Das Hotelzimmertelefon schrillte und riss damit Felix aus seinem dämmrigen Zustand der Vegetation. Gerädert griff er nach dem Hörer und atmete geräuschvoll in das Mikrofon, unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen, ließ er einfach seinen Unmut durch die Leitung schwappen, in der Hoffnung, die Rezeptionistin am anderen Ende würde schon erkennen, wie unverschämt es doch war, ihn einfach beim Sein zu stören.
"Herr Jäger?", kam es nach seinem vierten Veratmer dann aus dem Telefon gesäuselt. Brummend gab Felix Laut, tauchte aber sogleich unter seine Bettdecke ab, verkroch sich geradezu darin.
"Ich habe nichts mit dem Bösewicht aus 'Bambi' zu tun", rang Felix sich nun doch einige Worte ab, die um einiges harscher klangen, als er beabsichtigt hatte, war er zu seiner Verteidigung jedoch auch nicht wirklich wach und noch dazu unfreiwillig belästigt worden.
"Wie meinen, Herr Jäger?"
Es war zum Haareraufen! Warum nur wurde aus ihm stets ein Mann in moosgrüner Tarnkleidung und Schrotflinte, der mit Jagdhund durch die Wälder wandelte und kleine Kitze um dessen Mütter brachte?
"Ich heiße Jeeeger, Verehrteste", stellte er daher richtig, um sich eine längere Diskussion zu ersparen und vielleicht doch noch für weitere zwei Stunden unbeweglich auf seinem unverschämt weichen Bett die Decke anstarren und über das Leben in dessen Sinn wie Unsinn sinnieren zu können.
"Verzeihen Sie, Herr Jägeer, natürlich", verhackstückelte die Rezeptionistin seinen Namen aufs Äußerste.
Felix gab es auf, es hatte keinen Zweck noch weiter darauf herumzureiten. So schnaufte er lediglich gepeinigt, wuchtete sich doch in eine aufrechte Position, da ihm kein Frieden mehr vergönnt schien und starrte stur einige Löcher in die Luft.
"Was wollten Sie denn überhaupt?", erinnerte er sich dann doch relativ frühzeitig daran, dass seine Gesprächspartnerin vermutlich nicht angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, dass man ihn neuerdings mit einem Umlaut zu schreiben hatte und er so flott es ihm möglich wäre, zur deutschen Botschaft eielen und seinen Pass umändern lassen sollte.
"Sie hatten um einen Weckruf gebeten. Es ist nun neun Uhr siebenundzwanzig, Herr Jägeer."
Natürlich. Nur hatte er eigentlich den Entschluss gefasst, nach der Preisverleihung eine Ausnahme zu machen und einen Tag auszusch-
"Toni", fiel es Felix siedend heiß ein.
Ohne jegliche verabschiedenden Worte knallte er das Telefon auf die Basis und sprang aus dem Bett, dass die Satinlaken nur so flogen, verschwand im angrenzenden dekadent pompösen Badezimmer und verteufelte sein böses Gehirn. Wieso nur, wieso machte es sich um alles Mögliche die schlimmsten Sorgen, bombardierte ihn mit schauerlichen Bildern, sodass er sich gezwungen sah, für jedwede eventuell eintretende Katastrophe eine neutralisierende Gegenmaßnahme bereit zu halten, nur um dann die wirklich entscheidenden Dinge aus seinem Kopf zu radieren?
"Mist", fluchte Felix leise vor sich hin, als er zur Tür hechtete, "Mist, Mist, Mist."
Wie versteinert blieb er stehen. Zum Haareraufen, es war zum Haareraufen. Noch während er zurück zum Bett trat, wählte er die Nummer des Gipfelstürmers. Während er wartete, knipste er die Nachttischlampe dreimal sorgfältig an und wieder aus. Starrte dann auf die Lampe und wartete darauf, dass sie sich nicht spontan aufgrund eines Kurzschlusses selbst entzündete.
"Kaffeehaus Gipfelstürmer, einen wunderschönen guten Morgen. Obermeier mein Name, was kann ich für Sie tun?"
