"Verdammt, Jeger!", schallte es mit einer so imensen Lautstärke durch das schöne wie alte Gemäuer, dass Felix die Haare zu Berge standen. Verdutzt blickte er auf und ließ von seiner Tätigkeit ab, die überall in Antons Wohnung verstreuten halbleeren Kaffeetassen und angebrochenen Chipstüten wegzuräumen. Dieses gelebte Chaos störte den blonden Pedanten bereits seit seiner Ankunft, hatte er doch aber die Füße still gehalten, nachdem er aufgrund seiner kräftezehrenden Anreise mit anschließender Schnitzeljagd der Hölle einfach zu ausgelaugt gewesen war, um -
"Erstens", flüsterte Felix vor sich hin, stieg derweil die Stufen in den oberen Stock hinauf, rückte hier und dort eine Fotografie am Aufgang gerade, "um einen Finger zu rühren."
Am Treppenabsatz anelangt schaute er sich verwirrt nach seinem zwangsverpflichteten Mitbewohner um, hatte Felix eigentlich nach einer Nacht auf dessen Couch in ein Hotel umziehen wollen, so fiel diese Alternative nun weg, da seine Konten keinen müden Cent mehr aufwiesen. Zumindest hatte seine Mutter ihm dies nach einem Telefonat preisgegeben, das er noch in der Kneipe geführt hatte. Sein Vater? Abgehauen. Mit all seinem in den letzten Jahren als halbprofessioneller Maler und dem kurzen Monat als Profikünstler verdienten Vermögen.
"Zweitens", lenkte sich Felix ab, steuerte dann, nachdem er einen derben Fluch und ein Rumpeln vernommen hatte, auf das großzügige Bad zu, "um mich nicht mit Toni in die Wolle zu kriegen."
Bloß schwante Felix dumpf, dass es sich in dieser Situation um eine genau solche Misere handeln dürfte. Wieso nur? Er hatte doch bloß Antons Bad während seines Aufenthalts neu sortiert!
Vorsichtig klopfte er an die Tür.
"I kennt di abkrageln!", kam es ihm entgegen und da er bedauerlicherweise nicht verstand, was Anton ihm damit sagen wollte, beschloss Felix, dies als Einladung zu nehmen, hereinzukommen. Das Bild, das sich ihm bot, erschloss sich ihm nicht vollkommen, stand ein leicht schwankender Anton nur mit einem schwarzen Handtuch um die Hüften geschlungen vor der freistehenden Badewanne mit den verheißungsvoll blinkenden Löwenklauenfüßen, blickte jedoch gen mannshoher Spiegelfront neben dem zweiteiligen Waschbecken und der zusätzlichen Monsundusche. Zugegeben, hatten Antons Eltern sich bei der Sanierung des alten Hauses nicht lumpen lassen, fand Felix es nur schade, dass der Flair ein wenig verloren gegangen war.
Sein Freund war zumindest weniger taufrisch, trotz der Dusche, die er nach der Zeche hatte nehmen wollen, um sich wieder einigermaßen anständig herzurichten, denn ihm standen die dunklen widerspenstigen Haare in alle Himmelsrichtungen, Schaum knisterte in den Spitzen und verklebte die Strähnen auf gar absonderliche Weise.
"Wieso zum Geier schmiere ich mir hier gerade Rasierschaum in die Haare?", verlangte der Österreicher mit funkelnden grauen Irden zu wissen. War die Antwort nun doch komplizierter, als vermutet, denn Felix erkannte da durchaus mehrere Möglichkeiten, die er Anton gern hilfsbereit aufzählte, schien dieser doch nicht ganz bei einwandfrei klarem Verstand.
"Erstens, du bist deutlich angeheitert und hast dich daher im Produkt vergriffen."
Offenkundig keine zufriedenstellende Erklärung, Antons Schnauben und den über der ansehnlichen bloßen Brust verschränkten Armen zu urteilen. Diese Brust, die in einen leicht gebräunten Torso überging, nicht so schlank, wie unter der etwas zu großen Kleidung vermutet, sondern durchaus mit einer gesunden Isolierschicht gepolstert -
" Ich habe doch keinen Affn."
Antons Protest brachte Felix' Gedanken wieder zurück zum eigentlichen Thema und seine Augen schnellten zurück auf dessen desaströse Haarmisere, anstatt weiterhin auf gefährliche Wanderschaften zu gehen.
