Vier Wochen. Er hatte gottverdammte vier Wochen, fünf Tage, siebzehn Stunden und einundvierzig – nein – zweiundvierzig Minuten durchgehalten. Doch nun war Felix am Ende seiner nervlichen Grenzen angelangt, sein Körper hatte bereits lange vorab begonnen, ihm Warnsignale zu senden, die der begehrteste Jungkünstler des deutschen Sprachraums – die Worte der Schundblätter, nicht die seinen – geflissentlich ignoriert hatte. Woran er sich am meisten störte war diese grauenvolle Zahl, denn die Summe seines Versagens ließ sich –
"Sie lässt sich nun einmal weder durch drei, noch durch sechs oder neun teilen, Vater!“, schrie er dem Menschen in seinem Leben seine ganze Wut auf sich selbst, seine Schmach und seine Angst ins Gesicht, der immer auf seiner Seite gewesen war, wenn niemand mehr an den schrägen Jungen von der winzigen Hallig inmitten der Nordsee geglaubt hatte, der so gern Berühmtheit mit seinen Farbklecksen hatte erlangen wollen. Doch versuchte er seinem Vater und Manager nur verständlich zu machen, warum es von unabdingbarer Notwendigkeit war, ihn diesen bereits begonnen Auftrag noch abzuschließen, es für ihn nicht einfach eine Frage der Ehre oder gar seiner Integrität als Künstler oder Dienstleister war, der Kundin das versprochene Aktgemälde zu liefern, an dem er nunmehr Tage zugebracht hatte, sondern es einer Verwünschung seiner Seele gleichkäme, ihn ausgerechnet jetzt aus dem Spiel zu nehmen.
„Du musst dich beruhigen, Felix“, bat ihn sein Vater mit beschwichtigend erhobenen Händen und bekümmerter Miene.
Felix waren die tiefer werdenden Sorgenfalten in Johann Jegers Gesicht nicht entgangen, wusste er doch nur zu gut, dass sein stetig zunehmender geistiger Abstieg der Grund für das rapide beschleunigte Altern seine Vaters zu sein schien.
"Ich kann mich nicht beruhigen!“, brüllte er dennoch ungeniert weiter, wollte sein alter Herr ihn in seiner Not doch offenbar nicht verstehen, was unfassbar, ja, geradezu lächerlich anmutete, war dieser mit Felix‘ Spleens doch nun wirklich ein Fachmann, "das darfst du nicht! Du darfst das nicht!“
Fantastisch! Nun heulte er auch noch Rotz und Wasser. Bitterlich liefen ihm große Tropfen die Wangen hinab, während seine Nase verstopfte, die Augen brannten gar fürchterlich und die Wangen glühten, wo Felix doch an seinem ganzen Leib zu zittern begonnen hatte. Anders als bei so manchem Kleinkind, führte dieser tränenreiche Tobsuchtsanfall nicht wie erwartet zum erhofften Erfolg, weit gefehlt, wähnte sich Johann in seinem Vorhaben und seiner Einschätzung, sein Sohn habe die Grenze zum Wahnsinn nun doch noch überschritten, vielmehr bestätigt. So gab er den in weiser Voraussicht mitgebrachten Helferlein ein Zeichen, die sich sogleich eifrig ans Werk machten, seine kostbaren Arbeitsutensilien zusammen zu räumen und die Auftragsarbeiten in verschiedenen Stadien der Vollendung sorgfältig zu verschnüren.
Aufgeregt wuselte Felix wie ein aufgescheuchtes Huhn zwischen den Leuten umher, schimpfte und zeterte, schwang gar die Fäuste unnütz drohend durch die Lüfte. Geriet bei dem Unterfangen, seinen Vater doch noch irgendwie aufhalten zu können, den Arbeitern vor die Füße und lief Gefahr, beim Abtransport seines Bandschleifers als neurotisches Schnitzel zu enden.
Eineinhalb Stunden reinster Bettelei, Fluchen und Verhandlungstaktiken später, fand sich Felix auf der Seite liegend und mit angezogenen Beinen auf dem Holzboden seines Ateliers wieder. Lediglich der Geruch nach Terpentin und Ölfarbe erinnerte noch an seine Arbeit. Inzwischen waren seine Tränen versiegt, Resignation hatte die Raserei ersetzt und so blickte Felix mit einem erschreckenden Gefühl der inneren Leere gegen eine kahle Wand, mit einem ausgeräumten Regal, in dem sich früher seine Pinsel ordentlich nach Größe, Härtegrat und Art sortiert aufgereiht hatten, Spachtelmessern und verschiedenen Pasten, Mischpaletten, um die richtigen Farbnuancen haargenau zusammenstellen zu können. Es war perfekt gewesen.
"Sie haben alles durcheinander gebracht“, murmelte Felix mit erstickter Stimme.
Er erkannte sie selbst kaum wieder. Schwere Schritte machten ihn aufmerksam, reichten aber nicht aus, um ihn aus seiner Lethargie reißen zu können.
