Vom Sklavendasein zur großen Liebe
Erzählung von Claudia Wagner
Kapitel 1: Das Erwachen
Ich rümpfte meine Nase. Ein widerlicher Gestank lag in der Luft. Es roch nach Keller, nach verrostetem Metall und nach Urin. Wo war ich? Warum konnte ich meine Augen nicht öffnen? Es war kalt, viel zu kalt für diese Jahreszeit. Ich konnte unmöglich in meiner Wohnung sein. Nicht einmal in einer Bahnhofstoilette würde es so stinken wie hier. Wie war ich hierhergekommen? Ich konnte mich nicht erinnern und dies versetzte mich in Panik. Ich musste hier schnellstmöglich wieder weg, raus aus diesem stinkenden Loch.
Okay, Lenora, streng deinen Kopf an! Wo war ich zuletzt und was habe ich dort gemacht? Wie jeden Morgen ging ich gleich nach dem Aufstehen unter die Dusche. Mein Lieblingsshampoo mit Erdbeergeruch war leer. Das Ersatzshampoo duftete nach Rosen, was zur Abwechslung auch ganz okay war. Nach dem Duschen stieg ich in einen schwarzen, kaum knielangen Bleistiftrock, darüber trug ich eine himmelblaue Bluse. Meine taillenlangen schwarzen Haare band ich zu einem engen Dutt zusammen, der mich etwas streng aussehen ließ. Zum Frühstück gab‘s wie immer Haferflocken und einen Apfel.
Meine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung lag an einem geheimen Ort im sonnigen Kalifornien. Wie jeden Morgen ging ich zur Bushaltestelle und fuhr zur Arbeit. Wie jeden Morgen war der Bus überfüllt und quälte sich durch dichten Verkehr. Seit sechs Jahren arbeitete ich als Sekretärin bei einem Unternehmen für Damenmode. Über meinen Chef, einen jovialen, älteren Herrn konnte ich mich nicht beschweren. Mein Gehalt wurde stets pünktlich überwiesen, es gab Urlaubs- und Weihnachtsgeld und all die vielen Überstunden, die ich leistete, wurden auf den Cent genau ausbezahlt. Auch mit den Kolleginnen kam ich gut klar.
Zwei Hausnummern vor der Firmenadresse meines Arbeitgebers stieg ich aus, um im Starbucks-Café an der Ecke einen doppelten Espresso für meinen Chef und einen Cappuccino für mich zu besorgen. Der Arbeitstag verlief größtenteils ruhig. Um 19 Uhr machte ich Feierabend, nahm aber noch eine Produktmappe mit, die ich zuhause durchsehen wollte, um ein für Morgen anstehendes Meeting mit meinem Chef gewappnet zu sein.
Doch ich kann mich nicht erinnern, zuhause angekommen zu sein. Kaum war ich durch die Karusselltür am Firmen-Haupteingang gegangen, kam es zum Filmriss. Für die Zeit danach klaffte ein einziges schwarzes Loch in meinem Gedächtnis. Was war passiert? Mein Kopf drohte zu explodieren, so angestrengt versuchte ich meinem Erinnerungsvermögen Beine zu machen. Ich tastete meinen Hinterkopf ab, ohne eine Verletzung festzustellen. Endlich gelang es mir, wenn auch unter Anstrengung, meine Augen zu öffnen.
Ich saß in einem Kellerverlies, das mir jahrhundertealt vorkam. Irgendjemandem diente dieser mittelalterlich anmutende Kerker noch heute als Gefängnis. Der kalte Steinboden war uneben und rissig. Man musste aufpassen, wo man hintrat und ich fragte mich, was das kleinere Übel wäre: barfuß zu laufen oder meine Pumps anzubehalten. Dass sie perfekt zu dem schwarzen Rock passten, nützte jetzt wenig. Von den Wänden hingen schaurige Ketten und rostige Fesseln aus Eisen.
Ich versuchte tief durchzuatmen, während die Beklemmung über meine Lage sich wie eine schwere Last auf meinen Brustkorb senkte. Mein Blick fiel auf eine massive, eisenbeschlagene Tür mit einer kleinen, vergitterten Durchreiche. Der Raum war fensterlos und wurde nur schwach von einer rußenden Petroleumlampe erhellt. Als Nachtlager diente ein alter Leinensack mit fauligem Stroh. Ein rostiger Eimer in der Ecke diente zur Verrichtung der Notdurft und verströmte stechenden Uringeruch.
