geschenkt und stattdessen bis spät in die Nacht hinein hier im Atelier gewirkt hatte. An diesem Silberstück, in das er so behutsam Ornamente einarbeitete?
Der Blondschopf ertappte sich bei dem innigen Wunsch, selbst gern von diesen kräftigen aber so vorsichtigen Händen auf eine solch liebevolle Weise berührt zu werden. Doch noch immer erfolgte von dem älteren Mann keinerlei eigene Initative, nun sogar nicht einmal mehr das Verschrenken der Hände. Es war, als seien sie wieder gute Bekannte.
"Meister Jeger?", kam Karolina auf ihn zu und erreichte somit, dass er seine Aufmerksamkeit fort von Anton lenkte, hin zu der jugendlichen Auszubildenen, "darf ich Sie was fragen?"
"Sicher, was gibt's denn?"
In den vergangenen Tagen war Felix geübter darin geworden, sich mit den Gesellen zu arrangieren, hatte gar Spaß daran entwickelt, diesen vielversprechenden Nachwuchskünstlern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Daher lehnte er sich abwartend gegen das Wandgemälde, welches sich in der Entstehung befand, wischte sich die Farbe von den Händen an der löchrigen Jeans ab und stellte die aus seinen Kopfhörern schallende Klaviersonate A-Moll, KV 310 von Mozart leiser, die er als Inspiration nutzte, um - auf Anraten seines Therapeuten - sich mit dem erfahrenen Verlust der Bindung zu seinem Elternhaus auseinanderzusetzen.
"Ich möchte bei meiner Installation mit einem Farbspiel aus Kontrasten arbeiten. Können Sie sich das mal ansehen?", bat das Mädchen neugierig.
Gutmütig nickte Felix, ließ sich von ihr hinüberführen, um ihr Werk zu betrachten, erste Vorschläge zu unterbreiten.
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Anton derweil von seinem Projekt abließ, um Kemal und Tobias bei ihrem Gemeinschaftsprojekt zu helfen und auf eine Leiter stieg, damit er den oberen Teil der Holzskulptur untersuchen konnte. Schwer seufzte Felix, war er doch tatsächlich eifersüchtig auf die beiden Jungen, die sich der wohlwollenden Aufmerksamkeit dieses fantastischen Mannes gewiss sein durften.
Mit roten Wangen ergab sich Felix dem Drang, der sich in ihm zusammenbraute.
"Toni?", rief er scheinheilig und drehte sich zu dem auf der Leiter balancierenden Bildhauer herum, "magst du dir gleich meinen neusten Entwurf ansehen?"
Er konnte förmlich Jakobis Stimme hören, der ihm erklärte, dass dieses Verhalten lediglich dazu diente, seine Angst nach versagten Bindung zu besänftigen. Doch konnte der Maler in diesem Moment schlicht nicht an sich halten, war er doch vollkommen verunsichert über Antons so ungewohnt neutrales Verhalten ihm gegenüber.
"Sicher. Ich komme gleich. Gib mir eine Minute, diese Stützbolzen wollen nur gerade einfach nicht so, wie ich will."
Kritisch beobachtete Felix die linkische Handhabung des Bildhauers mit dem ihm angereichten Werkzeug, schnappte gar nach Luft, als er die rote Farbe erkannte, die das helle Holz hinunterrann, war er sich doch gewahr, dass Anton nicht mit Farbe arbeitete, seine Materialien abgesehen von einer Lasur stets naturbelassen ließ.
Die Angst kroch in Felix' Adern, bescherte ihm eine Gänsehaut und brachte seinen Magen dazu, Purzelbäume zu schlagen. Doch nahm er sich einen kurzen Augenblick, um besonnen durch die Nase ein und durch den Mund auszuatmen, beschwor sich und trat dann energisch hinüber.
"Karolina" rief der Jungkünstler über die Schulter, "besorge den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Pausenraum. Kemal und Tobi, helft Meister Fuchs von der Leiter. Vorsichtig!"
"Was soll das, Jeger? Wir sind mitten bei der Arbeit" empörte sich Anton, geriet aber ins Schlingern, als die Jungen ihm folgsam von den schmalen Stufen halfen und er zu bemerken schien, dass er die Sprossen nicht greifen konnte, eine seiner Hände gar seiner Braue gleich nun zwei Löcher zierte, wenn der Piercingstecker entfernt würde.