"Es ist nur zu deinem Besten, Großer“, vernahm er die noch immer so betont beruhigende Stimme seines Vaters, die Felix entkräftet die Augen schließen ließ, "du hast dich überarbeitet. Wir haben dich ja gar nicht mehr zu Gesicht bekommen – bist nur noch hier im Atelier, isst kaum, sprichst mit niemandem. Und all diese akribischen Pläne, wann du welchen Strich setzt, welche Farbe wie aufgetragen wird … so geht es nicht weiter, Felix. Das Malen war doch mal dein Ventil. Das Einzige, bei dem du loslassen konntest.“
Nein, er wollte diese Wahrheit nicht hören, denn sie tat zu weh, führte sie ihm sein Versagen nur zu genau vor Augen, bestätigte somit all jene, die immer betont hatten, dass er für eine Künstlerkarriere – ein Berufsfeld, das viel Druck und hohen Stress mit sich brachte – nicht geeignet sei. Wieder fühlte er sich wie ein Kind, als er die Hände vor seine Ohren schob, die Augenlider noch etwas fester zusammenpresste und einfach darauf hoffte, dass sein Vater Gnade zeigte und ging. Ein leichtes Zupfen am Stoff seines Hemdkragens bereitete ihn auf die kommende Berührung vor, als Johann kurz darauf erst kurz durch Felix‘ hoffnungslos zerzaustes Haar strich und ihm dann einen vermutlich aufmunternd gemeinten Kuss auf die Schläfe presste. Die Dielen des alten Bodens schwankten leicht nach, als sein Vater endlich – endlich – sein geplündertes Heiligtum verließ.
Wie lange Felix in Embryonalstellung dagelegen hatte, konnte er im Nachhinein nicht mehr genau benennen, doch das Brummen seines Smartphones riss ihn schließlich aus seiner anhaltenden Starre. Mit steifen Fingern klaubte er es aus seiner Hosentasche, zögerte, als er den Namen des Anrufers las, nicht sicher ob der Tatsache, dass er bei Annahme des Gesprächs erneut seine Niederlage eingestehen müsste.
Dennoch wischte sein Finger wie fremdgesteuert über das Display, wie sich auch ohne sein bewusstes Zutun seine Miene ein Stück weit erhellte, als das vertraute Gesicht mit der merkwürdig anmutenden Zigarette im Mundwinkel auf seinem Bildschirm erschien.
"Du siehst aus, wie durch den Wolf gedreht“, begrüßte ihn Anton auf die ihm so eigene Art, dass Felix nicht anders konnte, als ein schniefendes Lachen auszustoßen, "Meditation, oder hat es einen anderen Grund, warum du da auf dem Boden rumgammelst?“
So gern hätte er diesem nervtötenden Mann sein Herz ausgeschüttet, in der Gewissheit, dass Anton ihn verstünde. Doch der Bildhauer war erfolgreich in dem, was er tat. Hatte sich seinen Namen in Wien und Umgebung bereits gemacht, nahm an den Wettbewerben nur teil, um sich selbst etwas zu beweisen.
"Jeger?“, holte ihn Anton aus seinen Grübeleien, mit gerunzelter Stirn, die so selten bei ihm anzutreffen war, dass Felix ein schlechtes Gewissen bekam, da er der offensichtliche Grund für die Sorge im Gesicht dieses sonst so arglosen Mannes war.
"Ich bin am Ende, Toni“, kam es nur als Hauch über seine Lippen, mit niedergeschlagenem Blick und wieder einmal roten Wangen, denn dies schien bei Anton die bevorzugte Reaktion seines Körpers zu sein. Ob vor Scham, Verdruss oder Vernarrtheit.
"Sieh‘ mich an“, bat Anton ihn so sanft über die Verbindung, dass Felix dieser Bitte einfach ihm Zuliebe Folge zu leisten hatte. Die Zuversicht, die in diesen wunderbaren Augen lag, traf ihn mitten ins Herz, schenkte ihm in dieser trostlosen Stunde das Gefühl, dass Anton auch ohne viele Ausführungen verstand und nicht urteilte.
"Wir bekommen das hin, Jeger. Ich verspreche es dir. Was hältst du davon, wen du mich für einige Zeit hier besuchen kommst, hm? Etwas Abstand von all dem Trubel gewinnst?“
Noch nicht zur Gänze überzeugt, pustete Felix sacht einige Haarsträhnen aus seiner Stirn.
"Ich lade dich auch auf ein traditionelles wiener Schnitzel ein", lockte Anton mit seinem so herrlich verschmitzten Verziehen der Mundwinkel um die absonderliche Zigarette herum, "damit ein deutscher Banause, wie du es einer bist, auch endlich mal versteht, wie sich sowas gehört. Obwohl du vielleicht eher auf ein Jegerschnitzel abfährst."
Während Anton sich vor Lachen kaum noch halten konnte, bemühte sich Felix um seinen strengsten Gesichtsausdruck, seine Muskeln aber versagten ihm den Dienst, verrieten ihn hinterrücks.
"Du bist eine Nervensäge, Toni!", brüskierte er sich dennoch, wenn ihn schon sein Körper im Stich ließ.
"Und du kannst immerhin schon wieder ein kleines bisschen lächeln. Du kommst also?"
Sich vor Überschwang auf die Lippe beißend und einen dicken Kloß der Rührung über dieses Angebot hinunterschluckend, brachte Felix nur ein zaghaftes Nicken zustande. Einige Tage in Wien. Bei Anton. Abschalten, vielleicht wieder zurück zur Freude an der Kunst finden. Das klang himmlisch.