Kapitel 24: Der große Galaball
Einige Tage nach unserem Einsatz bestatteten wir Katrin, unsere tapfere Kameradin, die in den Kämpfen gefallen war. Es war eine Feuerbestattung. Nachdem Katrins Leichnam den Flammen übergeben worden war, fuhren Baltic und ich mit zehn Gefährtinnen aufs Meer hinaus, um ihre Asche den Wellen zu übergeben. Drei Monate später. Nora und ihr Team hatten Anne, die Mädels und mich nach allen Regeln der ärztlichen Kunst wieder zusammengeflickt. Die Wunden waren größtenteils verheilt, auch wenn so manche Narbe bleiben würde als Andenken an unsere spektakuläre Befreiungsaktion. Anne litt noch immer unter Angststörungen und Panikattacken. Sie konnte nicht richtig schlafen. Nora teilte sich mit ihr ein Zimmer und wirkte in den Nächten beruhigend auf sie ein, wenn sie schweißgebadet aus ihren Alpträumen aufschreckte. Im Zuge unserer Kommandoaktion waren etliche Sklavinnen aus Steves Fängen befreit worden. Ein Großteil der Frauen war nur allzu bereit, an unserem Trainingsprogramm teilzunehmen und sich zu Kämpferinnen ausbilden zu lassen. Die Aussicht, in die Lage versetzt zu werden, sich an Steve und dessen Schergen zu rächen, wirkte geradezu elektrisierend. Einige andere, darunter auch ein paar männliche Ex-Sklaven, bevorzugten eine Ausbildung als Sanitäter und medizinischer Assistent. Wir erklärten den neuen Rekrutinnen genau, was wir vorhatten: den Königspalast anzugreifen, komplett einzunehmen und dabei das Auffanglager zu befreien. Da im Palast und bei Steve alle Fäden zusammenliefen, würden wir der ganzen kriminellen Organisation einen vernichtenden Schlag versetzen, wenn wir dort zuschlagen und gleichzeitig Steve dingfest machen. Baltic hatte mich in Kenntnis gesetzt, dass in wenigen Wochen ein großer Galaball auf dem Palastgelände stattfindet. Alle, die im Sklavenhandel Rang und Namen hatten, würden dort anwesend sein. Allen voran Steve mit seinen Leuten, Mitglieder der Königsfamilie, korrupte Staats- und Polizeibeamte, sonstige Funktionäre und jede Menge Sklavenhändler aus nah und fern. Natürlich hatte auch Baltic selbst eine Einladung erhalten und sein Kommen mit einer großen Entourage angemeldet. „Das ist unsere Chance, Ladies!“, sagte Baltic, als wir mit Jinjin, Isabell, Lisa und Katharina im „Operation Center“ – Baltics geheimer Kommandozentrale – um einen elektronischen Kartentisch herumstanden. „Wow, da müssen wir uns aber richtig in Schale werfen!“, sagte Lisa, als sie ein Video vom letztjährigen Galaball auf einem der vielen Monitore mitverfolgte. Feinste Abendgarderobe, Perlenketten, Edelstein-Schmuck, Diamant-Colliers – und die Kleider der Damen sind der reinste Traum. „Ja“, sagte Baltic, „da gibt sich die High Society ein jährliches Stelldichein. Der Champagner fließt in Strömen. All die Profiteure des kriminellen Menschenhandels stellen dort ihren ungerechten Reichtum zur Schau. Wir haben geplant, ungefähr ein Dutzend von euch in ebensolche Abendkleider zu stecken, sodass ihr an der Gala teilnehmen könnt, ohne Verdacht zu erregen. Es wäre eine geradezu perfekte Tarnung!