Kapitel 2: Die Hölle auf Erden
Ich wachte auf. Sonnenstrahlen fielen mir ins Gesicht viel. Sie blendeten so stark, dass ich die Augen geschlossen halten musste. Nach Tagen – oder waren es Wochen? - in einer dunklen, kalten Kerkerzelle war es eine Wohltat für Körper und Seele, die wärmende Sonne auf der Haut zu spüren. Während meine Augen
sich langsam an die Helligkeit gewöhnten, nahm ich schemenhaft mehrere Gestalten in der näheren Umgebung wahr, einzeln und in kleineren Gruppen. Das Bild wurde deutlicher. Ich befand mich in einer Art Gefangenenlager,
wie man sie aus Kriegsfilmen kannte. Ein mit Stacheldrahtzaun umgebenes Camp, aufgebaut aus einfachen Holzbarracken und Zelten. Einige Bereiche des Areals waren mit weißem Leinen überzogen, das eine Art Baldachin bildete und einen gewissen Sonnenschutz bot. Die Gestalten, die ich zuerst nur schemenhaft
wahrgenommen hatte, waren allerdings keine Kriegsgefangenen, sondern ausnahmslos Frauen.
Meiner ersten Schätzung nach waren es mindesten dreißig, die sich gerade außerhalb der Zelte und Barracken aufhielten. Wie viele insgesamt hier interniert waren, konnte ich kaum abschätzen. Mir fiel auf, dass die Frauen zum größten Teil noch jung waren, die meisten zwischen zwanzig und dreißig, ein paar wenige vielleicht Anfang bis Mitte dreißig, doch auch einige Mädchen, die vielleicht erst siebzehn oder achtzehn Jahre - sein mochten. Wo war ich hier bloß gelandet? Wer waren all diese Mädchen und Frauen und was hatte man mit ihnen vor?
Ich schaute mich um und blickte durch den Stacheldraht, der oben auf den fast zwei Meter hohen Maschendrahtzäunen befestigt war. In der ferne sah ich einen Palast, ein märchenhaft anmutendes Gebäude, das in der Mittagssonne erstrahlte, als sei es aus weißglänzendem Marmor erbaut. Um den Palast patrouillierte eine
stattliche Anzahl an Wachsoldaten, die sich in regelmäßigen Abständen beim Wachdienst ablösten. Von bewaffneten Soldaten wurde auch das Frauenlager bewacht. Es gab zwei hohe Wachttürme, in denen jeweils eine bis zwei Männer Dienst taten und das gesamte Areal überblicken. Etliche der Wachsoldaten trugen einen Turban, was ihnen ein exotisches Aussehen verlieh. Daneben gab es aber auch eher westlich gekleidete Burschen, die in und außerhalb des Lagers umherliefen und offenbar nicht zum Militär gehörten. Einige trugen
Basecap oder Strohhut, um sich vor der Sonne zu schützen. Wenn Anne Recht hatte, mussten wir in Marokko sein. Apropos Anne, wo steckte sie nur?
Ich schaute mich im Lager um und versuchte, Anne zwischen all den Frauen auszumachen.
Die meisten waren abgerissene Gestalten und erschienen genauso erschöpft und durcheinander wie ich. Manche hatten erkennbar blaue Flecken an Armen und Beinen, manche wiesen kleinere Verletzungen auf. Was immer mit
ihnen geschehen sein mochte, es war klar, dass man sie nicht nur grob angefasst, sondern auch geschlagen und gedemütigt hatte. Ich wandte mich einem blonden Mädchen zu, kaum älter als achtzehn. Sie war verhältnismäßig
hochgewachsen für ihr Alter und hatte große, tiefblaue Augen, die jedoch all ihren Glanz verloren hatten und stumpf vor sich hinstarrten. In ihnen spiegelte sich Leere und Hoffnungslosigkeit. Was hatte dieses schöne, junge Ding schon alles wegstecken müssen?