Ich musste viele Stunden bewusstlos gewesen sein und wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Die Beklemmung wurde stärker und schnürte mir die Kehle zu. Durch das Türgitter versuchte ich nach draußen zu lauschen, vernahm aber nichts als Stille.
Was sollte ich jetzt tun? Nach jemandem rufen? Konnte mich überhaupt jemand hören? Doch wer immer mich hören würde, er musste zu ihnen gehören. Zu ihnen, die mich entführt und hierhergebracht hatten. Was hatten diese Kerle vor? Wenn sie mich umbringen wollten, warum haben sie es nicht längst getan? Mit gerademal fünfundzwanzig Jahren war ich definitiv noch zu jung zum Sterben.
Meine Kehle war ausgetrocknet und kratzig, als hätte ich für Tage nichts getrunken. Der Magen knurrte wie ein hungriger Wolf. Ob sie mich hier in diesem Kerker einfach verhungern und verdursten lassen? Meine Gedanken rotierten: Wie lange war ich schon hier? Wo befand sich dieses elende Kerkerverließ? Wer hielt mich hier eingesperrt? Was wird als Nächstes passieren? Ich war ratlos.
Noch immer hatte ich den schwarzen Rock und die blaue Bluse an. Sie waren weniger in Mitleidenschaft gezogen, als ich angesichts der Umstände befürchten hatte. Die Kälte kroch mir an den Beinen hoch und ich bereute es, auf Strumpfhosen verzichtet zu haben. Ich rollte mich auf dem kleinen Flecken zusammen, der als Bett dienen sollte, zog die Beine eng an meinen Körper heran und versuchte, eine halbwegs bequeme Haltung zu finden. Doch die Kälte, der Hunger und vor allem der Durst setzten mir zu. Obwohl ich einst gelernt hatte, Härten zu erdulden und mit Entbehrungen umzugehen, spürte ich Tränen auf meinen Wangen.
„Reiß dich zusammen, Lenora!“, befahl eine innere Stimme. Die Tränen versiegten, doch die Erschöpfung forderte ihren Tribut und ich schlief ein.
Als ich erwachte, fiel mein erster Blick auf eine Metallschüssel, die auf einem kleinen Holzschemel neben dem Strohlager stand. Darin befanden sich einige Scheiben trockenes Brot, daneben stand eine Flasche Wasser. Jemand musste durch die Tür hereingekommen sein und sie hier abgestellt haben. Aber warum war ich dadurch nicht aufgewacht?
Allen unbeantworteten Fragen zum Trotz nahm ich es als ein gutes Zeichen, dass ich noch am Leben war. Zumindest körperlich war ich unverletzt, von den hämmernden Kopfschmerzen einmal abgesehen. Sie waren vermutlich die Nebenwirkung eines Betäubungsmittels, mit dem ich nach meiner Entführung ruhiggestellt wurde.
Ich nahm von dem Brot und begann zu essen. Es fühlte sich trocken und hart an, doch das war mir in diesem Moment völlig egal. Ich schlang es regelrecht hinunter. Das Wasser war kühl und frisch. Meinem brennenden Durst und meinem vertrocknetem Hals half es ungemein. Ich fühlte mich gleich viel besser. Zwar hatte ich die halbe Flasche getrunken, doch den Rest wollte ich mir einteilen. Wer weiß, wie lange die nächste Ration auf sich warten ließ.
Nachdem Hunger und Durst notdürftig gestillt waren, begann mein Geist erneut zu grübeln. Es schien klar, dass ich Opfer einer Entführung geworden war. Meinen Entführern muss ich zumindest bis zum jetzigen Zeitpunkt lebend mehr wert gewesen sein als tot. Haben sie eine Lösegeldforderung gestellt? Aber an wen? Meine Eltern waren beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich sieben Jahre alt war. Ich hatte keine Geschwister und etwaige Verwandte väterlicher- und mütterlicherseits lebten alle im fernen Europa. Niemand aus meinem näheren Bekannten- und Freundeskreis war so wohlhabend, dass sich eine Lösegeldforderung gelohnt hätte. Aber doch! Vielleicht mein Chef? Der war sicher mehrfacher Millionär. Aber soweit ich wusste, hatte er keine wirklichen Feinde und auch wenn. Wäre es sinnvoll gewesen, ihn wegen einer einzigen Mitarbeiterin mit einer Lösegeldforderung erpressen zu wollen, einer von hunderten?