"Ja", meldete sich Felix und pirschte derweil mit forschen Schritten weiter durch das Hotelzimmer, überprüfte jeden greifbaren Lichtschalter die obligatorischen drei Mal, "ich hätte gern einen Tisch für zwei Personen auf den Namen Jeger."
Er ließ sich alles bestätigen und konnte endlich das Zimmer verlassen, schloss die Tür sorgfältig ab.
Und auf. Und ab. Und auf und ab.
Rüttelte noch einmal vorsorglich, ob sie auch wirklich richtig im Schließmechanismus eingerastet war, denn man konnte nie vorsichtig genug sein.
Gerade wollte er in die eintreffende Straßenbahn einsteigen, um sich auf den Weg zu Antons Atelier zu begeben, um es doch tatsächlich pünktlich zu ihrer Verabredung zu schaffen. Noch dazu recht ansehnlich, hatte er sich doch in seiner Eile zumindest geistesgegenwertig doch noch für seine besseren Jeans und das schöne graue Hemd entschieden, welches ihn insgeheim an Antons herrlich strahlende Augen erinnerte. Gut, seine Haare standen ihm vermutlich wild zu Berge und rasiert hatte er sich auch nicht, aber Anton war nicht dafür bekannt, ein Buch nach dessen Einband zu beurteilen. Vermutlich könnte Felix auch in einem Jutesack auftauchen und Anton würde ihn lediglich fragen, ob er nun unter die Öko-Protestanten gegangen sei und neuerdings gegen die Großkonzerne protestiere.
Die Straßenbahn zumindest nahm Felix dann aber doch nicht, da diese zu seinem Bedauern zu einer Uhrzeit abfuhr, dessen Summe sich nicht durch drei, sechs oder neuen teilen ließ.
Auf die nächste zu warten dauerte zu lang, half folglich nur, einmal im Stechschritt quer durch Wien zu marschieren. Außeratem und mit Seitenstechen tänzelte Felix die Straßen entlang, den Blick fokussiert gen Boden gerichtet, immer darauf bedacht, seine Schritte kontrolliert mittig zu halten, um etwaigen Fugen auszuweichen, um nicht noch mehr Unglück über den bereits mehr als genügend verhunzten Morgen zu legen.
Geleitet von seinem Smartphone schaffte er es mit einer Verspätung von exakt siebenundzwanzig Minuten zu Antons Arbeitsstelle. Das war kein Zufall, er hätte bereits vor zwei Minuten da sein können, doch das war dem jungen Künstler bitter aufgestoßen und so hatte er diese hundertzwanzig Sekunden an der Straßenecke gewartet, bis er schließlich in das Gässchen eingebogen war.
Anton saß rauchend auf den Stufen vor dem kleinen alten Gemäuer und sah alles andere als begeistert aus. Mit verkniffener Miene saß der dunkelhaarige Mann da. Die recht merkwürdig anmutende Kippe zwischen den Lippen und das in der Mittagssonne strahlende Augenbrauenpiercing gestand dem Individualismus einen kleinen Sieg zu.
"Das du dich doch noch traust, hier aufzutauchen, Jeger."
"Du bist sauer."
Diese Feststellung war so richtig wie überflüssig ob der Tatsache, dass Anton zu ihm hinaufblitzte, als habe er eine Todsünde begangen.
"Wie kann ein pingeliger Pedant wie du eine halbe Stunde zu spät kommen?", wollte Anton von ihm wissen.
"Siebenundzwanzig Minuten", berichtigte er ganz automatisch.
Da war es endlich, dieses Felix den letzten Nerv raubende Augenrollen und er wusste, dass Anton ihm seinen Fauxpas verziehen hatte.
Der andere Mann erhob sich, schnippte die Zigarette fort und machte sich auf, zur nahegelegenen Straßenbahnstation. Was nur eine nachvollziehbare Schlussfolgerung war, in Anbetracht dessen, dass sie ja in einem Kaffeehaus etwas abseits einkehren wollten. Nur hatte Felix vorab an diesem Vormittag bereits ja feststellen müssen, dass die Abfahrtszeiten der Linie doch eher ungünstig für seine Bedürfnisse lagen.