Die Gesellen brachten den Meister nach hinten und platzieren ihn auf einem der Stühle. Felix kniete sich zwischen Antons Beine, dankte Karolina, die den Koffer brachte und bat dann um Ruhe.
"I-ich - ich hab's nicht - nicht gemerkt" stammelte Anton sichtlich erschrocken seine verletzte Hand betrachtend.
Mit flinken und geübten Fingern verarztete der Blondschopf die Wunde des Mittzwanzigers, nur, um dann innezuhalten und die kalten Finger in seinen warmen zu halten. Er führte sie zu seinen Lippen und hauchte zarte Küsse auf die Kuppen, hoffte, dass Anton verstand, da es ihm nicht möglich war, Worte herauszupressen. So gern er es gewollt hätte, Felix' Brustkorb war zu eng, seine Lungen nicht in der Lage, genug Luft zur Verfügung zu stellen. Ein letztes Mal strich er beruhigend über Antons Knie, erhob sich dann und ging zügig, nein rannte schon fast in die Garderobe.
Sich hinhockend, tauchte er unter die leichten Übergangsjacken und Arbeitskittel, die hier nebeneinander hingen, presste die unkontrolliert zitternden Hände auf seinen so fürchterlich stark schmerzenden Bauch und schluchzte. Beherzt versuchte er, Jakobis Übungen zu befolgen, scheiterte kläglich und erging sich in keuchendem Wimmern, erlag der Apathie, die ihn in dem Glauben ließ, sein letztes Stündlein habe geschlagen.
Das Tappen schwerer Schritte Drang nur dumpf an seine Ohren, die Gestalt, welche vor ihm in die Hocke ging, die Kittel und Jacken fortzog, verschwamm vor seinen Augen. Doch die haltgebenden Arme, die sich um seinen erbebenden Leib legten, ihn an eine warme Brust zogen und ihn sanft wiegten, erkannte Felix ganz automatisch als die Antons - seines Tonis.
Nach und nach kehrte Ruhe in ihn ein, schaffte er es, wieder normal zu atmen, die Bilder abzuwehren, die ihm vorgaukelten, sein Freund erliege in den schlimmsten Szenarien allerhand Unfällen bei der Arbeit bis hin zu einer langsam dahin schleichenden Blutvergiftung.
Erst, als Felix sein hoffnungslos verweintes Gesicht aus Antons schwarzem Hemd löste, baumelte plötzlich eine silbrig schimmernde Halskette vor der Nase des Malers. Erstaunt sah er zu Anton hinüber, der ihn lediglich von der Seite milde anlächelte.
"Eigentlich war die für deinen Geburtstag bestimmt, aber ich dachte, jetzt sei ein besserer Zeitpunkt. Sie ist heute erst fertig geworden", sagte der Bildhauer mit ungewohnt rauer Stimme.
Ehrfürchtig nahm Felix die Kette in die Hand, erkannte den Silberanhänger, an dem sein Freund vorhin noch gearbeitet hatte. Schmunzelte, als er die Ornamente erkannte - einen irgendwie dreist dreinblickenden Fuchs und einen auf eine Flinte gestützten Jäger.
"Frau Dr. Leuter hat mir geraten, mir zunächst darüber klar zu werden, was ich will, bevor ich das zwischen uns so weiterlaufen lasse. Du weißt schon - weil du jetzt so viel durchmachst und ich irgendwie auch ziemlich an meiner Neuropathie knabbere. Sie meinte, ein wenig Abstand könnte uns guttun."
Felix schniefte etwas und Anton zeigte sein verwegenes Grinsen, stieß den Jungkünstler mit seiner Schulter an.
"Ich habe nur das Gefühl, dass wir als Team so viel besser funktionieren, als allein, oder? Ich will dich nicht auf Distanz, Jeger. Ich will das zwischen uns. So richtig, keine halbgaren Sachen mehr. Ich weiß, dass geht arg gegen diese Kontrollkiste, die du am Laufen hast, aber -"
Bevor Anton noch ausreden konnte, hatte Felix sich schon erneut in dessen Arme geworfen, ihre Lippen vereinten sich. Endlich, endlich hatte Anton ihm gezeigt, dass auch er diese Verbindung wollte.