Es gab fast nichts auf der Welt, was Raffaela lieber tat als Handball spielen. Ihr Talent hatte ihr ermöglicht, viele Stunden weit weg von ihrem Vater zu verbringen, auf Lehrgängen und Nationalmannschaftsspielen. Das Bewusstsein, dadurch nicht in seiner Reichweite zu sein, hatte eine tiefe Liebe zu diesem Sport entfacht.
Dementsprechend gelöst war Raffaela schon auf dem Weg zum Lehrgang. Sie genoss die geschützte Umgebung im Auto ihrer Kollegin Dinah, die ebenfalls berufen worden war. Je weiter sie sich auf der Autobahn von Kassel entfernten, desto fröhlicher wurde sie.
Vor dem kleinen Waldhotel etwas abseits von München parkten schon ein paar Kleinwagen, deren Nummern sie erkannte. Auch ihre Zimmerkollegin war schon da, gerade kam sie aus dem Hotel und öffnete den Kofferraum. Raffaela stieg aus und winkte. „Hey, Shenia!“.
Die Blondine schaute auf und lächelte, als sie Raffaela bemerkte.
„Hey! Schön, dass ihr auch schon da seid. Wie war die Fahrt?“.
Shenia trug eine Sporttasche zu ihnen herüber und umarmte Raffaela und Dinah zur Begrüßung.
„Die Fahrt war angenehm, kein Stau“, gab Dinah zu Protokoll, dann öffnete auch sie ihren Kofferraum, um das Gepäck zu holen.
Mit nachdenklichem Blick legte Shenia den Kopf schief und betrachtete Raffaela. Sie wirkte sehr gelöst und gut gelaunt, was wohl der Grund war? Sie nahm sich vor, das später in der Ruhezeit zu fragen.
Raffaela und Dinah trugen ihr Gepäck auf die Zimmer und begrüßten ihre anderen Kolleginnen und die Verantwortlichen der Mannschaft, auch verschiedene Physiotherapeuten waren bereits da.
Shenia ließ Raffaela noch ein paar Minuten für sich, dann betrat sie das gemeinsame Zimmer.
„Und, wie geht‘s dir? Abgesehen vom Handball, meine ich“, fragte sie und setzte sich auf ihr Bett, genau gegenüber von Raffaela.
Die hielt beim Auspacken kurz inne, machte dann aber weiter und schwieg Shenia an. Obwohl sie Shenia mochte, ging es auch sie nichts an, wie es Raffaela zu Hause ging. Es hatte niemandem zu interessieren. Raffaela funktionierte, war freundlich und strebsam, das musste der Öffentlichkeit reichen.
Shenia hatte mit der Zeit gelernt, Raffaela nicht zu sehr zu nerven. Nachdem einige Minuten keine Antwort kam, wandte sie sich ab. So wie sie Raffaela kennengelernt hatte, schien sie gerade eine abweisende Phase zu haben. Das war schade, denn Shenia wusste, dass Raffaela auch anders konnte. Diese Zeiten mit ihr waren sehr schön, aber jetzt beschloss Shenia, Raffaela ihre Ruhe zu lassen und Unterhaltung in einem anderen Mädelszimmer zu suchen, deshalb verlies sie das Zimmer wieder.
Raffaela war das Recht. Gerade war sie lieber alleine. In letzter Zeit hatte sie sich wieder mehr mit ihrem Vater gestritten und die Vorwürfe am Tod ihrer Mutter steckten ihr noch in den Knochen. Sie atmete hart aus und trat gegen das Bettgestell. Der Schmerz in ihrem Fuß half ihr, sich von den Gedanken abzulenken. Kurz überlegte sie, zu den anderen Mädels zu gehen und sich abzulenken, aber auf Menschen hatte sie gerade keine Lust.
Stattdessen kramte sie ihre Laufschuhe aus ihrem Koffer und zog sich zum Joggen um. Auch das Laufen half ihr oft, ihre Gedanken zu ordnen. Sie erkundigte sich noch kurz, bis wann sie wieder im Hotel sein musste, dann verabschiedete sie sich und ging nach draußen.
Es hatte nur wenig abgekühlt und die große Menschenansammlung der Handballmädels hatte sich aufgelöst, nur noch einzelne Gäste standen auf dem Parkplatz herum, luden Koffer aus.
Ein Waldstück grenzte an das Hotel, in dem sie joggen gehen wollte. Zwischen den Bäumen war es ein wenig kühler und ein leichter Wind wehte, aber das Wetter empfand Raffaela als genau richtig zum Joggen, sie mochte es nicht allzu warm.
Die ersten Schritte waren noch ein wenig steif, in letzter Zeit war sie nicht viel Laufen gewesen, aber nach wenigen Metern verfiel sie schon in ihren gewohnten Rhythmus. Nur Vogelzwitschern begleitete sie, ab und zu raschelte es im Wald, aber kein Mensch begegnete ihr. Der Weg führte geradeaus und hatte keine Abzweigungen, sie würde irgendwann dann umkehren müssen.
Sie war bereits ein paar Minuten unterwegs, als sich von der Ferne eine Silhouette abhob. Man konnte erkennen, dass es sich um einen Menschen handelte, der auch zu joggen schien.
Raffaela wurde automatisch langsamer. Sie wollte keinem Menschen begegnen und sie erwog ernsthaft, umzudrehen und zu gehen. Andererseits, was sollte schon passieren? Sie würden aneinander vorbei laufen und dann weiterjoggen. Kopfschüttelnd beschleunigte sie ihr Tempo wieder. Sie machte sich zu viele Gedanken.
