Kapitel 22 Geschafft?
Wir schafften es bis zum zweiten Stock. Team zwei und drei schirmten uns nach allen Seiten hin ab. Als wir in den Treppenaufgang zum ersten Stock gelangten, war von unten lautes Brüllen zu hören. Kommandos wurden gegeben, Befehle herausgeschrien. Eine markante Stimme erkannte ich sofort. Es war die von Steve! Ich zuckte zusammen und plötzlich schoss mir der Schweiß aus allen Poren. „Los Ladies, wir müssen uns beeilen!“, schrie ich den anderen zu. Auf Geheimhaltung konnten wir nun getrost verzichten, denn mittlerweile wusste wohl jeder aus Steves Privatarmee, dass wir auf dem Gelände waren und dass Anne sich in unseren Händen befand. Wir hörten Schritte vor uns, unter uns und auch über uns. Sie kamen übers Dach und drängten durch die Stockwerke nach unten. Wie zum Teufel waren sie dort hochgekommen? Waren die Männer per Feuerleiter am Gebäude hochgeklettert oder per Helikopter auf dem Gebäude abgeseilt worden? Es lärmte und polterte. Immer wieder wurden scharfe Kommandos durch die Gänge gerufen. Katrin hatte schon das zweite Magazin ihres Sturmgewehrs leergeschossen und schob gerade das dritte ein. Sie verstand es wirklich, uns die Kerle vom Hals zu halten, sodass ich mich mit Hilfe von Jinjin und Isabell auf den Schutz und die Rettung von Anne konzentrieren konnte. Die Mädels hatten die Treppenaufgänge gesichert und stießen weiter nach unten in den ersten Stock vor. Wir hörten die Salven aus ihren Maschinenpistolen, kurz darauf ihren Funkspruch: „Stockwerk gesichert! Lenora, ihr könnt weiter!“ Ich folgte ihnen über die Treppe zum ersten Stock mit Anne auf meinem Rücken, die mir von Minute zu Minute schwerer wurde. Doch es waren nun nur noch wenige Stufen bis zum Erdgeschoss und mit etwas Glück würden wir es sogar bis nach draußen schaffen. Doch gerade, als wir im Erdgeschoss ankamen, stürmten zwei Dutzend Soldaten und Sicherheitskräfte durch sämtliche Eingänge ins Gebäude hinein. Sie schwärmten in alle Richtungen aus und im Nu waren wir umstellt. Man hörte ihre hastig abgesetzten Funksprüche, mit denen sie weitere Verstärkungen anforderten. „Mist, Mist, Mist!“, dachte ich nur, denn ich hatte gehofft, dass wir es bis zum Ausgang schaffen würden. Wir durften jetzt keine Zeit verlieren und mussten zum Angriff übergehen, bevor die Verstärkungen eintrafen und wir vollends in der Falle saßen. „Team zwei und drei, ihr macht den Weg für uns frei, koste es, was es wolle!“, rief ich in mein Headset. Die Frauen feuerten mehrere Salven aus ihren Deckungen heraus und gingen kurzerhand zum Angriff über. Jinjin und Isabell wichen nicht von meiner Seite und sorgten für Feuerschutz. Die Mädels sicherten Anne und mich effektiv nach allen Seiten hin ab und ließen Steves Schurken kräftig Lehrgeld zahlen für jeden Versuch, uns zu nahezukommen. Schon hatten sie eine Schneise freigeschossen, durch die wir uns weiter in Richtung Ausgang vorarbeiten konnten, doch just in dem Moment, als wir hinter einem mächtigen Betonpfeiler Deckung suchten, erwischte es Katrin. Es muss wohl ein Querschläger oder eine verirrte Kugel gewesen sein, die Katrin am Kopf erwischte. Sie brach sofort zusammen, ihr Gewehr fiel scheppernd zu Boden, und sie regte sich nicht mehr. Isabell versuchte noch, den Puls an Katrins Halsschlagader zu fühlen, doch dann schüttelte sie resignierend den Kopf. Aus Katrins Augen war jeder Glanz erloschen, doch wir waren entschlossen, sie unter allen Umständen nach Hause zu schaffen. Dana aus Team drei, eine kräftig gebaute Athletin mit starken Schultern und breitem Rücken, erklärte sich Bereit, die tote Kameradin huckepack zu nehmen und bei nächster Gelegenheit