Es war erstaunlich, dass Anton und er so kurzfristig zwei Tage nach ihrem gemeinsamen Abendessen einen Termin in dieser Gemeinschaftspraxis für Selbstzahler ergattert hatten. Obwohl Felix ganz stark vermutete, dass Antons Eltern ihre Finger mit im Spiel hatten und sein Freund diese so lange zu getextet hatte, bis sie bereit gewesen waren, ebenso zumindest die Probatorik für den jungen Maler zu übernehmen.
Scheu sah Felix sich im Wartezimmer um, sich nicht recht wohlfühlend in Anbetracht der Tatsache, dass er bereits einen seitenlangen Fragebogen ausgefüllt hatte, der ihn sehr intime Dinge hatte preis geben lassen, während Anton lediglich einen kurzen Zettel hatte ausfüllen müssen.
Wie unfair!
Immerhin hatten diese Fachleute hier keine Drucke an den Wänden sondern doch ganz hübsche Werke von Kindern -
"Oh", machte Felix peinlich berührt, als ihm bewusst wurde, dass es sich bei den künstlerischen Ergüssen um die Beiträge von Patienten handelte.
"Ist doch ganz gemütlich eingerichtet", kam es von den in dunklem Aquamarin gehaltenen Polstersesseln.
Nur vier davon gab es in diesem Zimmer. Auch eine Kaffeemaschine gab es und Kekse. Das fand Felix irgendwie ... bizarr. Es war auch so leise, denn der dicke Teppich schluckte alle Geräusche, nur das leise Murmeln hinter dem Empfangstresen zeugte davon, dass hier überhaupt gearbeitet wurde. Sehr suspekt das Ganze. Skeptisch sah er Anton an und zuckte unbehaglich die Schultern.
"Vielleicht war das keine gute Idee", gab Felix zu bedenken, ließ sich jedoch am Handgelenk geführt auf die Armlehne von Antons Sessel nieder, "das ist doch komisch hier oder? Sind das überhaupt richtige Therapeuten? Ich habe nirgends Zertifikate oder irgendeinen Nachweis gesehen. Was ist, wenn die uns nur abzocken? Selbstzahlerpraxis. Wenn ich das schon höre. Was ist wenn -"
"Herr Jeger?", erklang da eine ruhige, tiefe Stimme von der Tür her, sorgte dafür, dass Felix feuerrot anlief, erblickte er doch einen freundlich dreinblickenden Mann in den Fünfzigern mit Brille, Pausbacken und stolzem Wohlstandsbauch.
"Herrje", entfuhr es dem jungen Maler schwach, "was, wenn der mich gehört hat? Der denkt doch jetzt schon schlecht von mir. Da kann ich mich ja gleich gehackt legen. Ein Freundschaftsband wird der mir sicher nicht schenken. Sollte ich schon mal einen Antrag auf Befangenheit ausfüllen? Oder denkst du, ich könnte es wieder gut machen?"
Sacht strich ihm Anton über den Rücken, gab ihm dann einen leichten Schubs, bewog ihn so dazu, sich zu erheben und zögerlich auf den Herren in Hemd und Anzughose zuzutreten. Das würde fürchterlich schief gehen, er hatte es doch jetzt schon vergeigt.
"Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr Jeger. Mein Name ist Jakobi, ich bin Verhaltenstherapeut und werde heute das Erstgespräch mit Ihnen führen. Wollen wir?"
Verhalten nickte Felix, warf einen letzten versichernden Blick hinüber zu Anton, der ihm bestärkend zulächelte.
Herr Jakobi lotste ihn in ein großzügiges aber etwas altbacken eingerichtetes Büro mit Sitzecke und Schreibtisch.
"Nehmen Sie Platz, wo sie sich am wohlsten fühlen", bat der Therapeut und so entschied Felix sich zögerlich für die doch sehr weiche Couch mit den plüschigen Kissen.
Herr Jakobi nahm in dem Sessel ihm gegenüber Platz, legte das mitgebrachte Klemmbrett auf seinen Schoß und sah ihn aus freundlichen blauen Augen abwartend an.
"Ich sehe an Ihrem Fragebogen, dass Sie ganz viel beschäftigt und würde mich im Verlauf unseres Gesprächs gern noch einmal näher darauf beziehen. Doch zunächst schlage ich vor, dass Sie mir frei von der Leber weg einfach mal berichten, wo denn der Schuh drückt. So ganz akut."
Die Momente verstrichen und vermutlich wäre es unnagenehm gewesen, die Spannung auszuhalten, doch Felix fragte sich, ob jemand wie Jakobi darauf geschult wurde.
Allerdings hatte der junge Blonde ganz andere Probleme, denn ihn störte da ein ganz und gar fürchterlich flackerndes Licht, das ein Bandfoto beleuchtete. Er kannte diese Band nicht, vermutlich handelte es sich dabei um eine Musikgruppe aus einer Zeit, in der er selbst noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt hatte und doch war dem Therapeuten dieses Bild wert, von einem kleinen Strahler in Szene gesetzt zu werden. Nur, dass dieses Licht flackerte! Es machte Felix schier wahnsinnig. War es Jakbi denn egal, was da alles passieren könnte?!
"Herr Jeger?", meldete sich eben jener Mann milde lächelnd zu Wort, der durch Felix brausende Gedanken geisterte.
Erschrocken fuhr der Maler zusammen, riss sich mit aller Mühe von der Gefahrenquelle los und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den dicklichen Herren ihm gegenüber. Zitternd verkrampften sich seine Finger ineinander, daher verbag Felix sie rasch in seinem Schoß.