Blieb eigentlich nur noch mein Ex-Freund als möglicher Adressat einer Lösegeldforderung. Doch wir waren bereits über ein Jahr auseinander und die Wochen und Monate vor der endgültigen Trennung waren der reinste Horror, zumindest für mich. Anfangs erschien mir Steven als der perfekte Mann. Er las mir jeden Wunsch von den Augen ab und verwöhnte mich, wo er nur konnte. Doch schon bald dämmerte mir, dass er eine dunkle Seite besitzt. Seine kümmernde Fürsorge, die mich anfangs beeindruckt hatte, entpuppte sich nach und nach als krankhafte Eifersucht. Er verlor er sich mehr und mehr in einen kaum mehr zu ertragenden Kontrollwahn, schnüffelte auf meinem Laptop und Handy herum, öffnete meine Post, wollte stets wissen, wo ich bin, verlangte unentwegt Erklärungen und zwang mich zu unfreiwilligen Rechtfertigungen. Er brachte mich fast jeden Tag zur Arbeit und holte mich nach Feierabend direkt von dort ab. Steven entwickelte sich zu einem Stalker. Ich konnte nicht einmal mehr allein einkaufen oder mich mit Freunden treffen. Er ging sogar so weit, mein Handy mit einem Trojaner zu verwanzen, sodass er meine Telefonate mithören sowie SMS- und WhatsApp-Nachrichten mitlesen konnte. Erst nach der Trennung kam heraus, dass in einem Schmuckkettchen, das er mir zum Geburtstag geschenkt hatte, ein Peilsender verborgen war. Damit war er stets darüber im Bilde, wo ich mich gerade befand, da ich die Kette die meiste Zeit um den Hals trug.
Mir schoss plötzlich der Gedanke durch den Kopf, dass Steven etwas mit der Entführung zu tun haben könnte. Nach der Trennung hatte er mich noch eine Weile gestalkt, bis ich schließlich zur Polizei ging und es zu einem Gerichtsverfahren mit Verurteilung kam. Er bekam eine Bewährungsstrafe und durfte sich mir nicht mehr als fünfzig Meter nähern. Ihm wäre es zuzutrauen, dass er mich entführen und gefangen halten ließ, zumal ich davon ausgehen musste, dass er noch immer nicht über die Trennung hinweg war. Erst vorletzte Woche hatte er mir einen Blumenstrauß ins Büro schicken lassen mit einem Kärtchen, auf dem stand, dass ihm alles so leidtäte, er mich noch immer lieben und zurückhaben wolle. Nach all dem, was vorangegangen war, tat er mir nicht mehr leid. Ich konnte gar nicht anders, als seine neuerlichen Avancen einfach zu ignorieren.
Aber wenn Steven hinter all dem steckte, was glaubte er damit zu erreichen? Wollte er mich so lange einsperren, bis ich einknicke und ihn wieder zurücknehme? Das war völlig ausgeschlossen. Nie wieder würde ich diesen Psychopathen in mein Leben lassen.
Ich wusste nicht, wie lange ich hier schon gefangen gehalten wurde. Da keinerlei Tageslicht in meine Kerkerzelle fiel, hatte ich jedes Zeitgefühl verloren, wusste weder, welches Datum wir hatten, noch, ob es gerade Tag oder Nacht war. Wenn die Müdigkeit sich meiner bemächtigte, schlief ich ein, wachte irgendwann auf, fand die Metallschüssel auf dem Schemel mit Brot aufgefüllt und eine neue Wasserflasche dazugestellt. Es schien so, als ob einmal am Tag jemand kommt, um Brot und Wasser nachzufüllen, doch ich konnte nicht sagen wann. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Weitere Stunden – oder waren es Tage? – vergingen und ich hatte immer größere Mühe, den Mut nicht sinken zu lassen. Wann würde ich endlich hier rauskommen?
