Kapitel 3: Märchen aus Tausendundeiner Nacht
Als ich aufwachte, wurde ich von grellem Neonlicht geblendet. Ich lag auf einer Art Krankenbett und war nackt. Offenbar war ich abgebraust oder sogar gebadet worden. Arme und Beine waren angegurtet. Der Raum sah im ersten Moment aus wie ein Krankenzimmer. Rechts der Tür stand ein Wachtposten, der mit eiserner Miene geradeaus starrte. An seinem Gürtel hing ein Holster, in dem eine Pistole steckte.
Ich wandte meinen Blick von ihm ab und streckte meine schmerzenden Glieder. Mühsam versuchte ich nachzuvollziehen, was in den letzten Stunden geschehen sein mochte. Sie haben Anne und mich aus dem Lager geholt, doch wo haben sie uns hingebracht? Waren wir der einen Hölle entkommen, nur um in eine neuerliche einzutreten?
Die Tür öffnete sich und zwei Frauen in weißer Schwesternkleidung kamen herein. Eine von ihnen sagte ein paar Worte zu dem Wachmann an der Tür. Dann wandten sie sich mir zu und lösten die Gurte, die mich ans Bett fesselten. Eine der Schwestern klappte das Kopfteil des Bettes nach oben, sodass mein Oberkörper sich aus liegender Haltung aufrichtete und ich eine sitzende Haltung einnahm. Dann breiteten sie eine Art Kittel über mir aus und begannen, diverse Utensilien aus Schubladen und Schränken hervorzuholen. Die Utensilien legten sie auf
einen kleinen Rollwagen neben dem Bett, auf dem bereits eine Schüssel Wasser stand. Als ich genauer hinsah, stellte ich mit Erleichterung fest, dass es keine Foltergerätschaften oder dergleichen waren. Nein, im Gegenteil, ich hatte all das, was auf dem Wägelchen vor mir lag, schon einmal gesehen. Neben der Wasserschüssel befanden sich einige Handtücher, ein Behälter mit Heißwachs und Kaltwachsstreifen, außerdem Pinzetten und Zupfgarn. Die „Folter“,
die mir bevorstand, war offenbar eine Ganzkörper-Enthaarung. Eine solche kosmetische Behandlung war zwar nicht das Angenehmste, doch sie war mir auch nicht völlig fremd, denn ich hatte mich in einem kalifornischen Schönheitssalon schon einmal dieser Prozedur unterzogen.
„Wer schön sein will, muss leiden“, wurde mir damals von einer Kosmetikerin gesagt.
Die beiden „Krankenschwestern“ träufelten mir warmes Wachs auf Arme, Beine und Oberkörper.
Das erkaltete Wachs zogen sie in langen Streifen ruckartig vom Körper ab, wodurch die Körperbehaarung fachkundig entfernt wurde.
Der Wachmann an der Tür beobachtete die Prozedur mit regloser, fast steinerner Miene. Offenbar sah er so etwas nicht zum ersten Mal. Auch die beiden Schwestern verrichteten ihre Arbeit, ohne ein Wort mit mir zu wechseln. Nach der Enthaarung wurde ich eingeölt und massiert, was ich trotz der merkwürdigen Umstände genoss.
Wie es Anne wohl geht? fragte ich mich in Gedanken. Wird sie vielleicht gerade der gleichen Schönheitsbehandlung unterzogen wie ich? Nach der Ölmassage wickelten die beiden Frauen mich in ein großes, weißes Frotteehandtuch und verließen anschließend den Raum. Wenig später erschienen sie wieder mit einer Art Kosmetikkoffer, aus dem sie diverse Utensilien hervorholten, darunter Schere, Bürste, Makeup und Nagellack. Die größere der beiden, ohne Zweifel eine ausgebildete Friseurin, kämmte fachmännisch meine langen Haare, schnitt
meine Spitzen und formte die füllige Mähne zu einer eleganten Hochsteckfrisur. Ihre Kollegin widmete sich der Pediküre. Zu guter Letzt wurde ich dezent geschminkt. Man war mehr als eine Stunde mit mir beschäftigt.
Doch was sollte das alles? Erst die Entführung und Gefangennahme, dann die Strapazen im Kerkerverließ und im Frauenlager und jetzt die unverhoffte Behandlung in einem geheimen Schönheitssalon. Es ergab keinen Sinn.