Ihr Gegenüber schien sie nicht einmal wirklich bemerkt zu haben, er wich ihr erst im letzten Moment aus, als er erschreckt aufschaute.
„Sag mal, spinnst du?!“, fauchte er sie an und Raffaela wagte einen Blick.
Der junge Mann trug ebenfalls Joggingkleidung und ein Stirnband, das seine braunen Locken bändigte. In ihrer Erinnerung blitzte flüchtig auf, dass sie das Gesicht schon einmal gesehen hatte, aber sie machte sich keine Gedanken darüber. Der einzige Gedanke galt der Überlegung, wie sie möglichst schnell von diesem fremden Mann hier in einem dunklen, verlassenen Wald wegkommen konnte. Sie entschied sich, ihm gar nichts zu erwidern und sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, vielleicht würde er sie dann schnell in Ruhe lassen. Allerdings war das Gegenteil der Fall.
„Sag mal, kenne ich dich nicht irgendwo her? Dein Gesicht kommt mir bekannt vor?“, fragte er. Er war stehen geblieben und musterte die junge Frau sehr genau. So sehr er sich bemühte, er konnte seinem Gedächtnis keine Informationen entlocken. Auch ihre Reaktion konnte er nicht einordnen. Nicht nur, dass sie stumm blieb, sie schien auch vor ihm zurückzuweichen. Ihre Augen verrieten eine Angst, die er sich nicht erklären konnte, er hatte ja noch nichts getan.
Raffaela versuchte, gefasst zu bleiben, um ihre Angst nicht zu verraten, denn dann hätte sie verloren.
„Nein, ich denke nicht, dass wir uns kennen“, meinte sie mit bemüht gefasster Stimme und machte noch ein paar Schritte zurück. Je mehr Meter zwischen ihnen lagen, desto sicherer fühlte sie sich.
Irritiert hob er die Augenbrauen und legte den Kopf schief. Das Mädchen wurde ihm immer suspekter. Als sie sich dann schließlich umdrehte und in einem beachtlichen Tempo davonjoggte musste er unweigerlich an eine Flucht denken und fragte sich, wovor.
Raffaela hingegen wurde immer entspannter, je näher sie dem Hotel wieder kam. Sie war froh, der Situation ohne einen Übergriff entkommen zu sein, aber ihr Herz klopfte immer noch wie wild. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und die Hände an ihrer Hose ab, dann ging sie in ihr Zimmer.
Shenia lag auf ihrem Bett und las, sie schaute kurz auf, als Raffaela die Tür öffnete.
„Na, warst du laufen? Ist die Strecke gut zu machen? Ich wollte später vielleicht auch noch.“
„Die Strecke an sich ist eigentlich schön zu laufen, aber da sind auch andere Leute… ich meine, Männer.“
Raffaela zuckte unangenehm zusammen bei der Erinnerung und ging zum zimmereigenen Bad, sie wollte duschen.
Shenia aber lachte nur leise. „Raffa, du hast eine Panik vor Männern, die kann ich mir wirklich nicht erklären. Aber gut, ich passe auf. Vielleicht sollte ich mich umziehen, ich will auch nicht joggen, wenn es dunkel ist. Ich geh mal rüber fragen, ob noch Mädels mit wollen.“
Sie erhob sich vom Bett, legte das Buch ab und verabschiedete sich mit einem kurzen Kopfnicken von Raffaela, dann war sie aus dem Zimmer verschwunden.
Raffaela tat die Dusche gut. Die negativen Gedanken ließen allmählich nach, als würden sie mit dem Wasser fortgeschwemmt. Ihr war es egal ob ihre Angst vor Männern auf andere irrational wirkte. Sie war nunmal so und alle akzeptierten sie, auch die, die nachfragten. Bisher hatte sie damit gut gelebt und schließlich gab es einen jungen Mann, mit dem sie redete. Der akzeptierte sie auch so, wie sie war und sie war ihm sehr dankbar dafür.
Damit sie nicht noch mehr in Gedanken versinken konnte, beeilte sie sich mit dem Duschen, rubbelte sich schnell ab und schlüpfte in ihren Lieblingsschlafanzug. Das war das erste Kleidungsstück, das sie sich selbst gekauft hatte und darauf war sie besonders stolz.
Gewohnheitsmäßig warf sie einen Blick auf ihr Handy und entdeckte einen Anruf ihres Vaters. Er hatte sicher wissen wollen, was sie gemacht hatte. Schnell rief sie ihn zurück und erstattete kurz Bericht. Die Begegnung mit dem jungen Mann verschwieg sie aber.
Schließlich war ihr Vater zufrieden und sie konnte sich auf den Abend konzentrieren.
Kurz überlegte sie, ob sie lernen sollte, aber sie entschied sich dagegen. Es war schon ein wenig spät, das Abendessen würde bald stattfinden. Außerdem war sie immer noch aufgewühlt von der Begegnung. Der Gedanke daran trieb sie wieder durch das Zimmer. Ihre Gedanken drehten sich um die Begegnung, dann aber dachte sie daran, dass sie so aufgewühlt beim Essen jeder ansprechen würde. Weil sie darauf absolut keine Lust hatte, kramte sie in ihrem Koffer nach Beruhigungsmitteln.
Das war einer der Momente, in denen sie froh war, einfach Medikamente schlucken zu können.
Die Wirkung setzte schnell ein, der Puls verlangsamte sich allmählich und ihre Gedanken hörten auf, um die Begegnung zu kreisen.
Gerade rechtzeitig, denn Shenia steckte den Kopf herein.
„Du, ich war gar nicht mehr joggen wir essen gleich. Kommst du?“.
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht nickte Raffaela.
„Ich komme, ich bin gerade fertig geworden.“