Versonnen lächelnd berührte Felix immer wieder von Neuem die Plakette, die an der silbernen Kette um seinen Hals hing und knapp unterhalb seines Brustbeins ruhte. Auf Wolken war er zurück in den offenen Arbeitsbereich geschwebt, hatte die Tuscheleien der Gesellen gar nicht wahrgenommen, die wie er vermutete seinem verweinten Gesicht geschuldet waren. Oder seinen geschwollenen Lippen? Der verrutschten Kleidung? Nun, das blieb der Fantasie überlassen, Felix war es gleich, was diese Jugendlichen denken mochten. Was ihn interessierte, war das Gewicht um seinen Nacken, ein Zeugnis Antons Zugeneigtheit, das er extra für den blonden Maler gefertigt hatte.
Mit butterweichen Knien torkelte Felix zurück zu seiner Arbeitsstätte, beschloss glatt, dass es genug Trübsal am heutigen Tage geben hatte, als er sich über die Lippen leckte, meinte noch dieses ganz spezielle Aroma auf diesen schmecken zu können. Schloss für einen Moment die Augen und hörte Antons verzückte kleine Laute, die dieser ausstieß, als sie beide in Überwältigung dessen, dass sie eine neue Stufe in ihrer Beziehung erreicht hatten, der Verwegenheit erlegen waren.
Anton strich nah an seinem Rücken vorbei, verweilte einen Herzschlag lang, um verstohlen seine unversehrte Hand unter Felix' mit Farbe bekleckertes Shirt schlüpfen zu lassen. Rasch versicherte sich der Maler, dass die jungen Leute, für die sie die Verantwortung trugen, nichts davon mitbekamen, wie er unter den federleichten Berührungen erzitterte, beherrschte sich, als Anton frech lachte. Doch auch er schien ein Einsehen zu haben, ließ er doch von Felix ab und bat Kemal laut um ein Kühlpack, damit er seine Verletzung versorgen konnte. Besorgt schaute der Jungkünstler ihnen hinterher, nicht sicher, ob er noch eine Warnung aussprechen sollte, dass einer einen Blick dafür hatte, damit Anton keinen Gefrierbrand erlitt. Schließlich könnte es ja sein, dass er nicht spürte, wenn das Pack zu lange zu kalt wäre.
Versichernd fasste er an den Anhänger seiner Halskette, atmete tief durch, um sich dann eine Staffelei und eine Leinwand aufzustellen.
Mit Blick bewusst durch die Glasfront hinaus auf das bunte Treiben vor dem Atelier auf der Straße, kapselte sich Felix von der Außenwelt und somit all seinen Ängsten und Befürchtungen ab, indem er sie verscheuchte. Nichts hatte mehr Platz, drang durch seine Aufwirbelungen und tosenden Brandungen, die sich zu einem gigantischen Tsunami vereinten, als das Epos aus Instrumenten auf sein Trommelfell einschlug, der Gesang sich in seine Gedankenwindungen schlich. Alles war Herz und Gefühl, nichts anderes mehr von Bedeutung oder Wichtigkeit. Es war berauschend und überwältigend zugleich, denn es schien, als kämen seine Hände kaum hinterher, die Töne in Form und Farbe zu wandeln, und doch - und doch - hörte Felix nicht auf, gelänge es ihm gar nicht, hätte er den Versuch unternehmen wollen, wurde er doch getragen auf dieser alles mitreißenden Welle, bis sie ihn sicher mit sich fortriss und verklang.
Als er in die laute und schreiende Außenwelt zurückfand, trafen seine kaffeebraunen Augen auf ihre Ebenbilder. Irritiert starrte Felix einfach nur wie festgefroren hinaus, bis ihm gewahr wurde, dass diese Irden zu einem ovalen weiblichen Gesicht gehörten. Leicht gebräunt und von dunklen beinahe schwarzen Ringellocken umspielt, zeigten sie ihre venezianische Herkunft. Etwas, was Felix überhaupt nicht mit ihr und ihrer Schwester teilte. Nur die Augen zeugten davon, dass auch in seinem Blut 'das südländische Feuer brannte', wie seine Grundschullehrerin immer belächelnd kundgetan hatte.