“ Die Gesichter der Frauen hellten sich auf. Die Aussicht, schöne Kleider und teuren Schmuck zu tragen, ließ die Herzen höherschlagen. Sie würden Champagner trinken und sich für ein paar Stunden im königlichen Ambiente prächtig amüsieren. Das waren ja großartige Aussichten. Baltic lächelte jovial. „Und wenn eine von euch etwas Stilberatung benötigt, dann fragt Lenora! Sie war jahrelang als Modejournalistin bei einem Hochglanzmagazin für Damenmode beschäftigt. Wenn sich jemand damit auskennt, dann sie!“ „Abendkleider, schön und gut. Aber den Champagner könnt ihr euch abschminken!“, wandte ich mit etwas strenger Stimme ein. „Ihr seid ja dort schließlich nicht zum Vergnügen!“ Trotz meines Einwandes wich die Begeisterung nicht aus den Gesichtern der umstehenden Frauen. Die Aussicht auf so viel Glanz und Gloria ließ sie für einen Moment vergessen, dass es im Grunde eine Undercover-Mission war, die erhebliche Gefahren in sich barg. Baltic fuhr fort: „Eure Aufgabe ist, den Sicherheitsapparat im Palast zu infiltrieren und im richtigen Moment lahmzulegen. Ich habe ein Virus programmiert, das eine von euch unbemerkt ins Computersystem einschleusen muss. Dann wird das komplette System, deren Kameras, Sensoren, Überwachungsanlagen, Bildschirme, Funkgeräte und so weiter bis hin zu Drohnen für kurze Zeit ausfallen. Die Wachmannschaften werden blind und taub sein, für etwa zehn Minuten. Die taktische Einsatzgruppe wird dieses Zeitfenster nutzen, um das Auffanglager zu sichern und die Frauen im Lager zu befreien.“ „Klingt nach einem guten Plan“, sagte Lisa. „Ich bin dabei! Darf ich mir Kleid und Schmuck selbst aussuchen?“ Baltic rollte mit den Augen und seufzte. „Frauen!“, dachte er nur und ihm wäre um ein Haar eine Bemerkung rausgerutscht, die er sofort bereut hätte. In den folgenden Tagen liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Wir brachten einiges in Erfahrung über die Sicherheitsvorkehrungen im Palast, das Computersystem und seine Schwachstellen. Baltic hatte einige Informantinnen vor Ort und es gab mehrere undichte Stellen, über die wir das nötige Wissen erlangten. Baltic und ich durchforsteten Karten und Drohnenaufnahmen des Geländes, auf dem sich das Frauenlager befand. Wir markierten strategische Punkte, die für unseren Plan von Wichtigkeit sein konnten. Gemeinsam mit Sera plünderte ich Baltics umfangreiche Kleiderkammern auf der Suche nach der geeigneten Garderobe für unsere Undercover-Agentinnen. Als langjährige Modejournalistin war ich schließlich vom Fach und konnte gut beurteilen, ob sich ein Kleid, ein Kostüm oder Gewand für den Galaball eignete oder eher nicht. Zu meinem Erstaunen hatte Baltics private Boutique doch einiges zu bieten: von Mini bis Maxi, von elegant zu verspielt, von klassisch bis modern. Es machte mir Spaß, die Mädels nach allen Regeln der Kunst auszustaffieren, bis sie von den Prinzessinnen und Edeldamen, die für gewöhnlich die Gala bevölkerten, nicht mehr zu unterscheiden waren.
