Seine Lunge zog sich eng zusammen, entließ die Luft nur schwer wieder in die Freiheit, doch irgendwie entkam sie, strömte warm über seine Lippen, obwohl er eher das Gefühl hatte, als erfriere er innerlich. Alles in ihm war roh, aufgerissen, wund. Bloßgestellt und vor ihm ausgebreitet lag sein Seelenschmerz, die Qual, die ihn zerriss, zerfraß, beinahe zerstört hatte - sie war aus ihm herausgeströmt und hinterließ nichts, als ein zitterndes, wimmerndes Häuflein Elend, stehend vor einer vormalig eidottergelben Wand, getaucht in Farbe, die keine zu sein vermochte, so dunkel, so düster, wie das Gesamtwerk erschien. Er selbst, ebenfalls von diesen Nicht-Farben bedeckt, stand hier und wusste weder ein noch aus, war da nichts mehr von seiner inneren Verzweiflung, der Wut und der Scham. Nichts, keine Erleichterung und kein Hochgefühl. Nichts, nur Leere.
Felix zog sich die Kopfhörer aus den Ohren, betrachtete mit stumpfem Blick weiter das vollendete Wandgemälde in Antons Atelier und fragte sich, warum er eigentlich so dumm gewesen war, auf seinen Therapeuten zu hören. Hoffnungen hatte er sich gemacht, doch alles, was dieses Werk - wenn man es denn so nennen wollte und eigentlich wollte Felix das nicht - in ihm auslöste, war Trostlosigkeit. Wo war die versprochene Erlösung? Warum war da keine Erleichterung? Was hatte er falsch gemacht?
Erschöpft wischte sich der junge Maler mit dem farbbesprenkelten Unterarm über die verschwitzte Stirn.
"Vielleicht kann ich es ja übermalen", sprach er zu sich selbst.
So musste dieses Grauen zumindest niemand anderes ertragen, nur ihn in eine herannahende Depression stürzen.
"Oh, große Güte, Jeger!"
Ach ja, und Anton. Den hatte Felix beinahe vergessen. Auf einem Schemel saß der Bildhauer, beobachtete ihn seit einigen Stunden still dabei, wie er das Wandgemälde vollendete und mit jeder Faser seines Seins doch noch gehofft hatte, es möge daraus wie durch ein Wunder etwas ... Schöns entstehen.
Doch wie könnte es, zeugte diese Malerei doch von seiner desaströsen Familienbande. Nein, daraus etwas herauszulesen, was positiv sein könnte, das war schlicht nicht möglich. Vermutlich würde Anton ein Schild an den Eingang des Ateliers befestigen müssen, auf dem stand 'Für Kinder unter 16 Jahren Zutritt verboten', weil der Anblick dieser Gräueltat schlicht nicht Jugendfrei war.
"Ich weiß", seufzte Felix resigniert, ließ den Kopf im Nacken kreisen, um seine Verspannungen zu lockern und es vernehmlich in seinen Halswirbeln knacken.
"Es ist wunderschön."
"Hä?!", entkam es dem Blondschopf.
Mit weit aufgerissenen kaffeebraunen Augen blickte Felix seinen scheinbar über Nacht zum Kunstbanausen verkommenen Partner an. Schade, zu dessen Neuropathie hatte sich jetzt also auch eine seltene Hirnerkrankung gesellt, wie es schien, denn anders konnte Felix sich Antons offenkundige Geschmacksverirrung nicht erklären.
"Es ist echt", versuchte der Bildhauer, sich zu erklären, stand auf und kam zu ihm herübergeschritten, "ich sehe es mir an und weiß, dass du gelitten hast. Das macht es ... ehrlich."
Felix betrachtete Anton bei der Studie seines Werkes, wie der andere Mann seinen Kopf sanft schräg hielt, die Nase etwas krauste, die Irden glänzten. Tatsächlich schien er in die Szene, die der Maler gestaltet hatte, abzugleiten, Gefühle in ihm hochzukochen und nachzuempfinden, was Felix beim Erschaffen gefühlt hatte.
Vielleicht war es das, worum es ging. Nicht darum, dass Felix nun, wenn er sich die dargestellte Kulisse ansah, den drängenden Impuls verspürte, dass es ungeschliffen und unfertig erschien. Ansonsten jedoch mit dem Verklingen der letzten Töne der Klaviersonate auch all seine Gefühle verschwunden waren, nichts mehr übrig war, als dumpfe Gleichgültigkeit. Sondern darum, was diese Wand von nun an ausstrahlte. Für diejenigen, die sie betrachteten. Empathie. War es nicht das, was er sich immer so sehnlichst gewünscht und nie von seinen Eltern gespiegelt bekommen hatte? Hatte er hier das erschaffen? Einen Weg, um genau das zu erlangen? Verständnis für das, was in seinem Innersten tobte, ihn umtrieb? Es an die Oberfläche gezerrt, für alle sichtbar - zur Verurteilung aber eben doch ... auch zum Verständnis?