"Stört Sie die defekte Lampe, Herr Jeger?"
Zögernd nickte Felix, sah zu seinem Erstaunen, wie Jakobi lediglich bedächtig etwas auf seinem Sessel herumrutschte und ihn erneut ruhig betrachtete.
"Und können Sie sich auf das Gespräch konzentrieren? Die Lampe einfach ausblenden?"
Ein leichtes Hin und Her seines Kopfes.
"Warum nicht?"
"W-weil - also - ich- hach", stammelte Felix, denn so genau hatte er nie darüber nachgedacht, hatte ihn das ja auch noch nie jemand gefragt, "dann würde halt etwas Schlimmes passieren."
"Mhm", antwortete Jakobi schlicht, "das würde mich auch sehr angespannt werden lassen. Wenn Sie es nicht aushalten können, dann dürfen Sie es gern beheben. Heute."
Als habe er eine Sprungfeder unter seinem Hintern montiert, katapultierte es Felix in die Höhe und er wuselte zum Ursprung allen Übels. Eifrig knipste er die Lampe aus. Und wieder an. Und aus und an. Ein dirttes Mal, dann betätigte er entschieden den Schalter, um sie vollends zu löschen. Zufrieden starrte er darauf, zählte leise vor sich hin murmelnd bis achtzenhn, bevor er erleichtert seufzend seinen Weg zurück aufs Sofa fand. Entspannter, diesmal. Herr Jakobi sah ihn durch seine Brillengläser hindurch an.
"Können Sie mir nun erzählen, was in Ihrem Leben so los ist?"
Und Felix erzählte - erst stockend und dann plötzlich sprudelte es nur so aus ihm heraus - von alldem, was ihm Sorge bereitete, wie er versuchte damit umzugehen und es dennoch nicht schaffte.
Seinem Alltag und wie dieser eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad genommen hatte und ja, auch von dem Desaster um die Betrügereien seines Vaters, denen er aufgesessen war.
Der Therapeut half ihm mit geschickt gestellten Fragen, seine wirren Gedanken zu strukturieren, führte das Gespräch an einem roten Faden entlang, den Felix selbst erst erkannte, als sich ihm langsam ein etwas klareres Bild offenbarte.
Schließlich saß er zusammengekrümmt aber um einiges erleichtert auf dem Sofa. Was blieb, war die Unsicherheit, was mit ihm nicht stimmte, dass es ihm nicht gelang, diese quälenden Sorgen abzustellen, sein System inzwischen keine Ruhe mehr brachte, sondern ihn immer mehr Zeit kostete, ihn anstrengte und weitere Ängste befeuerte.
Auch hier hatte Herr Jakobi erste Lösungsansätze parat, erklärte besonnen, was es mit sogenannten Panikattacken auf sich hatte und dass diese sich zwar danach anfühlten aber keines Falls tötlich endeten. Er zeigte Felix einige kleine Übungen, die er in diesen Notfällen anwenden konnte und versprach, dass sie gemeinsam an diesen Attacken arbeiten könnten.
"Genau, wie an Ihren anderen Baustellen. Ich werde mit Ihnen noch eine umfassende Diagnostik durchführen, daher möchte ich mich noch nicht auf eine genaue Diagnose festlegen. Aber haben Sie schon einmal von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gehört?"
Wage wiegte Felix den Kopf auf seinen Schultern, nicht sicher, wie ihm die Richtung gefiel, in die dieses Gespräch verlief. War das nicht sowas Neurotisches?
"Jeder Mensch strebt nach der Erfüllung von bestimmten Grundbedürfnissen. Werden diese in unseren Leben in sehr vulnerablen - meint verletzlichen - Phasen wieder und wieder verletzt, dann neigen wir dazu, Strategien zu suchen, um diese Bedürfnisse anderweitig erfüllt zu bekommen. In Ihrem Falle haben Sie in Ihrer Biographie immer wieder erfahren, dass Ihnen alles aus den Händen geglitten ist. Mit Ihrem 'System' versuchen Sie nun diese Kontrolle wieder zu erlangen. Können sich aber nicht mehr davon lösen. Ihre Ängste basieren darauf, dass Sie in Ihrer Kindheit bis ins heutige junge Erwachsenenleben von engen Bezugspersonen häufig eine ambivalente Bindung erfahren haben, die zumeist an Leistung gekoppelt war. Sie waren sich nie sicher, wie lange Sie sich der Zuneigung gewiss sein konnten. Daher die generalisierten Bindungsängste. Sie verstehen?"
Schwer schluckte Felix an dem Kloß vorbei, der sich in seiner Kehle gebildet hatte. Herr Jakobi erleuterte ihm im Folgenden das Prinzip der ambulanten Verhaltenstherapie und erstellte gemeinsam mit dem jungen Maler einen ersten groben Behandlungsplan mit Dingen wie 'Verhaltenserprobung mit Reaktionsverhinderung' und Achtsamkeits- und Entspannungstraining'.
Zum Schluss erhob sich der Therapeut, schüttelte Felix die Hand und sah ihm mit einem freundlichen Lächeln in die Augen.
"Sie haben auch schon so viel selbst erreicht, Herr Jeger. Denken Sie auch daran. Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Therapie ist anstrengend und es wird ungemütlich. Sie werden sich oft unwohl fühlen. Aber so, wie ich verstanden habe, können Sie durchaus auch auf ganz vortreffliche Ressourcen zurückgreifen. Dann sehen wir uns nächste Woche."
Na, das konnte ja heiter werden. Schwankend und überwältigt verließ Felix erst den Raum und bald darauf wie im Nebel mit Anton an der Hand die Praxis.