Vorsichtig nahm ich ihre zitternde Hand und drückte sie leicht. Sie sollte wissen, dass sie nicht allein war und ich ihr beistehen würde. Vielleicht konnte ich noch mehr für sie tun. Das Mindeste wäre, sie vor weiteren Übergriffen zu schützen. Da ich nach meinem Uniabschluss ein freiwilliges Ausbildungsjahr bei der USArmy
absolviert hatte, beherrschte ich Grundlagen des Nahkampfes und konnte mit Feuerwaffen umgehen.
Ich wusste mich meiner Haut zu wehren. Wenn das Schicksal mir Gelegenheit dazu gäbe, würde ich mein Wissen und Können anwenden. Vielleicht konnte ich es auch an meine Leidensgenossinnen weitergeben.
Vielleicht konnte es uns helfen, das Ganze lebend zu überstehen und irgendwie hier raus zu kommen. Doch welchen Plan auch immer wir uns ausdenken mochten, er konnte nur funktionieren, wenn wir zusammenhielten und so gut wie möglich kooperierten.
Ich begann das Lager auszukundschaften und nach Schwachstellen zu suchen, die man für eine Flucht hätte nutzen können. Der Zaun, der das Camp runterherum umgab, war an zwei Stellen von einfachen Türen aus
Draht und Metallstangen und an der Frontseite von einem großen Tor unterbrochen, durch das auch Fahrzeuge passten. Die Türen konnten per Schlüssel auf- und zugeschlossen werden. Das Tor bestand aus zwei
Flügeln, die auf Rollen liefen und per Fernbedienung geöffnet und geschlossen wurden. Eine Flucht schien allerdings unmöglich, nicht nur wegen der Umzäunung, sondern wegen der vielen Wachen und Soldaten,
die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Lagers rund um die Uhr patrouillierten. Von den beiden hohen Wachttürmen aus hatte die Wachmannschaft alles unter Kontrolle. Doch ich durfte den Mut nicht sinken
lassen und versuchte, mir einen Fluchtplan auszudenken, auch wenn er noch so tollkühn erscheinen mochte.
Endlich entdeckte ich Anne vor einer der Holzbarracken. Ich lief direkt zu ihr und fragte: „Anne, wie geht’s dir? Alles in Ordnung oder hast du was abbekommen?“
„Hallo Lenora, schön dich zu sehen. Ich habe schon nach dir gesucht. Mir geht es den Umständen entsprechend. Und dir?“
„Ich habe mich einigermaßen von den Strapazen der letzten Tage erholt, jetzt da wir im Freien sind und wieder Sonnenlicht tanken und frische Luft atmen können. Anscheinend hattest du Recht und sie haben uns tatsächlich nach Marokko verschleppt.“
„Uns, und all die anderen Frauen hier“, sagte Anne mit resignierendem Unterton. Einige von ihnen sind noch so jung, es sind fast noch Kinder. Sie haben das hier nicht verdient.“
„Ja, Anne, ich weiß. Ich befürchte sogar, dass mindestens eines der Mädchen vergewaltigt wurde.“
„Oh mein Gott, das ist ja fürchterlich!“, erwiderte Anne und klang noch resignierter.
Wir schwiegen für einen Moment und beobachteten die Frauen. Sie schienen aus aller Herren Länder zu stammen. Es waren Nord- und Südeuropäerinnen darunter, genauso wie arabisch und persisch aussehende, einige wenige Afrikanerinnen und etliche, die man leicht an ihrer asiatisch-fernöstlichen Herkunft erkannte.
Die meisten trugen noch ihre zivile Kleidung, die sie auch zum Zeitpunkt ihrer Entführung getragen haben mussten. Infolge der Strapazen war insbesondere die Oberbekleidung schmutzig, stellenweise blutig, löchrig oder zerrissen. Auch mein einst sorgsam ausgesuchter Bleistiftrock wies einen langen Riss auf, der auf den
ersten Blick wie ein hoher Seitenschlitz wirkte. Es musste passiert sein, als ich versucht hatte, mich gegen Sergei und seine Betäubungsspritze zu wehren.