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte ich draußen vor der Zellentür schwere Schritte, die von mindestens zwei Personen stammen mussten. Ein flackernder Lichtschein fiel durch das Türgitter. Die Tür ging auf und zwei Männer betraten den Raum. Ich stellte mich schlafend, versuchte dabei aber zwischen Augenlidern und Wimpern hindurch etwas zu erkennen. Der größere der beiden Männer trug eine schlafende oder bewusstlose Frau auf seinen tätowierten, muskelbepackten Armen. Er legte sie vorsichtig auf der mir gegenüberliegenden Seite des Kerkers auf einen mitgebrachten Strohsack. Sie schien ungefähr in meinem Alter zu sein, trug einen Kurzhaarschnitt und ein bis zu den Knöcheln reichendes, durchgeknöpftes Kleid mit Blumenmuster. Das Kleid war mitgenommen und verdreckt, teilweise hingen nur noch Fetzen herunter, zwischen denen lange, leicht gebräunte Beine hervorlugten. Ich beobachtete, wie die beiden Männer sich umschauten. Sie schienen fest davon auszugehen, dass meine neue Zellengenossin und ich sich im Tiefschlaf befinden.
„Sergei, na komm‘ schon, mach‘ hin, das Schlafmittel hält nicht ewig an!“ hörte ich den kleineren von beiden sagen. Er sprach mit leichtem, aber klar erkennbarem deutschem Akzent. Zwar war ich bislang nur einmal in Deutschland gewesen, doch dank des Fremdsprachenunterrichts am College verstand ich die Sprache, wenn auch nur leidlich. Der Mann trug Bluejeans und ein schwarzes T-Shirt. Er kam zu mir herüber, ging in die Hocke, berührte mich am Kopf und streichelte mein Haar, das sich nunmehr offen, wie ein Flies aus schwarzem Samt, unter mir ausbreitete. Als er mit einer Hand mein Gesicht zu sich drehte, hatte ich größte Mühe, mich weiterhin schlafend zu stellen. Ich spürte seinen Atem auf meinen Wangen und nahm einen herben Deo-Geruch wahr. Dann richtete er sich auf und bedeutete dem Größeren mit einer kurzen Bewegung seines Kopfes, nun den Abgang zu machen. Doch Sergei ignorierte die Geste, beugte sich stattdessen zu mir herunter und vergrub eine Hand in meine dichte Mähne.
„Also, für diese schwarzhaarige Schöne hier werden wir ein kleines Vermögen einstreichen“, sagte er mit zufriedener, fast lüsterner Miene. „Zu gern würde ich mich selber mit ihr vergnügen.“ Seine linke Hand wuselte noch immer in meinem Haar, während sich seine Rechte wie eine schwere Eisenklammer auf meinen Rock legte, um gleichsam durch den Stoff hindurch meinen Oberschenkel zu umgreifen. Trotz innerlicher Anspannung versuchte ich nicht zu verkrampfen und angesichts seines entschlossenen, männlichen Zupackens locker zu bleiben. Ich überlegte fieberhaft, wie ich mich meiner Haut erwehren könnte, sollte es in eine Vergewaltigung ausarten. Schon stieg in mir eine innere Szene auf, in der ich mich blitzschnell aufbäume, dem bulligen Sergei einen gezielten Tritt in die Leistengegend und seinem etwas schmächtigeren Kumpan einen Handkantenschlag in den Nacken versetze, dann die Wasserflasche zerschlage und den scharfkantigen Flaschenstumpf als Waffe gegen die Kerle einsetze. Doch Sergeis deutscher Kollege unterbrach jäh das martialische Kopfkino, als er sagte:
„Nimm endlich deine dreckigen Pranken von ihr! Sonst wird das nichts mit dem kleinen Vermögen, das wir für sie einstreichen wollen.“
Sergei ließ von mir ab und ich hörte, wie die beiden selbstzufrieden scherzend und lachend die Zellentür hinter sich abschlossen und den Kerker verließen.