*
Endlich war der große Tag gekommen. Die ganze Stadt pulsierte voller Energie. Das Palastgelände war geschmückt und beleuchtet. Wir spürten die Schwere der Vergangenheit, die sich für uns mit dem Areal verband, aber auch den unbändigen Willen zur Freiheit in unseren Adern. Laternen säumten die Wege. Der Eingang zum Festsaal war prunkvoll dekoriert. Von drinnen hörte man die Klänge eines Live- Orchesters, das für dezente Hintergrundmusik sorgte. Im Gegensatz zu Lisa und Katharina war ich eine der acht Frauen, die zum Infiltrationsteam gehörten. Die beiden hatten sich leider zu früh auf die prachtvollen Ballkleider gefreut, denn sie wurden „aus einsatztaktischen Gründen“ anderen Teams zugewiesen. Katharina war die beste Scharfschützin und musste wohl wieder auf irgendeinem höher gelegenen Aussichtspunkt mit ihrem langläufigen Spezialgewehr in Stellung gehen. Lisa hatte sich beim Abschlusstraining den Knöchel verstaucht und war nicht in der Lage, in Stöckelschuhen auch nur zwei Meter voranzukommen. So war kurzfristig die 33-jährige Musikerin aus Frankreich in unser Team nachgerückt, die Baltic unbedingt hatte ersteigern wollen. Sie hieß Adeline und steckte offensichtlich nicht zum ersten Mal in so feiner Abendgarderobe. In dem prächtigen langen Kleid, das sie trug, strahlte sie eine feminine Eleganz aus, die sämtliche Männerblicke um sie herum regelrecht gefangen nahm. In der überaus festlichen Garderobe und mit dem sündhaft teuren Schmuck im Halsausschnitt und am Handgelenk fühlten wir uns wie Königinnen. Noch hatten wir den Prunksaal nicht betreten, sondern mischten uns unter die pulsierende Menge auf den Wegen, Gängen und Fluren. Immer wieder nahmen wir untereinander Blickkontakt auf und nutzten Pager, um Informationen auszutauschen. Als sich die Gäste im Festsaal sammelten, verteilten auch wir uns unter die Anwesenden. Im hinteren Bereich der Bühne fielen mir mehrere Männer auf, die zusammenstanden und sich angeregt austauschten, vermutlich Händler, die ihre Geschäftsbeziehungen pflegten oder neue anbahnten. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es waren nur noch wenige Minuten bis zur offiziellen Eröffnung der Gala. Ich wollte die Eröffnungszeremonie nutzen, um Baltics Virus in das Computersystem einzuspeisen. Die anderen waren schon dabei, einige Sicherheitsleute abzulenken, sodass ich unbemerkt durch eine Seitentür verschwinden und mich auf den Weg zum Serverraum machen konnte. Ich rief mir den sorgsam eingeprägten Gebäudeplan vor mein inneres Auge und hoffte, dass der Serverraum sich noch immer dort befand, wo er auf dem Plan eingezeichnet war. Dort angekommen, sah ich an den vielen LEDs und Computerkabeln, dass ich richtig war. Im Serverraum selbst war gerade ein Techniker zugange. Als er mich sah, öffnete er die Tür und versuchte mich abzuwimmeln: „Tut mir leid, Fräulein, aber sie dürfen hier nicht rein!“ Ich tat ein wenig hilflos und so, als ob ich mich verlaufen hätte. Dabei beugte ich mich etwas vor, um ihm scheinbar unabsichtlich einen informativen Blick in den Ausschnitt zu gewähren. Die dadurch erzielte Ablenkung verschaffte mir genügend Zeit, einen kleinen Taser aus der Rocktasche zu ziehen und damit den IT-Fachmann davon zu überzeugen, dass 50 Kilovolt eine umwerfende Wirkung haben. Ich stieg über den geschockten Typen hinweg, dessen Gliedmaßen noch einige unwillkürliche Zuckungen vollführten, und betrat den Serverraum. Dann holte ich den Speicherstick mit Baltics Virus aus der anderen Rocktasche und steckte ihn in einen Slot an einem der Server. Sogleich schickte ich mit dem Pager eine Nachricht an Baltic: Speichermodul platziert. Lass sie tanzen, Liebster! An mein Team schickte ich die Nachricht: Macht euch bereit, Mädels! Gleich geht die Party richtig los! Es war an der Zeit zu handeln. Jetzt zählte jedes Detail und ich hoffte, dass all unsere peniblen Vorbereitungen für genau diesen Moment nicht vergebens sein würden.