Mit frischem Blick schwenkte er von Anton hinüber zur Wand, erlaubte sich, sein Werk mit den Augen eines Fremden zu sichten.
Die düsteren Wolkenberge türmten sich bedrohlich an einem giftig wirkenden Horizont, tauchten die Bergkette und das einsame Tal darunter in beinahe allumfassend verschluckende Finsternis. Grünlich, kränklich wirkte der Himmel, vermischte sich mit den in allen Facetten aus Grau und schmutzigem Weiß bestehenden Wolkenstrudel. Das Unwetter nahte, man schien es schmecken zu können. Den Regen, den Sturm, der bereits die spärlich zu sehenden Bäume zur Seit neigte, einen in die Knie zwang, sollte man es wagen, sich in diesen bald - so bald - aufbrausenden Sturm hinauszuwagen. Ein einzelner greller Blitz durchzuckte die Wolkenfestung, ließ einen bedrohlichen Schatten auf die Umgebung fallen, alles außerhalb dieses unwirklich schimmernden Lichtes noch verlorener wirken. Dem Untergang geweiht. Eventuell der perfekte Titel für dieses Gemälde.
Laut schluckte der Jungkünstler, presste die mit Farbe befleckten Hände auf sein durchgeschwitztes T-Shirt, horchte in seinen Körper hinein, dem heißen Glühen in seinen Eingeweiden nach, das sich dort einnistete und doch aushaltbar blieb. Sonderbar, so sonderbar, dass es Felix irritierte und doch wiederum nicht erstaunte. Ein einziges Chaos herrschte in ihm und seine Gedanken fanden keinen Anfang und kein Ziel, wirbelten umher, planlos, wirr, doch seltsam befreit von einer Last.
Nicht, dass er nun nicht mehr das Bedürfnis verspürte, gern nachzählen zu wollen, ob auch ja all seine Utensilien noch da waren oder sie erneut in die richtige Ordnung zu bringen, denn Anton war gegen einen der breiten Pinsel gestoßen, sodass dieser nun etwas schief lag, aber er fühlte sich leichter. Merkwürdig, denn es war dem jungen Mann vorab nicht aufgefallen, wie schwer die anhaltende Klammerung an sein Elternhaus auf seinen Schultern gelastet hatte.
"Es ist nicht vollständig", entkam es Felix zu dessen eigenem Erstaunen.
Sein Mund sprach die Worte, noch bevor er selbst realisierte, dass er es war, der sie formuliert hatte. Anton sah ihn verwirrt an.
"Was meinst du, Jeger? Sieht für mich ziemlich fertig aus. Komm mir jetzt nicht wieder mit deinem ewigen Perfektionismus. Dann kriege ich hier einen Schreikrampf."
"Nein", lachte Felix kopfschüttelnd, "aber es beschreibt ja nur die miese Zeit in meinem Leben. Da ist ... gar nichts Schönes."
Verstehend präsentierte der Bildhauer sein herrlich schelmisches Grinsen, als er sich um seine eigene Achse drehte und einladend die Arme ausstreckte.
"Soweit ich weiß, hat dieser Raum drei Wände, die bemalt werden können. Also nur zu, tob dich aus."
Vermutlich hatte Anton damit nicht hier, jetzt und sofort gemeint. Aber Felix konnte einfach nicht anders, der Schaffensdrang war zu stark, das Gefühl nach Unvollendung zu präsent. Also wanderten die Kopfhörer erneut in seine Ohren, doch diesmal erfüllten nicht melancholische Klaviertöne seine Gehörgänge, sondern ein rebellisches, widerspenstiges und äußerst eigenwilliges Stück aus dem Alternative-Punk-Genre. Beschwingten Schrittes trat Felix zu einer Wand heran, suchte sich zwar die gleichen Grau- und Weißtöne heraus, doch wählte er diesmal weitere. Bunte Pastelltöne. Ein schillernder Sonnenaufgang über den Alpen. Die Silhouette eines Paares auf einem Motorrad, das die Serpentinen hinauffuhr. Ja, das klang ganz nach Anton. Ganz nach seiner Vorstellung von Glück.