An einer Art Ausgabestelle wurde Wasser und Essen an die Insassinnen verteilt. Die Aufsicht hatte eine Frau, die schätzungsweise Anfang fünfzig war. Sie gehörte offenbar zum Lagerpersonal und blickte uns dermaßen böse und unbarmherzig an, dass einer sogleich der Spruch in den Sinn kam: „Wenn Blicke töten
könnten.“
Am Nachmittag kam ein Wachtrupp und nahm drei Frauen mit, darunter eine Japanerin mit schwarzglänzendem Haar. Alle drei wehrten sich, doch nur die Japanerin verzeichnete dabei einen gewissen Erfolg. Sie beherrschte offensichtlich eine Technik der asiatischen Kampfkunst. Während die anderen beiden wild auf die Wachen einschlugen, kratzten und bissen, verteilte sie gezielte Schläge und Tritte. Diese waren so schnell und hart, dass ein Wachmann auf der Stelle K.O. ging und zwei weitere sich Sekunden später auf dem Boden wiederfanden, einer von ihnen mit ausgeschlagenen Zähnen. Schnell eilten mehrere Männer zur Verstärkung herbei, einer der Vorgesetzten zog seine Pistole und hielt sie der Japanerin an den Kopf. Sofort gaben alle drei Frauen ihren Widerstand auf und ließen sich abführen, denn es gab keinen Zweifel daran,
dass der Wachoffizier von der Schusswaffe Gebrauch machen würde.
Was sollte mit ihnen passieren? Werden sie geschlagen, misshandelt oder gar gefoltert? Aber wozu? Keine der anderen Frauen hatte versucht, den drei Leidensgenossinnen zu helfen. Viele sanken die Köpfe, einige zitterten oder weinten. Anne und ich schauten uns kurz an. Wir gaben uns mimisch zu verstehen, dass wir vorerst nichts unternehmen konnten gegen diese Monster. Ich wartete den ganzen Abend darauf, dass die drei Abgeführten wieder zurückgebracht würden, doch sie kamen nicht.
Anne und ich rückten enger zusammen.
„Was glaubst du, was sie mit den Frauen machen?“ fragte ich leise.
„Keine Ahnung, aber ich befürchte nichts Gutes.“
„Ich verstehe nicht, warum sie alle so mutlos sind. Lediglich diese Japanerin hat es gewagt, gegen die Kerle aufzubegehren. An ihr könnten wir uns alle ein Beispiel nehmen!“
„Nun ja, Lenora, sie sind alle ziemlich eingeschüchtert, nach dem, was sie hinter sich haben.“
Auch wenn es mir nicht behagte, aber Anne hatte Recht. Ich musste einen Weg finden, um den Frauen zu neuem Mut zu verhelfen. Möglichst unauffällig beobachtete ich die Wachen, wie sie in ihrer täglichen Routine
patrouillierten. Alle paar Stunden lösten sich die einzelnen Wachtrupps gegenseitig ab. Der Wachwechsel lief ab wie im Film, pünktlich auf die Minute und in einwandfreier militärischer Disziplin. An Anne angelehnt schlief ich erschöpft ein.
Die warmen Strahlen der Morgensonne weckten uns beide fast zur gleichen Zeit auf. Die grimmig dreinblickende, ältere Frau saß wie jeden Tag an ihrem Ausgabeschalter und verteilte Wasser und Brot. Wir reihten uns in die Schlange der Anstehenden ein und erhielten schließlich jede eine Wasserflasche und ein belegtes Brot. Rund um den Ausgabeschalter standen Tische und Sitzbänke, sodass der Platz als eine Art Speisesaal diente. Wir setzten uns mitten unter die anderen und frühstückten zusammen. Ich schaute mich nach den drei Frauen um, die am Vortrag abgeführt worden waren, konnte sie jedoch nirgends entdecken.
Nach dem Frühstück hingen alle ihren trüben Gedanken nach. Auch Anne saß gedankenverloren da und sprach kaum. Am Nachmittag erfolgte der routinemäßige Wachwechsel. Wie am Vortag streifte ein Vierertrupp durch das Lager und zog scheinbar wahllos Frauen heraus, um sie mitzunehmen. Wieder schauten alle nur zu. Einem spontanen Impuls nachgebend sprang ich auf um einzugreifen, doch Anne hielt mich am Arm fest und schüttelte vielsagend den Kopf.