Als es wieder still geworden war, ging ich sofort zu meiner neuen Zellengenossin und kontrollierte ihren Puls. Da die Entführer mir meine Armbanduhr abgenommen hatten, versuchte ich, den Puls der bewusstlosen Frau mit meinem eigenen Herzrhythmus abzugleichen. Erleichtert stellte ich fest, dass ihr Herz gleichmäßig und normal schlug. Sie stand offenbar noch immer unter Narkose und mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie wieder zu sich kam. Ich beobachtete sie im flackernden Lampenschein. Währenddessen versuchte sich mein aufgewühlter Geist erneut, ein Bild von der Lage zu machen. War mit dem „kleinen Vermögen“, das sie für mich einstreichen wollten, eine Lösegeldforderung gemeint? Oder ging es hier etwa um Menschenhandel und Prostitution? Es klang fast so, als wolle man uns an einen Harem verkaufen. Doch wer zum Teufel steckte dahinter? Die Mafia? Eine internationale Verbrecherbande?
Im schwachen Schein der Petroleumlampe sah ich eine Maus hinter einem losen Mauerziegel herauskommen und durch den Raum huschen. Als sie zurückkehrte und durch das Loch in der Mauer verschwand, wünschte ich mir, ich könnte so wie diese Maus einfach mit einem Husch aus dieser Zelle verschwinden. Doch was nützte alles Wunschdenken? Ich saß hier mit einer Leidensgenossin fest und konnte nichts anderes tun als warten.
Vor lauter Müdigkeit und Erschöpfung schlief ich ein, bis mich plötzlich jemand mit einer sanften Berührung am Oberarm weckte. Ein Flüstern drang an mein Ohr in einer Sprache, die ich zwar kannte, doch nicht gut sprechen konnte: Deutsch. Ich setzte mich auf und sah mein Gegenüber an. Die junge Frau schien verunsichert, um nicht zu sagen verängstigt. Ich redete beruhigend auf sie ein:
„Mir geht es gut, danke. Aber mein Deutsch ist nicht so gut, ich bin Amerikanerin“, sagte ich auf Englisch in der Hoffnung, dass sie mich verstand. Und das tat sie.
„Wie ist dein Name? Weißt du, wo wir hier sind? Wie lange bist du schon hier? Ich heiße Anne und komme aus Deutschland!“
„Hallo Anne, ich bin Lenora. Ich bin wohl schon seit einigen Tagen hier. Genau kann ich es nicht sagen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wo wir uns befinden. Wie lange bist du schon gefangen? Hast du eine Ahnung, warum sie dich aus Deutschland verschleppt haben?“
„Genaueres weiß ich auch nicht. Ich wurde mit KO-Tropfen betäubt und in einen Transporter verfrachtet. Vermutlich kam ich zu früh wieder zu mir und konnte einige Wortfetzen von meinen Entführern aufschnappen. Ihnen war zu entnehmen, dass ich nach Marokko gebracht werden soll.“
„Marokko?“ fragte ich mit ungläubiger Miene. „Was sollen wir denn da?“
„Ich kann es dir auch nicht sagen, Lenora.“
Wir schwiegen einen Moment und umarmten uns, froh darüber, dass wir nun wenigstens einander hatten. Dann tauschten wir weitere Informationen aus. Ich erfuhr, dass Anne als Lehrerin an einer deutschen Berufsschule arbeitet. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und wurde erst vor wenigen Monaten von ihrem Mann geschieden. Man hatte sie mitten am Tag auf dem Nachhauseweg entführt. Es müssen Profis gewesen sein, denn alles ging sehr schnell und unauffällig. Ich fand Anne nett und verstand mich gut mit ihr. Wir unterhielten uns lange und schafften es durch gegenseitige emotionale Unterstützung, auch die nächsten paar Tage zu überstehen. Nachts schliefen wir aneinandergeschmiegt, um uns gegenseitig zu wärmen. Ab und an brachte man uns Wasser und Brot. Da es in dem Kellerverließ relativ dunkel war, konnten Anne und ich nur wenig erkennen, doch einmal fiel mir auf Sergeis Unterarm ein Tattoo auf. Es zeigte die blutige Klinge eines Krummsäbels.
Dann endlich, nach Tagen, die uns wie eine Ewigkeit vorkamen, ging plötzlich die Zellentür auf. Der Deutsche und sein muskulöser Helfershelfer Sergei gingen entschlossenen Schrittes auf uns zu. Sie packten Anne und mich und ehe wir’s uns versahen, jagten die groben Kerle uns jeweils eine Spritze in den Hals. Augenblicklich wurde mir schwarz vor Augen und die Beine versagten.