"Ähm", führte er wenig geistreich an, verschaffte sich aber erfolgreich Antons ungeteilte Aufmerksamkeit, "ich kann nicht mit der Bahn fahren."
"Ist jetzt nicht dein Ernst. Warum nicht, zum Geier?"
Hilflos hob Felix die Schultern, eine Erklärung würde sie noch weitere Zeit kosten und sie waren doch nun wahrlich schon sehr spät dran. Schnaubend stapfte Anton ohne weitere Worte an ihm vorbei in die andere Richtung. Betreten blieb dem jungen Blonden nicht viel anderes übrig, als diesem zu folgen, um sich kurz darauf seinem schlimmsten Alptraum gegenüber zu sehen.
"Nein", sagte Felix und verschränkte die Arme entschieden vor der schmalen Brust. Keine zehn Pferde brächten ihn dazu, dieses Gefährt zu besteigen.
"Das oder die Straßenbahn", stellte Anton ihm die Wahl zwischen Pest und Cholera. Tödliche Blitze aus seinen kaffeebraunen Augen abschießend, schwang Felix sich mit zittrigen Beinen auf den winzigen Sitz dieser mörderischen Höllenmaschine. Sie würden sterben. Keine Frage. Dieser nervtötende Mann zwang ihn sogar einen einzwängenden Helm über den Kopf, bei dem sich Felix sicher war, dass er darunter einen grausamen Erstickungstot erleiden musste. Beschlug das Visier? Ganz hervorragend, dann konnte er zumindest das Unglück nicht kommen sehen. Mit festem Griff klammerte er sich an Antons Lederjacke. Körperkontakt. Fantastisch! Was hatte er denn bloß in einem früheren Leben getan, dass er nun mit sicherlich viel zu überhöhter Geschwindigkeit durch unerhört schmale Straßen mit ungehobelt dreisten Verkehrsteilnehmern bretterte? Wie konnte es nur dazu kommen, dass -
"Wir sind da, Jeger. Du kannst mich jetzt wieder los lassen."
Na so was. Verlegen zwang er seine Finger dazu, sich zu entkrampfen und rutschte etwas von dem Sicherheit spendenden warmen Körper fort, an den er sich unwillkürlich während der Fahrt in sein Verderben geschmiegt zu haben schien. Da standen sie vor dem Kaffeehaus.
"Zieh mal das Kinn hoch, dann kann ich den Verschluss lösen und dir den Helm abnehmen", befahl Anton sanft und Felix tat ganz automatisch, wie ihm geheißen. Nur kurz fühlte er warme Fingerkuppen die Haut unter seinem Kinn entlang streifen, dann war er wieder frei. Lächelnd schenkte er Anton einen dankbaren Blick, war sogar regelrecht angetan von diesem Mann, als er ihn nach einer kurzen Rückversicherung am unteren Rücken vorsichtig gen Eingang leitete.
"Bitte, die Herren?", wurden sie gegrüßt, der Blick so eindeutig, dass es Felix die Röte in die Wangen trieb. Die Augen niederschlagend, brauchte er einen Moment, um seine Stimme zu finden.
"I-ich habe einen Tisch bestellt. Jeger."
"Hm", kam es und Felix brach der Schweiß aus.
Hatte er sich geirrt? Aber er hatte doch angerufen, der Mann am Telefon hatte seine Reservierung sogar bestätigt. Oder gab es mehrere Läden mit demselben Namen? Wie konnte er nur einen solchen Fehler begehen? Nun hatte er Anton erneut enttäuscht.
"Ich habe hier eine Reservierung auf den Namen Jäger. Könnte es das sein?"
Fassungslos starrte Felix den Platzanweiser vor sich an. Ja, war das denn zu fassen? Neben ihm konnte er Anton leise glucksen hören und gerade dieses Geräusch war es, das ihn dazu veranlasste, einfach still und mit einem erzwungen freundlichen Verziehen der Mundwinkel ein Nicken anzudeuten.
Matt bejahte er und scherte sich schon gar nicht mehr so recht darum, ob Anton ebenfalls Gefallen an dem Tisch fände, den er ausgesucht hatte. Hauptsache, sie bekamen endlich die Gelegenheit auf etwas Zweisamkeit und eine Aussprache.