Die nächsten Tage verliefen nach gleichem Muster. Jeden Nachmittag, unmittelbar nach dem Wachwechsel, wurden zwei oder drei Frauen mitgenommen. Doch es gab auch täglich Neuzugänge. Innerhalb von sieben Tagen trafen weitere neun Frauen im Lager ein. Ich verlor immer mehr den Mut, da es scheinbar nicht die
geringste Chance gab, aus diesem gut gesicherten und stark bewachten Camp zu entkommen.
Am zehnten Tag war es dann so weit. Nach dem Wachwechsel durchstreiften die Soldaten wie jeden Nachmittag das Lager. Zwei Männer kamen direkt auf Anne und mich zu, packten uns an den Armen und rissen uns hoch. Im gleichen Moment boxte ich einem von ihnen in den Bauch. Er krümmte sich zusammen und
ließ mich los. Ich drehte mich, gelangte mit einem langen Schritt hinter ihn und trat ihm kraftvoll in die Kniekehlen. Er knickte ein und landete auf den Knien. Dann folgte ein Drehtritt, der ihn von der Seite mit voller Wucht an der Schläfe traf und außer Gefecht setzte. Auch Anne wehrte sich erfolgreich. Ich bekam
noch mit, wie sie den vor ihr zusammengekrümmten Mann mit einem brutalen Kniestoß mitten ins Gesicht traf und er mit gebrochener Nase und ausgeschlagenen Zähnen zu Boden ging.
Schnell eilten mehrere Wachen zur Verstärkung herbei. Anne wurde von drei Kerlen gleichzeitig gepackt und gewaltsam Richtung Ausgang gezerrt. Sie schrie meinen Namen und wehrte sich so gut sie konnte, doch es half nichts.
Zwei weitere Männern hielten mich von vorne an den Armen fest. Ich spürte einen kurzen, dumpfen Schmerz, als ein dritter den Schaft seines Gewehrs in meinen Nacken stieß. Mit dem Gesicht voran fiel ich zu Boden und es wurde mir schwarz vor Augen.
Irgendwann in der Nacht wachte ich auf. Mein Schädel dröhnte und schmerzte. Ich versuchte mich aufrecht hinzusetzen, doch es funktionierte nicht. Schürfwunden an Ellbogen und Unterarmen rührten vermutlich von dem Sturz her. Alsbald fiel ich wieder in einen unruhigen Schlaf und wachte erst am nächsten Morgen
auf.
Die ältere Frau verteilte die morgendlichen Essensrationen. Ich fühlte mich zu schwach zum Aufstehen und verspürte weder Hunger noch Durst. Als sie bemerkte, dass ich nicht zur Essensausgabe erschien, wies sie einen der Wachmänner an, mir mein Frühstück zu bringen. Auch tags darauf gab sie Anweisungen, sodass ich pünktlich meine täglichen Rationen bekam. Da ich ihre Sprache nicht beherrschte, gab ich ihr am dritten Tag mit einem wohlwollenden Zwinkern zu verstehen, dass ich es schätzte, bei der Essensausgabe nicht
übergangen worden zu sein.
Trotz der widrigen Bedingungen der Lagerhaft versuchte ich, so gut es ging, bei Kräften zu bleiben. Nach mehr als zwei Wochen im Camp unter freiem Himmel hatte die nordafrikanische Sonne uns alle braun gebrannt.
Als dann eine Regenfront heraufzog uns sich über uns ergoss, war es wie eine wohltuende Dusche.
Dann, eines Nachts, kamen die Wachen und überwältigten mich im Schlaf. Durch den schmalen Schlitz
meiner flackernden Augenlider glaubte ich den bulligen Sergei zu erkennen. Er hielt mich mit einer Hand niedergedrückt und setzte mit der anderen einmal mehr seine unwiderstehliche Injektion an.