nach draußen zu schaffen. Die Gegner rückten jetzt aus mehreren Richtungen gegen uns vor. Die Kugeln flogen uns um die Ohren. Ich wusste, dass wir so schnell wie möglich hier wegmussten, wenn wir nicht noch weitere Verluste erleiden wollten. Die Teams bildeten zwei konzentrische Kreise um Anne und mich herum und gingen zu einer 360°-Verteidigung über. Plötzlich hörte ich von der Balustrade im ersten Stock Steves wohlbekannte und furchteinflößende Stimme. Sie rief meinen Namen. Im ersten Moment stockte ich, wollte mich umdrehen, um etwas zu erwidern. Dann spürte ich, wie Isabell mich heftig am Arm zog, denn in dem Moment, als ich Steves Rufen vernahm und innehielt, ragte mein Kopf und Oberkörper hinter der schützenden Deckung hervor. Es kam, wie es kommen musste: ein Projektil traf mich an der Schulter und blieb stecken, was ein Glück im Unglück war, denn bei einem Durchschuss wäre Anne auf meinem Rücken verletzt worden und es hätte ihr wahrscheinlich den Rest gegeben. Ein Glück war auch, dass Isabell mich geistesgegenwärtig hinter den Pfeiler zog, andernfalls wäre der Schuss wohl tödlich gewesen. Der Schmerz durchflutete meinen ganzen Körper und ich hätte am liebsten laut aufgeschrien. Doch ich musste an mich halten, wenn wir es lebend hier raus schaffen wollten. Nora würde sich um jede einzelne von uns kümmern, wenn es uns gelang, einen Weg aus dem Gebäude zu finden. Die Mädels kämpften wie Löwinnen und schufen durch präzises aufeinander abgestimmtes Sperrfeuer eine Todeszone um uns herum. Etliche Gegner, die zu draufgängerisch vorstießen und in die Todeszone gerieten, wurden regelrecht niedergemäht. Im Nu war unsere Fluchtroute von Leichen gepflastert. Doch auch in den Reihen meiner Mädelstruppe mehrten sich die Streifschüsse und andere Schussverletzungen. Ich bewunderte die Entschlossenheit und Tapferkeit, mit der die jungen Frauen sich gegen Steves Männer behaupteten. Über den verschlüsselten Funkkanal hörte ich Baltics Stimme inmitten des heftigen Feuergefechts: „Kätzchen, wie sieht es bei euch aus? Dem Lärm nach zu urteilen, muss da drinnen die Hölle los sein!“ Baltics Stimme klang außer Atem. War er besorgt oder schon im Begriff, selbst etwas zu unternehmen, um uns zu unterstützen? „Die Hölle ist los, das ist noch stark untertrieben, Baltic. Wir stehen unter starkem Beschuss von Steves Männern. Katrin ist gefallen. Ich wurde angeschossen, das Projektil steckt noch in meiner Schulter. Anne ist noch immer bewusstlos. Einige der Mädels sind leicht verletzt, aber noch immer kampffähig. Wir versuchen, uns zum Haupteingang durchzukämpfen. Doch uns geht langsam die Munition aus und Steve ist uns dicht auf den Fersen. Lenora over!“, sprach ich ins Headset und erschrak, wie zittrig meine Stimme klang. „Ich verstehe, Kätzchen. Haltet noch einen kurzen Moment aus. Ich versuche, mit Team vier den Haupteingang zu erreichen. Baltic over and out!“ Baltics Worte ließen die Hoffnung in mir auflodern. Wenn er es mit Team vier bis zum Eingangsbereich schaffen würde, könnte er uns von dort Feuerunterstützung geben. Doch gerade, als wir um die letzte Ecke bogen, sahen wir uns Knall auf Fall einer feindlichen Wand von mehr als fünfzig Männern gegenüber, alle mit Waffe im Anschlag, die auf uns zielten und nur auf Steves Befehl zu warten schienen, um uns allen den Garaus zu machen. Steve stand vor seinen Männern wie ein tyrannischer Big Boss, die Hände in die Hüften gestemmt. Für mich war klar: Das war’s! Steve hatte gewonnen. In wenigen Sekunden würden meine Gefährtinnen und ich von Kugeln durchsiebt werden und sterben. Ich setzte einen letzten Funkspruch ab: „Baltic, ich liebe dich!”