"D-dann, ähm, hmm, zweitens, du warst unkonzentriert, was zu einem kognitiven Schnellschuss führte. Die Dosen sehen sich ja ähnlich. Vielleicht hast du ja nach dem falschen Produkt gegriffen."
Aber auch diese Version traf nicht auf Zustimmung, vielmehr schoss Anton nun Blitze auf ihn nieder. Unwillkürlich zog Felix die Schultern bis zu seinen Ohren empor, hoffte gar, dass der Bildhauer nicht gleich damit drohte, ihn hinaus zu werfen. Denn natürlich wusste er selbst, dass es sich um die dritte Erklärung handelte, die zu der hier eskalierten Situation geführt hatte. Felix war nicht dumm, nur stur.
"Und was ist die dritte Möglichkeit, Jeger?", fragte Anton gefährlich leise.
"Drittens", setzte Felix kleinlaut an, "könnte es ganz eventuell sein, dass ich - also, nur, um es dir leichter zu machen, weil es doch viel mehr Sinn ergibt, wenn alles nach Farbnuancen sortiert ist und dann zusätzlich nach Größe -"
"Des geht mi an, Jeger!", platzte Anton unvermittelt der Kragen, schrie er seinen offensichtlichen Frust heraus und Felix ins rot angelaufene Gesicht. Der blonde Künstler duckte sich noch ein wenig mehr, krümmte seinen Rücken, um sich vor der folgenden verbalen Attacke zu schützen, sich zu wappnen. Die Lider fest zusammengekniffen, erwartete Felix, was stets irgendwann in einer Beziehung aber zumeist auch in den meisten seiner Freundschaften kam. Die Kündigung eben dieser. Ein Adios, Adieu, Danke, aber nein, Danke.
Als das Erwartete ausblieb, es stattdessen für mehrere verstreichende Momente schlicht Ruhe war, die die Luft zwischen ihm und Anton füllte, öffnete Felix irritiert die Augen. Fand Anton auf der heruntergeklappten Toilettenbrille sitzend vor, wie er ihn aus schmalen Augen kopfschüttelnd beobachtete.
"Was soll ich nur mit dir machen, Jeger?", brummte Anton, streckte die Hand nach ihm aus.
Überrascht über sich selbst, trugen seine Beine Felix auf den dunkelhaarigen Älteren zu und er ließ es geschehen, dass dieser ihn ums Handgelenk nahm und mit dem Zeigefinger der anderen geradezu zärtlich sein Kinn berührte. Ein Schauer durchlief Felix, die feinen Härchen an seinen Armen stellten sich auf, doch zum ersten Mal vermochte er nicht zu sagen, ob dies der inneren Sperre vor Berührungen geschuldet war, oder der erstaunlich wohltuenden Wärme, die Antons Körper spendete.
Dennoch machte Felix sich sanft los, trat einen Schritt zurück, um einen gewissen Mindestabstand zwischen Anton und ihm herstellen zu können.
"Soll ich gehen?", krächzte er bang, löste damit ein bestimmtes "Nein" bei seinem Gegenüber aus.
"Du bist hier willkommen, Jeger. Immer. Nur bitte, bitte, versprich mir, dass du mir erzählst, wenn du wieder was … verbesserst, okay?"
Dabei malte Anton Gänsefüßchen in die Luft, um zu verdeutlichen, was er von Felix' Spleens hielt. Doch die liebenswerte Art milderte die Spöttelei, die Worte davor bedeuteten Felix umso mehr. Ohne sein bewusstes Zutun, wurde es eng in seiner Brust, schlug sein Herz viel zu kräftig gegen seine Rippen, wurde ihm bewusst, dass er zu viel für diesen fantastischen und absolut dramatischen wie lauten Mann empfand. Was nicht sein durfte.
Nicht so, wie es jetzt war. Wenn er Anton nichts zu bieten hatte, ihm nur Sorgen bereitete. Felix wusste, dass er sich nicht von der rosaroten Brille täuschen lassen durfte, die ihn dazu verlockte, etwas zwischen ihnen zu sehen, das nicht war. Anton war sein Freund. Der einzige, den Felix vorzuweisen hatte. Diese Kostbarkeit konnte, durfte, er nicht aufs Spiel setzen. So lächelte Felix Anton fragil an, versprach, nichts mehr ohne dessen Unwissen umzuräumen und beschloss, den Rest des Tages zu nutzen, um sich mit einem Block und Stift auf die Suche nach Inspiration zu begeben.