Die beiden „Kosmetikerinnen“ verließen den Raum. Kurze Zeit später erschien eine Dame mittleren Alters mit einem fahrbaren Kleiderständer. Auf ihm hingen mehrere Saris und leichte Gewänder, wie ich sie nur aus Abenteuerfilmen kannte: leichte, wallende und nahezu durchsichtige Stoffe, wie sie indische Bauchtänzerinnen trugen. Die Dame musterte mich von oben bis unten und zog dann ein goldfarbenes Gewand heraus. Sie bedeutete mir aufzustehen und das bauchfreie Gewand anzuziehen. Es bestand aus einem bikiniartigen Oberteil, der Bereich zwischen Dekolleté und Schultern war aus spitzenartigem Material, in das lange Goldfä- den eingearbeitet waren, die wie Lametta bis zur Hüfte herunterhingen. Der untere Teil bestand aus einem langen, goldglänzenden Rock, vorn und hinten mit einem hohen mittigen Schlitz versehen, was der Trägerin trotz der engen Schnittform eine gewisse Beinfreiheit gewährte.
Dazu sollte ich offene, silberglänzende Stöckelschuhe tragen, die zwar perfekt zu
dem Gewand passten, in denen jedoch nicht sehr bequem zu laufen war.
Als ich schließlich fertig ausstaffiert war, nahm der Wachmann mich am Arm und führte mich aus dem Raum. Er schob mich einen langen Gang entlang, an dessen Ende sich ein glä- serner Fahrstuhl befand. Der Wachmann betätigte einen Knopf und der Fahrstuhl fuhr nach unten. Im Erdgeschoss angekommen traten wurde ich einem anderen Wachtposten übergeben, der mich aus dem Gebäude herausführte. Am Straßenrand stand eine schwarze Limousine mit verdunkelten Scheiben. Nach einer knappen halben Stunde Fahrzeit hielt der Wagen an und
die Türen wurden von außen geöffnet. Mein Blick fiel auf das prachtvolle Palastgebäude mit Kuppeldächern und Türmen, das ich schon vom Gefangenenlager aus gesehen hatte. Das Lager konnte also nicht allzu weit entfernt sein. Der imposante Palast und die exotische Umgebung kamen mir vor wie aus einem Märchen der Sammlung Tausendundeine Nacht. Ich hätte nichts dagegen gehabt, in eine solche Märchenwelt einzutauchen. Doch als ich die vielen bewaffneten Wachmänner und Soldaten bemerkte, wurde mir wieder schmerzlich bewusst, dass ich eine Gefangene war.
Nachdem ich aus der Limousine ausgestiegen war, wurde ich erneut einem uniformierten Posten übergeben, der offenbar zur Palastwache gehörte. Er führte mich auf dem Weg über mehrere Treppen ins Gebäude hinein, dann ging es durch lange, gewundene Gänge, einer prachtvoller als der andere. Die Innenarchitektur des Palastes war atemberaubend. Bunte Fahnen hingen an den Wänden, die Decken waren mit kunstvollen Mosaiken verziert. Auf den Böden lagen handgearbeitete Teppiche, die eigentlich zu schade und viel zu wertvoll waren, um auf ihnen zu laufen.
Nach einem rund zehnminütigen Gang durch das Palastinnere kamen wir schließlich in einem großen Hof an, der voller Menschen war. Hier herrschte reges Treiben wie auf einem Markt.
Schon nach wenigen Minuten wurde mir klar, dass es auch tatsächlich ein Markt war, nämlich ein Sklavenmarkt und ich war eine der erwerblichen Waren. Jetzt erkannte ich auch immer mehr Mädchen und Frauen aus dem Lager wieder. Auch sie waren einer aufwändigen Schönheitsbehandlung unterzogen worden und in wunderschöne, exotisch anmutende Gewandungen gehüllt. Ich versuchte angestrengt, Anne unter den Anwesenden auszumachen, doch sah sie nirgends. Vielleicht konnte ich sie auch einfach nicht auf Anhieb erkennen, da sie ganz anders frisiert und zurechtgemacht sein mochte, als ich sie in Erinnerung hatte. Was sollte jetzt mit uns passieren?