Wie in Trance sah der Jungkünstler dabei zu, wie Lucia Constantini sich abrupt abwandte, ihr burgunderfarbenes Sommerkleid richtete, um dann auf schwindelerregend hohen Riemchensandalen staksend den klimatisierten Arbeitsbereich zu betreten. Verständlich, nicht wahr? Es war nur zu verständlich, dass Anton lächelnd auf die Dame im teuren Designerkleid zu eilte und ihr die Hand reichte. Sich entschuldigte, als ihm auffiel, dass diese ja noch verbunden war, charmant lachte, sie fragte, ob sie etwas bestimmtes suche oder einen Wunsch habe?
"Ich möchte mit meinem Neffen reden."
Stille. Erdrückende, allumfassende Stille. Alle Aufmerksamkeit ruhte auf ihm, er spürte die Intensität, es machte Felix kribbelig und ja, verflucht ja, das Beißen kehrte in seine Eingeweide zurück.
"Was willst du Lucia?", brachte er mühevoll heraus, straffte seine schmalen Schultern, da er sich rigoros weigerte, seiner Tante irgendeine Art der Angriffsfläche zu bieten. Anton trat sogleich an ihn heran, bot ihm Beistand, stärkte ihm den Rücken.
"Du hast Johann angezeigt", führte Lucia an, verkrampfte ihre Finger eng um die teure Handtasche, dass ihre Knöchel sich weiß färbten, "er hat die monatlichen Zahlungen an Dona eingestellt. Felix - ragazzo - du musst die Anzeige zurückziehen, damit dein Vater wieder -"
"Nein", unterbrach Felix Lucia direkt.
Unfassbar. Was seine Tante verlangte war für den jungen Maler schlicht unbegreiflich.
"Willst du etwa, dass deine Mutter und deine Schwestern unter deinem Egoismus leiden?!"
Da zeigte sich das wahre Gesicht, das jedes Mitglied seiner Familie so lange vor ihm verborgen zu haben schien. Eine Hand auf Antons breite Brust gelegt, besänftigte er seinen Partner, hielt ihn davon ab, auf die Frau, die behauptete, seine liebende Verwandte zu sein und doch nur den weiten Weg auf sich genommen hatte, um ihn auszubeuten - erneut, wie unfassbar - zu zustürmen.
"Es hat Mama auch nicht gestört, als ich gelitten habe, weil Papa mich abgezogen hat. Es hat sie nicht interessiert, wenn ich überarbeitet und fertig von den Wettbewerben spät nachts heim gekommen bin und deswegen die Prüfungen in der Schule versemmelt habe. Hauptsache, ich habe dafür gesorgt, dass sie sicher auf der Hallig bleiben konnte, weil die Welt ach so gefährlich ist. Oder was weiß ich! Ich werde nicht mehr für sie sorgen, soll sie ihren Hintern hoch hieven und arbeiten gehen!"
Zum Ende hin war er stetig lauter geworden, bis er schließlich geschrien hatte. Mit wutverzerrtem Gesicht und geballten Fäusten stand Felix da. Trotz der pochenden Kopfschmerzen und bleiernen Schwere, die sich in seinen Gliedern breit zu machen drohte, empfand der Blondschopf jetzt und hier so etwas wie Stolz.
"Sie sollten gehen", sprach Anton schräg hinter ihm.
So viel ruhiger. Bestimmt und bekräftigend. Mit venezianischem Zungenschlag verfluchte Lucia ihn, doch trat sie zu Felix' Unglauben den Rückzug an. Seine Augen verfolgten, wie die Dame mit der teuren, bunten Kleidung in die schwüle Sommerhitze trat und im Getümmel des abendlichen Trubels Wiens verschwand. Wie ein Geist, der ihn heimgesucht hatte, das Schale Aroma eines bösen Traumes, den er nicht abschütteln konnte.
"Lass' uns für heute Feierabend machen, Hascherl", flüsterte ihm Anton ins Ohr, presste ihm einen Kuss auf die Schläfe. Ausgelaugt lehnte Felix sich mit dem Rücken an den so starken Körper seines Partners und nickte.
"Können wir die Bahn um achtzehn Uhr sechsunddreißig nehmen?", bat er kleinlaut, freute sich über das zustimmende Brummen Antons.
Für heute hatte er genug geleistet. Weiter konnte er nicht standhalten.